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Pflichti II: Beiordnungsgründe, oder: Dauer der Haft, mittelbare Nachteile, Höhe der (Gesamt)Strafe

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Das zweite Posting mit Pflichtverteidigungsentscheidungen ist den Beiordnungsgründen und allem, was damit zu tun hat, gewidmet. Auch hier stelle ich wegen der doch recht zahlreichen Entscheidungen nur die Leitsätze vor. Und zwar:

Bei der Prüfung der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen kommt es entscheidend auf die Bedeutung des Verfahrens für den Beschuldigten an, wobei neben der Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe auch Maßregeln der Besserung und Sicherung, Nebenfolgen oder mittelbare Nachteile in die Entscheidung einzubeziehen sind. Von Bedeutung ist daher, welche Folgen eine Verurteilung wegen des dem Beschuldigten vorgeworfenen Delikts hat (für den Ausschlussgrund im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 lit c) GmbHG).

Bei dem Wegfall der Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO ist zu prüfen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist, nämlich wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Eine zu erwartende Freiheitsstrafe von einem Jahr sollte in der Regel Anlass für eine Beiordnung eines Verteidigers geben.

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 1 StPO und zur Bewertung des Tatverdachts durch das Beschwerdegericht.

Die Notwendigkeit der Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist unabhängig von der Dauer der Haft.

§ 141 Abs. 2 Satz 3 StPO ist ausdrücklich nur auf die Fälle des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 StPO anzuwenden. Eine entsprechende Anwendung der Vorschrift auf andere Fälle scheidet aus.

Pflichti II: Beiordnungsgründe, oder: Unfähigkeit zur Selbstverteidigung, schwere Rechtsfolge, Beweislage

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Im zweiten „Pflichtverteidigerposting“ dann Beiordnungsgründe, und zwar:

Sowohl der Umstand, dass eine (ausländische) Beschuldigte Analphabetin ist, unter Betreuung steht und bei einem Unterlassungsdelikt (hier: § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, passloser Aufenthalt) wegen psychischer Erkrankung §§ 20, 21 StGB in Betracht kommen erfordern jeweils selbständig eine Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit zur Selbstverteidigung. Jedenfalls begründet aber ansonsten die erforderliche Gesamtschau der angeführten Umstände die Bestellung.

Bei Einholung eines Sachverständigengutachtens ist nicht in jedem Fall die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich. Indes kann eine schwierige Sachlage vorliegen, wenn ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel gegen einen Angeklagten ist.

Zur (verneinten) schwierigen Beweislage.

Hätte man m.E. übrigens auch gut anders entscheiden können. Ausschreitungen bei einem Fußballspiel und dann keine schwierige Beweislage?

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge lässt die Mitwirkung eines Verteidigers nicht geboten erscheinen bei nur einem vergleichsweise geringfügiges Delikt, bei dem auch im Fall der Bildung einer Gesamtstrafe lediglich eine geringfügige, für den Beschuldigten nicht wesentlich ins Gewicht fallende Erhöhung der bereits rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe zu erwarten gewesen wäre.

 

 

Pflichti III: Beiordnungsgrunde „Schwere der Tat“, oder: Gesamtstrafenfall

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Und zum Schluss dann noch ein Beschluss zu den Beiordnungsgründen des § 140 Abs. 2 StPO, und zwar „Schwere der Tat“ in Zusammenhnag mit der Gesamtstrafenfähigkeit. Dem Verfahren lag zwar auch eine „Rückwirkungsproblematik“ zugrunde. Die wird im LG Hannover, Beschl. v. v. 16.06.2021 – 63 Qs 23/21 – elegant „umschifft“. Das LG lässt die Frage offen und lehnt die Bestellung (schon) aus sachlichen Gründen ab:

„Ob eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ausnahmsweise erfolgen kann, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde, kann vorliegend indes dahinstehen, da bereits kein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 StPO gegeben war. Insoweit kam allenfalls eine Beiordnung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge nach § 140 Abs. 2 StPO in Betracht, da ausweislich der Ausführungen des Verteidigers gegen den Beschwerdeführer ein weiteres Strafverfahren anhängig ist und zwischenzeitlich wegen eines Verbrechensvorwurfs Anklage zum Schöffengericht erhoben wurde. Gleichwohl lagen bereits zu dem Zeitpunkt, als der Beiordnungsantrag gestellt wurde, die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge nicht vor.

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens war der Verdacht des versuchten unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln durch das Bestellen von Hanfblütentee mit einem THC-Gehalt von weniger als 0,2 Gramm. Der Strafrahmen des § 29 Abs. 1 BtMG sieht Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor. Zusätzlich lag der fakultative Strafmilderungsgrund des § 23 Abs. 2 StGB vor. Zwar ist der Beschwerdeführer bislang vielfach und vor allem auch einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten und hat bereits Jugendstrafe verbüßt. Bisher erfolgte allerdings „lediglich“ eine Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht wegen eines am 11.04.2019 erfolgten unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 10,00 Euro. Daher ist insgesamt davon auszugehen, dass im vorliegenden Verfahren eine relativ geringe Straferwartung gegeben war, so dass allein aus diesem Grund kein Anlass für eine Beiordnung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge bestand.

Auch der Umstand, dass aus der Strafe, die im vorliegenden Verfahren in Betracht gekommen wäre, und der Strafe, die in dem anhängigen Verfahren im Falle einer Verurteilung zu erwarten ist. eine Gesamtstrafe zu bilden gewesen wäre, rechtfertigt keine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 2 StPO.

Zwar ist insoweit zu berücksichtigen, dass eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin geben sollte, wobei diese Grenze auch gilt, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafen-bildung erreicht wird (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage 2021, § 140 Rdnr. 23a). Zu beachten ist insoweit aber auch, dass es sich hierbei um keine starren Grenzen handelt. Ein Delikt mit geringfügiger Straferwartung begründet nicht allein deshalb einen Anwendungsfall des § 140 Abs. 2 StPO, weil die Strafe später voraussichtlich in eine Gesamtstrafe von mehr als 1 Jahr einzubeziehen sein wird (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.). Es bedarf vielmehr der Prüfung im Einzelfall, ob andere Verfahren und die Erwartung späterer Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen. dass die Mitwirkung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin geboten ist (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 02.03.2012 — 2 Ws 37/12 —, Rdnr. 7 bei juris). Dies war zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht der Fall. Selbst wenn es in dem vorliegenden und dem nunmehr zur Anklage gebrachten Verfahren zu einer Verurteilung und Gesamtstrafenbildung gekommen wäre, hätte die in diesem Verfahren zu erwartende Strafe die in dem weiteren Verfahren zu erwartende Strafe nur geringfügig erhöht. Im Vorverfahren bestand daher noch keine Veranlassung einer Beiordnung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge.“

Pflichti II: Beiordnungsgründe, oder: Noch einmal Gesamtstrafe und „Nebenstrafrecht“

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Im zweiten Posting stelle ich dann zwei Beschlüsse des LG Magdeburg vor, bei befassen sich mit den Beiordnungsgrunden, und zwar:

Im LG Magdeburg, Beschl. v. 21.04.2021 – 21 Qs 10/21– nimmt das LG noch einmal zur Beiordnung in den Gesamtstrafenfällen Stellung. Der Beschluss bringt nichts wesentlich Neues. Interessant aber, dass und wie das LG noch „offene Verfahren“ in seine Bewertung einbezieht.

In der zweiten Entscheidung, dem LG Magdeburg, Beschl. v. 04.05.2021 – 21 Qs 14/21 – hat das LG noch einmal zur Schwierigkeit der Rechtslage Stellung genommen und meint:

Es liegt eine schwierige Rechtslage gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor, wenn es maßgeblich auf die Auslegung von Begriffen aus dem Nebenstrafrecht und dabei insbesondere auch auf die – stellenweise auch für erfahrene Rechtsanwender – unübersichtlichen Normen und Anlagen des SprengG, vor allem aber des WaffG, ankommt.

Die Entscheidung hat auch eine „schöne“ Frist-/Zustellungsproblematik und beweist einmal mehr, warum man als Verteidiger eben keine schriftliche Vollmacht vorlegt. Muss man ja auch nicht 🙂 .

Pflichti III: Mehrere „gesamtstrafenfähige Verfahren“, oder: Mehr als ein Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten?

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Und dann zum Schluss des Tages noch der LG Erfurt, Beschl. v. 27.04.2021 – 7 Qs 89/21. Thema: Noch einmal Beiordung in einem Gesamtstrafenfall:

„Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Zutreffend hat der Beschwerdeführer eingewandt, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen. Demnach liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung dann vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Dabei beurteilt sich die Schwere der Tat vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolge. Eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe ist in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers (Meyer – Goßner/ Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 140 Abs. 2 StPO ).

Das im vorliegenden Verfahren gegenständliche Delikt des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, rechtfertigt vor dem Hintergrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge keine Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Allerdings darf das vorliegende Verfahrens nicht isoliert betrachtet werden. Die Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie „nur“ wegen einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung erreicht wird (OLG Naumburg, Beschluss vom 22.05.2013, Az.: 2 Ss 65/13; OLG Halle, Beschluss vom 23.11.2018, Az.: 10a Qs 132/18; LG Magdeburg, Beschluss vom 30.04.2020, Az.: 25 Qs 802 Js 70719/20; alle veröffentlicht in juris ).

Gegen den Beschwerdeführer sind mehrere Verfahren anhängig, darunter zwei vor großen Straf-kammern der Landgerichte und eines vor dem Schöffengericht (s. unter I. ). In dem vor der großen Strafkammer des Landgerichts Erfurt anhängigen Verfahrens (a.a.O.) wird dem Beschwerdeführer und seinen 6 Mitangeklagten u.a. schwerer Bandendiebstahl in 4 Fällen zur Last gelegt. Allein für den schweren Bandendiebstahl sieht das Gesetz eine Mindestfreiheitsstrafe von 1 Jahr vor, § 244 a Abs. 1 StGB. Der mutmaßliche Tatzeitraum erstreckt sich von September bis Oktober 2019. Ein Hauptverhandlungstermin wurde noch nicht bestimmt. In sämtlichen Parallelverfahren wurde Rechtsanwältin Pp. dem Beschwerdeführer als Pflichtverteidigerin beigeordnet. Es besteht demnach die Erwartung, dass die dem Beschwerdeführer in den Parallelverfahren drohende Strafe mit der in dem vorliegenden Verfahren drohenden Strafe gesamtstrafenfähig ist und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche ein Jahr Freiheitsstrafe übersteigt. Dabei kommt es nicht darauf an, dass im vorliegenden Verfahren derzeit keine Gesamtstrafenbildung mit den Strafen aus den Parallelverfahren ansteht, ausreichend ist, wenn diese Möglichkeit nachträglich in Betracht kommt ( OLG Halle, Beschluss vom 23.11.2018 a.a.O.). Es war somit in jedem Verfahren eine Pflichtverteidigerin zu bestellen, anderenfalls hinge es von der bloßen Zufälligkeit ab, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht, ob einem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen ist oder nicht ( LG Magdeburg, Beschluss vom 30.04.2020 a.a.O.).“