Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

Pflichti III: Keine „Umbeiordnung“ des „Pflichti“, oder: Schwierige Sachlage und Schwere der Tat

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Und in diesem dritten Posting habe ich dann noch drei Entscheidungen „aus der Instanz“. Von denen stelle ich aber nur die Leitsätze vor. Es handelt sich um folgende Entscheidungen:

Das OLG Schleswig hat im OLG Schleswig, Beschl. v. 09.09.2025 – 1 Ws 133/25 – zu den Voraussetzungen einer „Umbeiordnung“ eines Pflichtverteidigers und zu den Folgen der Beauftragung eines Wahlverteidigers erst nach Eröffnung des Hauptverfahrens Stellung genommen und meint:

1. Der Wechsel eines notwendigen Verteidigers – unbeschadet der Tatsache, ob dieser für die Staatskasse „kostenneutral“ wäre – steht nicht zur Disposition der beteiligten Rechtsanwälte und unterliegt deshalb auch nicht ihrer Absprache in Form eines einverständlichen Verteidigerwechsels.

2. Der beigeordnete Verteidiger hat einen staatlichen Auftrag, den er zu erfüllen hat, solange sich nicht in der Sache Gründe ergeben, die eine Aufhebung der Beiordnung erfordern.

3. Ist der erst nach Terminsbestimmung gewählte Verteidiger an den bestimmten Terminen verhindert, steht seiner Beiordnung ein wichtiger Grund im Sinne von § 142 Abs. 5 Satz 3 StPO entgegen.

4. Es liegt grundsätzlich in der Risikosphäre des Angeklagten, dass ein erst spät beauftragter Verteidiger das Mandat zeitlich nicht ausüben kann.

Als zweite Entscheidung dann den LG Hildesheim, Beschl. v. 02.10.2025 – 15 Qs 14/25 – zum Bestellungsgrund „schwierige Sachlage“ (§ 140 Abs. 2 StPO):

Eine schwierige Sachlage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist dann anzunehmen, wenn – zum Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Antrag auf Bestellung eines notwendigen Verteidigers entscheiden muss – ein Sachverständigengutachten bereits Verfahrensbestandteil ist oder ein solches angeordnet wird und zu erwarten ist, dass dieses Gutachten für den Ausgang des Verfahrens als Beweismittel eine entscheidende Rolle spielt (für ein gerichtlich beauftragtes Unfallrekonstruktionsgutachten eines Sachverständigen, dem mangels anderer unmittelbarer Beweismittel verfahrensentscheidende Bedeutung zukommt.

Und als dritte Entscheidung der LG Schweinfurt, Beschl. v. 07.10.2025 – 4 Qs 96/25 – zu Bestellung wegen Schwere der Tat (§ 140 Abs. 2 StPO), wenn die Eltern Beschuldigte einer fahrlässigen Tötung zum Nachteil eines leiblichen Kindes sind:

1. Im Einzelfall kann die Schwere des Tatvorwurfs bereits für sich, also unabhängig von der zu erwartenden Rechtsfolge, die notwendige Verteidigung begründen. Davon ist auszugehen, wenn dem Beschuldigten der Vorwurf der fahrlässigen Tötung zum Nachteil seiner beiden Kinder zur Last gelegt wird.

2. Für eine Pflichtverteidigerbestellung ausreichende Zweifel an der Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten liegen vor, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschuldigte aufgrund der mit dem ihm zur Last gelegten Tod von zwei Kindern verbundenen, emotionalen Ausnahmesituation nicht in der Lage ist, sich neben der Bewältigung der zumindest moralischen Verantwortung für den Tod seiner Kinder und den damit zweifellos verbundenen Verlust- und Schuldgefühlen auch mit dem strafrechtlichen Tatvorwurf umfassend und sachgerecht auseinanderzusetzen.

Pflichti II: Dauer der Pflichtverteidigerbestellung, oder: Aussetzung der HV macht kein neues Verfahren

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Die zweite „Pflichti-Entscheidung kommt dann mit dem BGH, Beschl. v. 02.10.2025 – StB 49/25 – auch „von ganz oben.

Ergangen ist der Beschluss in einem beim OLG München anhängigen Verfahren. In dem sind am 30.09.2024 dem Angeklagten der vormalige Wahlverteidiger Rechtsanwalt H. und die von ihm benannte Rechtsanwältin S. als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens hat das OLG am 16.01.2025 erstmals mit der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten und Mitangeklagte begonnen. Am 17.04.2025 hat es aufgrund Reise- und Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten das Verfahren gegen ihn abgetrennt und die Hauptverhandlung ausgesetzt. Mit Verfügung vom 05.08.2025 hat der Senatsvorsitzende neuen Termin zur Hauptverhandlung auf den 06.10.2025 und 35 Fortsetzungstermine bis zum 30.01.2026 bestimmt.

Mit Schriftsatz vom 12.08.2025 hat Rechtsanwältin R. die Verteidigung und Vertretung des Angeklagten angezeigt. Mit ihrem Schriftsatz vom 18.08.2025 hat der Angeklagte den Antrag gestellt, die Bestellung von Rechtsanwältin S. aufzuheben und Rechtsanwältin R. selbst als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Rechtsanwältin S. hat mit Schriftsatz vom 22.08.2025 mitgeteilt, sie habe zu keinem Zeitpunkt ein Einverständnis zu ihrer Entpflichtung erteilt.

Mit Beschluss vom 29.08.2025 hat das OLG den Antrag des Angeklagten abgelehnt. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Angeklagten. Diese hatte keinen Erfolg:

„Die gemäß § 143a Abs. 4, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1, § 32a Abs. 3 Satz 2, § 311 Abs. 1 und 2 StPO) sofortige Beschwerde ist unbegründet. Der zur Entscheidung berufene Vorsitzende des mit der Sache befassten Strafsenats des Oberlandesgerichts (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO) hat den Antrag auf Aufhebung der Beiordnung von Rechtsanwältin S. unter gleichzeitiger Bestellung von Rechtsanwältin R. als Pflichtverteidigerin beanstandungsfrei abgelehnt.

1. Die Bestellung der Rechtsanwälte H. und S. ist – entgegen dem Beschwerdevorbringen – nicht mit der Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten oder der Aussetzung der Hauptverhandlung gegen ihn beendet.

Nach § 143 Abs. 1 StPO endet die Bestellung eines Pflichtverteidigers mit der Einstellung oder dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens. Da das Verfahren hier nicht abgeschlossen und insbesondere nicht durch Abtrennung oder Aussetzung beendet ist, wirkt die Bestellung der Pflichtverteidiger fort:

Die Staatsanwaltschaft kann einzelne Strafsachen gegen verschiedene Beschuldigte zu einem einheitlichen Ermittlungsverfahren verbinden und gemeinsam anklagen, wenn zwischen den Sachen ein Zusammenhang besteht (§ 3 StPO), etwa die Vorwürfe auf einem einheitlichen Lebenssachverhalt beruhen (s. Meyer-Goßner, NStZ 2004, 353, 355, 358; LR/Claus/Erb/Nicknig, StPO, 28. Aufl., § 2 Rn. 5). Werden sie nach Eröffnung des Hauptverfahrens und Zulassung der Anklage getrennt (vgl. § 4 Abs. 1 StPO als Regelung im Zusammenhang mit der sachlichen Zuständigkeit), indem das Verfahren gegen einen Angeklagten aus dem Verbund abgetrennt wird, handelt es sich weiterhin um die nämliche gegen diesen Angeklagten – nunmehr prozessual selbständig – betriebene Sache (vgl. Rotsch/Sahan, JA 2005, 801, 804; HK-GS/Bosbach, StPO, 5. Aufl., § 4 Rn. 9; KK-StPO/Geilhorn, 9. Aufl., § 4 Rn. 13; LR/Claus/Erb/Nicknig aaO, § 4 Rn. 30; Schmitt/Köhler/Schmitt, StPO, 68. Aufl., § 4 Rn. 11; SK-StPO/Weßlau/Weißer, 5. Aufl., § 2 Rn. 1, 19, § 4 Rn. 10), somit im Hinblick auf ihn um die Fortsetzung des vorausgegangenen Verfahrens. Mit der Aussetzung der Hauptverhandlung (nicht des Verfahrens) nach § 228 Abs. 1 Satz 1 StPO wird der Prozess in den Stand zurückversetzt, den er nach Zulassung der Anklage hatte, so dass die Hauptverhandlung neu beginnen muss (vgl. MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 228 Rn. 3, § 229 Rn. 36); die Aussetzung der Hauptverhandlung bewirkt hingegen kein neues Verfahren.

Der Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt H. ist mithin gegenstandslos, weil dieser aus den dargelegten Gründen weiterhin Pflichtverteidiger des Angeklagten ist. Der Antrag kann mit der Beschwerde nicht erfolgreich weiterverfolgt werden.

2. Die Voraussetzungen eines Pflichtverteidigerwechsels nach § 143a Abs. 2 Satz 1 StPO sind nicht erfüllt.

a) Anhaltspunkte dafür, dass Rechtsanwältin S. aus in ihrer Person liegenden Gründen daran gehindert sein könnte, die Verteidigung ordnungsgemäß zu führen (§ 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alternative 2 StPO), liegen nicht vor.

b) Für eine schwerwiegende und endgültige Erschütterung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Angeklagten und seiner gegenwärtigen Pflichtverteidigerin, die gemäß § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alternative 1 StPO einen Pflichtverteidigerwechsel gebieten könnte (vgl. insofern BGH, Beschluss vom 12. März 2024 − StB 16/24, NStZ-RR 2024, 155, 156 mwN), ist nichts ersichtlich. Solches ist von dem Beschwerdeführer auch nicht vorgetragen worden. Sein pauschales Vorbringen, es handele sich bei den Rechtsanwälten H. und R. um die Verteidiger seines Vertrauens und er wünsche eine Verteidigung durch Rechtsanwältin S. nicht (mehr), genügt insofern nicht.

3. Ein konsensualer Pflichtverteidigerwechsel (vgl. BGH, Beschluss vom 10. August 2023 − StB 49/23, NStZ 2024, 310 Rn. 4 ff.) scheidet schon deshalb aus, weil es an einer diesbezüglichen Einverständniserklärung von Rechtsanwältin S. fehlt.“

Pflichti I: BGH lässt „rückwirkende Bestellung“ offen, oder: Erforderlichkeit eines weiteren Verteidigers?

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Und dann ist es mal wieder so weit: Heute ist „Pflichti-Tag“. Ich habe ein paar Entscheidungen „gesammelt“, aber so ganz viel ist es dieses Mal nicht.

Ich stelle in diesem Posting zunächst eine Entscheidung des BGH vor.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 17.09.2025 – StB 46/25 – zur Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers (§ 144 StPO). Ergangen ist der Beschluss in einem beim OLG Frankfurt am Main anhängigen Staatsschutzverfahren.

In dem ist dem inhaftierten Angeklagten im Dezember 2022 Rechtsanwalt S. und im Januar 2023 Rechtsanwalt H. als Pflichtverteidiger bestellt worden. Mit Beschluss des OLG vom 10.06.2024 ist die Beiordnung von Rechtsanwalt H. aufgehoben und Rechtsanwalt K. als neuer Pflichtverteidiger beigeordnet worden; Rechtsanwalt H. ist weiterhin als Wahlverteidiger mandatiert.

Am 17.07.2025 hat Rechtsanwalt K. mitgeteilt, er werde am Hauptverhandlungstermin vom 05.082025 nicht erscheinen. Er hat beantragt, Rechtsanwalt H. für diesen Termin als Pflichtverteidiger zu bestellen.

Die Hauptverhandlung ist am 05.08.2025 fortgesetzt worden. Der Angeklagte war an diesem Tag durch seinen Pflichtverteidiger Rechtsanwalt S. und seinen Wahlverteidiger H. verteidigt. Letztgenannter hat beantragt, ihn für den Hauptverhandlungstag als Pflichtverteidiger zu bestellen. Diesen Antrag hat der Vorsitzende des Senats mit in der Hauptverhandlung verkündetem Beschluss vom 05.08.2025 abgelehnt. In der anschließend fortgesetzten Hauptverhandlung waren die Rechtsanwälte S. und H. durchgängig anwesend.

Dagegen die sofortige Beschwerde, die keinen Erfolg hatte:

„Die gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1, 311 StPO statthafte, fristgerechte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Dabei kann dahinstehen, ob mit Blick auf die „PKH-Richtlinie“ (Richtlinie [EU] 2016/1919) eine rückwirkende Bestellung möglich ist (offen gelassen von BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 ? StB 26/22, NStZ-RR 2022, 357, 358; bejahend OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 ? Ws 962/20 u.a., StraFo 2021, 71, 72; aA Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 9. März 2020 ? 1 Ws 19/20 u.a., NStZ 2020, 625 Rn. 7 mwN; ebenso für die Zeit vor Geltung der EU-Richtlinie BGH, Beschluss vom 20. Juli 2009 ? 1 StR 344/08, NStZ-RR 2009, 348; KG, Beschluss vom 8. März 2013 ? 2 Ws 86/13 u.a., juris Rn. 5; OLG Stuttgart, Beschluss vom 25. Februar 2015 ? 1 ARs 1/15, juris Rn. 8 mwN). Denn der Vorsitzende des mit der Sache befassten Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts hat die Bestellung von Rechtsanwalt H. als zusätzlichen Pflichtverteidiger zu Recht abgelehnt.

In einem solchen Fall prüft das Beschwerdegericht, ob der Vorsitzende des Erstgerichts die Grenzen seines Beurteilungsspielraums zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO eingehalten und sein Entscheidungsermessen („können“) fehlerfrei ausgeübt hat (BGH, Beschluss vom 27. März 2024 – StB 19/24, NStZ-RR 2024, 178, 179 mwN).

Daran gemessen ist die Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht zu beanstanden. Dieses ist unter Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen davon ausgegangen, dass zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Hinzuziehung eines weiteren Verteidigers am Hauptverhandlungstag nicht erforderlich sei. Dabei hat es im Rahmen der vorgenommenen Abwägung in den Blick genommen, dass der Angeklagte an diesem Tag durch den Pflichtverteidiger Rechtsanwalt S.  und seinen Wahlverteidiger Rechtsanwalt H. vertreten war. Nachvollziehbar hat der Vorsitzende vor diesem Hintergrund die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers abgelehnt. Ferner begründen die Umstände, dass Rechtsanwalt H. bereits an zwei Hauptverhandlungstagen im Jahr 2024 beigeordnet und in vergleichbaren Fällen in entsprechender Weise bei Mitangeklagten verfahren worden ist, weder aus Gründen des Vertrauensschutzes noch der Gleichbehandlung seine Bestellung. Auch insoweit hat der Vorsitzende weder die Grenzen seines Beurteilungsspielraums überschritten noch sein Entscheidungsermessen fehlerhaft ausgeübt.

Im Übrigen sind die Rechte des Angeklagten auf eine effektive Verteidigung (s. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK) und ein faires Verfahren (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) durch die Bestellung der Pflichtverteidiger S. und K. hinreichend gewahrt.“

 

StPO I: Disziplinarverfahren gegen Polizeibeamten, oder: Akteneinsichtsrecht des Ermittlungsführers?

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Und dann gibt es heute StPO-Entscheidungen.

Den Opener mache ich mit dem BGH, Beschl. v. 30.07.2025 – 5 ARs 10/24. In dem geht es um die Frage einer Akteneinsicht nach § 474 StPO.

Gegenstand der Entscheidung des BGH ist eine Rechtsbeschwerde eines Betroffenen gegen einen OLG-Entscheidung betreffend eine Verfügung der Staatsanwaltschaft, mit welcher diese dem Ermittlungsführer einer der Hochschule für Polizei Akteneinsicht in eine den Beschwerdeführer betreffende Ermittlungsakte bewilligt hat.

Der beschwerdeführer Betroffene ist Polizeibeamter im Landesdienst und als Ausbilder an der Hochschule für Polizei tätig. Die Staatsanwaltschaft führte gegen ihn wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Kindern ohne Körperkontakt mit dem Kind ein Ermittlungsverfahren. Am 03.01.2024 stellte sie dieses gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein und gab die Sache zur Verfolgung einer möglichen Ordnungswidrigkeit an die Verwaltungsbehörde ab (§ 43 Abs. 1 OWiG). Entsprechend Nr. 15 MiStRA teilte sie ihre Einstellungsverfügung der Hochschule für Polizei mit. Im Rahmen eines bereits seit September 2023 vom Land B. gegen den Beschwerdeführer wegen desselben Vorwurfs geführten beamtenrechtlichen Disziplinarverfahrens beantragte der hiermit betraute Ermittlungsführer der Hochschule  Einsicht in die Ermittlungsakten. Die Staatsanwaltschaft gewährte diese auf Grundlage der § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 StPO iVm § 13 Abs. 2, § 14 Abs. 1 Nr. 4 EGGVG.

Hiergegen hat der Beschwerdeführer beim OLG gerichtliche Entscheidung beantragt (§ 23 EGGVG). Das OLG hat den Antrag als unbegründet verworfen. Es hat dabei das Akteneinsichtsrecht des Ermittlungsführers auf § 474 Abs. 1 StPO gestützt. Zugleich hat es die Rechtsbeschwerde zur Klärung der Rechtsfrage zugelassen, ob im Rahmen eines gegen einen Beamten geführten Disziplinarverfahrens „der Ermittlungsführer bzw. der Dienstherr“ als andere Justizbehörde im Sinne des § 474 Abs. 1 StPO anzusehen sei. Der Beschwerdeführer hat Rechtsbeschwerde eingelegt, deren Zurückweisung der Generalbundesanwalt beantragt.

Der BGH hat die Sach an das OLG zurückverwiesen. Der Beschluss des BGh enthält umfangreiche Ausführungen zum Begriff der „Justizbehörde“ i.S. des § 474 Abs. 1 StPO. Ich verweise auf den Volltext. Hier gibt es nur den Leitsatz, nämlich:

Weder der Dienstherr des Beamten, der ein beamtenrechtliches Disziplinarverfahren führt, noch ein von ihm eingesetzter Ermittlungsführer ist eine andere Justizbehörde im Sinne des § 474 Abs. 1 StPO.

Die Zurückverweisung hat das BGh wie folgt begründet:

„2. Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben. Eine Sachentscheidung des Senats kommt mangels Entscheidungsreife der Sache nicht in Betracht (vgl. § § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Das Oberlandesgericht hat bislang (folgerichtig) nicht geprüft, ob die Voraussetzungen für eine Auskunft oder Akteneinsicht nach § 474 Abs. 2, Abs. 3 StPO vorliegen. Insoweit hat der Beschwerdeführer zutreffend gerügt, es sei bisher nicht dargelegt worden, dass die Voraussetzungen des § 474 Abs. 3 StPO vorlägen.

Im Übrigen ist es nicht Aufgabe des Senats, im besonderen Rechtsbeschwerdeverfahren nach § 29 EGGVG erstmals eine Verhältnismäßigkeitsabwägung beispielsweise hinsichtlich § 14 Abs. 2 EGGVG vorzunehmen. Selbst bei gegebener Entscheidungsreife muss das Rechtsbeschwerdegericht nicht stets, sondern nach dem Willen des Gesetzgebers aus Gründen der Verfahrensökonomie nur „regelmäßig“ in der Sache selbst entscheiden (vgl. Sternal/Göbel, FamFG, 21. Aufl., § 74 Rn. 84; BT-Drucks. 16/6308, S. 211).“

 

 

StPO III: Beschlagnahme von Patientenakten??, oder: Beschlagnahme im Verfahren gegen Unbekannt

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Und dann habe ich als dritte Entscheidung noch etwas „aus der Instanz“, und zwar den LG Hannover, Beschl. v. 14.10.2025 – 46 Qs 56/25 u.a.  Der behandelt eine Durchsuchungsproblematik.

Dem Beschluss liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Staatsanwaltschaft Hannover führt ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Totschlags. Anlass zu den Ermittlungen gab der Fund eines männlichen Leichnams am 24.08.2025 in einem Gebüsch im Bereich des Silbersees bei Langenhagen. Der später identifizierte Geschädigte, der durch einen Passanten entdeckt wurde, wies mehrere Schnitt- und Stichverletzungen an Rücken und Hals auf. Ca. 50 Meter vom Auffindungsort entfernt fanden die Ermittlungsbeamten persönliche Gegenstände des Verstorbenen sowie blutsuspekte Anhaftungen, welche sich auch auf dem angrenzenden Fußgängerweg befanden. Weiterhin stellten sie schleifspurartige Veränderungen im Schotter des Gehweges und flachgedrücktes Gras auf der zum Weg angrenzenden Wiese fest. Die Staatsanwaltschaft geht aufgrund der Verletzungen von einem Tötungsdelikt aus.

Nachdem bislang kein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte, richtet sich das Verfahren weiterhin gegen Unbekannt. Vor diesem Hintergrund regten die Ermittlungsbeamten gegenüber der Staatsanwaltschaft Hannover die Beantragung einer richterlichen Anordnung an, wonach nahegelegene Krankenhäuser zur Herausgabe von Auskünften über in zeitlichen Zusammenhang mit der Tat behandelte Patienten mit Schnittverletzungen verpflichtet werden sollten. Hierbei stützte sich die Polizei auf kriminalpolizeiliche Erfahrungswerte, wonach sich Täter bei einem sich wehrenden Opfer häufiger selbst mit dem Messer verletzen und es dadurch zu blutenden Wunden komme. Es sei daher denkbar, dass der Täter nach der Tat ein Krankenhaus bzw. einen ärztlichen Notdienst aufgesucht habe und dort behandelt worden sei.

Die Staatsanwaltschaft Hannover stellte dann den Antrag auf Anordnung der Beschlagnahme von „vorhandenen Unterlagen“ bei insgesamt 16 Krankenhäusern zu „Patienten, die im Zeitraum vom 23.08.2025, 22.00 Uhr bis zum 26.08.2025, 22.00 Uhr wegen Schnittverletzungen behandelt wurden“. Das AG hat den entsprechenden Beschluss erlassen.

Dagegen die Beschwerde, mit der u.a. geltend gemacht wird, es werde gegen das Beschlagnahmeverbot aus § 97 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO verstoßen. Zudem sei die Beschlagnahme sämtlicher Akten betreffend Patienten mit Schnittverletzungen im fraglichen Zeitraum unverhältnismäßig, die hierdurch entgrenzte Erstreckung der Maßnahme auf evident nicht ermittlungsrelevante Personen und Sachverhalte sei verfassungsrechtsrechtlich nicht gerechtfertigt.

Das LG hat den Beschluss des AG aufgehoben. Nach Auffassung des LG ist das Verhältnismäßigkeitsgebot verletzt:

„b) Der durch das Amtsgericht getroffenen Anordnung steht das Beschlagnahmeverbot des § 97 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO nicht entgegen. Zwar steht den bei den Beschwerdeführern tätigen Ärztinnen und Ärzten jeweils das Zeugnisverweigerungsrecht aus § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO zu. Ferner liegt – bislang -keine rechtswirksame Schweigepflichtentbindung für sämtliche Fälle, welche unter die Anordnung fallen, vor. Die von dem Beschluss betroffenen Personen sind jedoch ohne das Hinzutreten weiterer, gewichtiger Umstände nicht als Beschuldigte zu qualifizieren. Die Vorschrift des § 97 Abs. 1 Nr. 2 StPO bezieht sich indes ausdrücklich auf das Verhältnis zwischen Arzt und einem konkreten Beschuldigten. Da es sich bei § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO um einen Auffangtatbestand gegenüber Nr. 2 handelt, um auch jene ärztlichen Unterlagen zu erfassen, die nicht als Aufzeichnungen bezeichnet werden können (insbesondere technische Untersuchungsbefunde), gilt auch dieses Verbot ausschließlich zu Gunsten des konkret Beschuldigten (OLG Celle, Beschluss vom 30.09.1964, Az. 3 Ws 362/64, NJW 1965, 362ff. m.w.N.). Eine Auslegung des § 97 StPO dahingehend, dass sämtliche Patientenakten generell der Beschlagnahme entzogen werden könnten, ist mit geltenden Recht nicht vereinbar, in Verfahren gegen Unbekannt findet § 97 StPO keine Anwendung (MüKoStPO/Hauschild, 2. Aufl. 2023, StPO § 97 Rn. 8, beck-online).

c) Jedoch ergeben sich für das Strafverfahren Beschlagnahmeverbote nicht allein aus § 97 StPO. Die Beweiserhebungs- und verwertungsverbote, zu denen auch das Beschlagnahmeverbot zählt, sind in der StPO nicht abschließend geregelt, sondern können sich aus der gesamten Rechtsordnung ergeben (OLG Celle, aaO m.w.N; Menges in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2019, § 97 StPO, Rn. 12; BeckOK StPO/Gerhold, 56. Ed. 1.7.2025, StPO § 97 Rn. 7, beck-online). Das Vertrauensverhältnis zwischen einem Arzt und jedem seiner Patienten ist in besonderem Maße der Intimsphäre des Menschen zuzurechnen, da hier stets ureigene Angelegenheiten des Patienten und seiner Lebensführung erörtert werden. Daher genießt es nicht allein den Schutz der § 300 StGB, §§ 53 und 97 StPO, sondern untersteht vor allem auch den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Diese gelten auch im Strafprozess (OLG Celle, aaO) und billigen dem Einzelnen die ausschließliche Verfügungsgewalt über die seine Intimsphäre betreffenden Angelegenheiten zu. Die Beschlagnahme von Krankenunterlagen berührt somit den grundrechtlich geschützten Anspruch des Bürgers auf Schutz seiner Privatsphäre (BVerfG, Beschluss vom 8. März 1972 – 2 BvR 28/71 -, BVerfGE 32, 373-387, Rn. 22ff.). Andererseits schränkt das Verbot einer solchen Beschlagnahme die Möglichkeiten justizförmiger Sachaufklärung ein und widerstreitet damit der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Notwendigkeit, im Interesse der Allgemeinheit eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu erhalten. Ob im Einzelfall dem Recht des Einzelnen auf Schutz seiner Privatsphäre oder der staatlichen Aufgabe der Strafverfolgung der Vorzug zu geben ist, muss jeweils aufgrund einer Verhältnismäßigkeitsprüfung festgestellt werden (BVerfG, aaO, Rn. 25).

Die unter Berücksichtigung dieser Erwägungen vorzunehmende Gesamtabwägung ergibt im hiesigen Fall, dass der durch die Maßnahme bedingte Grundrechtseingriff zum strafrechtlichen Aufklärungsziel nicht im Verhältnis steht und somit rechtswidrig ist.

Insoweit hat die Kammer die erforderliche Abwägung, in welche sie die Wertigkeit der betroffenen Grundrechte und die Intensität des Eingriffs einerseits und die Bedeutung des verteidigten Gemeinschaftsguts andererseits eingestellt hat, vorgenommen. Dabei hat sie nicht verkannt, dass im vorliegenden Fall die Aufklärung eines Kapitalverbrechens im Raum steht. Der Zweck, Straftaten aufzuklären und zu ahnden, ist zwar von überaus großer Bedeutung, ist und kann jedoch nicht stets und unter allen Umständen das überwiegende Interesse des Staates sein. Vielmehr muss sich auch dieses wichtige Allgemeininteresse in die zu berücksichtigenden Gesamtinteressen einordnen (BGH in NJW 1964, 1139 (1142)). Zu berücksichtigen ist insoweit auch die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach Ermittlungsmaßnahmen, die sich gegen Berufsgeheimnisträger richten, in besonderer Weise zu beschränken sind, da zahlreiche Personen und deren Daten betroffen sein können, die mit der zu ermittelnden Straftat nicht in Verbindung stehen und den Ermittlungseingriff durch ihr Verhalten nicht veranlasst haben. Hinzu tritt die besondere Schutzbedürftigkeit der von einem überschießenden Datenzugriff mitbetroffenen Vertrauensverhältnisse (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 21. Juli 2025 – 1 BvR 398/24 -,31). Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt im Falle der Beschlagnahme von Beweismitteln aufgrund der außerordentlich weiten Voraussetzungen des § 94 StPO besondere Bedeutung zu (LG Frankfurt, Beschluss vom 04.09.1996 – 5/29 Qs 16/96, juris); Menges in Löwe-Rosenberg, StPO, 2019, § 94 StPO). Dabei fallen die Interessen des Verletzten und anderer Unbeteiligter stärker ins Gewicht als die des Beschuldigten (Köhler in Schmitt/Köhler StPO § 94 Rn. 18).

Ausgehend von diesen Erwägungen hat die Kammer insbesondere miteinbezogen, dass sich den bisherigen Ermittlungsergebnissen kein konkreter Anhaltspunkt für die Annahme, es habe einen Kampf zwischen Opfer und Täter gegeben, bei welchem sich der Angreifer verletzt haben könnte, entnehmen lässt. Es handelt sich um eine rein spekulative Vermutung, die auf kriminalistischer Erfahrung beruhen mag, jedoch darüber hinaus keinen Beleg in den Akten findet. Es wurden – soweit ersichtlich – keine fremden, nicht dem Geschädigten zuzuordnende Blutspuren am Tatort gefunden, die für eine Verletzung des Angreifers sprechen könnten und bei einer behandlungsbedürftigen Verletzung mit gewisser Wahrscheinlichkeit sogar zu erwarten gewesen wären. Es gibt darüber hinaus keine weiteren konkreten Hinweise auf ein Kampfgeschehen zwischen dem Geschädigten und seinem Angreifer. Allein das flachgedrückte Gras und Schleifspuren im Schotter nahe des Auffindungsortes lassen hierzu keine substantiierten Rückschlüsse zu, denn diese Spuren müssen nicht durch einen Kampf verursacht worden sein. Weiterhin erscheint es der Kammer gleichermaßen plausibel, dass der Täter eine entsprechende Verletzung durch seinen Hausarzt oder gar selbst behandelt haben könnte. Letztlich ist nach dem Vortrag der Beschwerdeführerinnen nicht zu erwarten, dass sich die konkrete Ursache der Verletzung aus den Krankenakten überhaupt entnehmen lässt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der tatsächliche Angreifer oder ein an der Tat Beteiligter durch die Beschlagnahmeordnung ermittelt werden kann, erscheint vor diesem Hintergrund als gegeben, aber sehr gering. Der Grad der Vagheit, ob durch die Maßnahme Beweismittel aufgefunden werden können, ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 21. Juli 2025 – 1 BvR 398/24 -, Rn. 28, juris m.w.N.).

Dem gegenüber steht die extensive Reichweite der Maßnahme, die eine Einsicht in Patientenakten einer Vielzahl von Personen ermöglicht, ohne dass diese für die Ermittlungen von Relevanz sind. Der Problematik der fehlenden Möglichkeit einer weiteren Eingrenzung kann mangels entsprechender Anhaltspunkte nicht ausreichend begegnet werden. Hinzu tritt, dass sich die Anordnung des Amtsgerichts auf „vorhandene Unterlagen“ zu Patienten mit Schnittverletzungen bezieht, sodass die Krankenhäuser verpflichtet werden, sämtliche Dokumente herauszugeben, obwohl sich eine Vielzahl der vorliegenden Unterlagen (Patientenverfügungen, Arztbriefe, Medikationen, Einverständniserklärungen) nicht auf die fragliche Schnittverletzungen beziehen dürften.

Bei Zusammenschau des geringen Grads der Auffindewahrscheinlichkeit, der nicht überschaubaren Anzahl von Betroffenen und der besonderen Tiefe des Eingriffs überwiegt daher das Interesse an der Strafverfolgung trotz der Schwere der Tat nicht, weshalb die Anordnung aufzuheben war.“