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Durchsuchung I: Begründung des Beschlusses, oder: Kreuzchen, Klammern, Blattzahlenverweis reicht nicht

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Und dann Start in die neue Woche, die 30 KW./2024. Die beginne ich dann mit zwei Entscheidungen zu Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren, also Durchsuchung und Beschlagnahme. Die beiden Entscheidungen, die ich vorstelle, betreffen Durchsuchungsmaßnahmen.

Zunächst kommt mit dem LG Essen, Beschl. v. 05.07.2024 – 64 Qs 21/24 – etwas aus der landgerichtlichen Spruchpraxis. Der von einer Durchsuchungsmaßnahme Betroffene hat nachträglich die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme üpberprüfen lassen. Und er hatte mit seinem Antrag Erfolg:

„Die gem. § 304 StPO statthafte und in zulässiger Weise eingelegte Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

Die Beschwerde vom 12.04.2024, welche mit Schriftsatz vom 12.06.2024 begründet worden ist, ist zunächst statthaft. Trotz der durch die Vollstreckung des angefochtenen Beschlusses eingetretenen prozessualen Überholung ist diese Beschwerde angesichts des tiefgreifenden Grundrechtseingriffs, der sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt hat, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung im Beschwerdeverfahren nicht erlangen konnte, zulässig (vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, vor § 296, Rn. 18, f m.w.N.). Der Antrag zur Feststellung der Rechtswidrigkeit ist zulässig, da sein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit ebenfalls fortbesteht in Anbetracht des nichtigen Durchsuchungsbeschlusses und der erfolgten – nicht richterlich bestätigten – Beschlagnahme.

Der Beschluss des Amtsgerichts Essen vom 26.03.2024 genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen der §§ 33 ff. StPO an eine außerhalb der mündlichen Verhandlung getroffene richterliche Entscheidung. Er enthält im Entscheidungssatz zwar den Ausspruch, was durchsucht werden soll. Es ist jedoch nicht näher ausgeführt, welche Beweismittel aufgefunden und beschlagnahmt werden sollen. Dies ergibt sich auch nicht aus den Gründen; ebenso wenig wie sich aus den Gründen ergibt, was dem Beschuldigten überhaupt zur Last gelegt wird.

Den gesetzlichen Anforderungen an die Schriftlichkeit einer außerhalb einer mündlichen Verhandlung und in Abwesenheit des Betroffenen in Beschlussform getroffenen richterlichen Entscheidung (§§ 33 ff. StPO) wird nicht dadurch Genüge getan, dass der Richter in ein Formular oder ein von ihm gefertigtes unvollständiges Schriftstück Blattzahlen, Klammern oder Kreuzzeichen einsetzt, mit denen er auf in den Akten befindliche Textpassagen Bezug nimmt (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 24.06.2004, Az 1 Ws 191/04). Soweit die Urschrift des angefochtenen Beschlusses durch die Formulierung „einrücken wie Bl. 11 (unkenntlich) bzw. „einrücken wie Bl. 11“ auf bestimmte Teile der Akte verweist, werden diese von der Unterschrift des Richters nicht gedeckt. Mit der Verweisung auf Aktenteile erteilt der Richter vielmehr einer nachgeordneten, zur Entscheidungsfindung nicht befugten Person die Anweisung, die fehlenden Angaben nachzuholen, ohne deren Befolgung zu kontrollieren und dafür selbst die Verantwortung zu übernehmen. Eine solche Verfahrensweise entspricht – jedenfalls dann, wenn sich wie hier eine vollständige unterschriebene Urschrift nicht in den Akten befindet – nicht dem Gesetz (vgl. BGH, Beschluss vom 27.06.2003 – IXa ZB 72/03, NJW 2003, 3136; LG Arnsberg Beschluss vom 25.11.2009 – 2 Qs-160 Js 1470/07, BeckRS 2009, 88046; LG Duisburg, Beschluss vom 28.11.2017 – 32 Qs 76/17, juris).

Dieser Formmangel wird nicht dadurch geheilt, dass im Nachhinein auf der Geschäftsstelle die Lücken für das „einrücken wie Bl. …“ gefüllt werden und auf dieser Grundlage sodann eine „Abschrift“ erstellt wird. Im konkreten Fall hat somit die Geschäftsstelle, ohne dazu befugt zu sein, erstmals ein Schriftstück hergestellt und versandt, das die äußere Form eines richterlichen Beschlusses hat, aber keiner ist, weil ihm die richterliche Bestätigung fehlt (vgl. LG Arnsberg Beschluss vom 25.11.2009 – 2 Qs-160 Js 1470/07, BeckRS 2009, 88046; BGH a. a. O.). Die sich in der Akte befindliche, textlich vervollständigte Abschrift“ des Beschlusses vom 26.03.2024 ist weder selbst von dem Richter unterzeichnet noch stimmt sie mit dem unterzeichneten Beschluss überein. Diese wurde dem Beschwerdeführer zudem zu keinem Zeitpunkt ausgehändigt.

Der Beschluss des Amtsgerichts ist unwirksam und damit unbeachtlich. Leidet eine gerichtliche Entscheidung an derart schwerwiegenden Mängeln, dass sie nicht nur rechtlich fehlerhaft, sondern nichtig und damit unbeachtlich ist, so gehen von ihr keine Rechtswirkungen aus (vgl. BGH, Beschluss vom 19.02.2009, Az. 3 StR 439/08).“

Terminsvertreter des Pflichtverteidigers für einen Tag, oder: OLG Hamm ändert LG Essen unrichtig ab

daumen

Und dann noch nochmal etwas zu den Gebühren des Terminsvertreters des Pflichtverteidiger. Folgender Sachverhalt in Kürze: Die Kollegin ist durch Beschluss der Vorsitzenden einer großen Strafkammer des LG Essen vom 03.03.2022 in einem dort anhängigen Strafverfahren gegen u.a. den Angeklagten als Terminsvertreterin für den Pflichtverteidiger dieses Angeklagten, Rechtsanwalt R. für den ersten Hauptverhandlungstag beigeordnet worden. Der erste Hauptverhandlungstermin fand am 07.03.2022 statt und dauerte dreißig Minuten, es wurde im Wesentlichen die Anklageschrift verlesen. Eine Einlassung des Angeklagten erfolgte zunächst nicht.

Die Kollegin hat dann beantragt, ihre Gebühren festzusetzen. Sie hat Festsetzung der Grundgebühr Nr. 4101, VV RVG, der Verfahrensgebühr Nr. 4113 VV RVG, der Terminsgebühr Nr. 4115 VV RVG, der Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG sowie von Fahrtkosten, Tage- und Abwesenheitsgelder sowie USt beantragt.

Das LG hat die dann auch festgesetzt im LG Essen, Beschl. v. 06.07.2023 – 27 KLs 43/21, der folgenden Leitsatz hat:

    1. Der nur für einen Termin als Terminsvertreter beigeordnete Rechtsanwalt rechnet nach Teil Abschnitt 1 VV RVG ab.
    2. Der Vergütungsanspruch des Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin, einen Haftprüfungstermin oder den Termin zur Haftbefehlseröffnung als Verteidiger des Beschuldigten/Angeklagten bestellt worden ist, beschränkt sich nicht auf die Terminsgebühr, sondern umfasst alle durch die anwaltliche Tätigkeit im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände.

Es kommt dann natürlich das, was zu erwarten war, nämlich das Rechtsmittel des Bezirksrevisors. Und dann kommt das OLG Hamm in seiner überbordenden Weisheit und hebt im OLG Hamm, Beschl. v. 30.10.2024 – III-5 Ws 273/23 – die Entscheidung des LG auf und sagt:

Für den „Terminsvertreter“ des Pflichtverteidigers entsteht nur die Terminsgebühr. Grund-, Verfahrensgebühr und Auslagenpauschale entstehen nicht.

Ich fasse die Begründung des Beschlusses des Einzelrichters (!) mal zusammen. Sie lautet. Vertretung ist bei der Pflichtverteidigung zulässig und der Vertreter verdient dann nur die Terminsgebühr. Wer mehr von der falschen Begründung lesen will, der mag das im verlinkten Volltext tun.

Anzumerken ist dazu Folgendes:

Der Entscheidung ist zu widersprechen.

1. Zu widersprechen ist schon der Auffassung des Einzelrichters, dass wegen der ständigen Rechtsprechung des OLG Hamm eine Übertragung auf den und durch den Senat nicht erforderlich sei. Es ist ja schön, wenn das OLG die Frage offenbar schon häufiger entschieden hat. Nur: Die Beschlüsse sind alle unveröffentlicht, hängen also irgendwo beim OLG Hamm im „stillen Kämmerlein“. Man fragt sich., warum man diese Entscheidungen in einer Frage, die ja nun die Rechtsprechung schon seit langem immer wieder beschäftigt nicht, nicht nach außen kund tut. Vielleicht waren die Beschlüsse ja überzeugend, jedenfalls hätten sie zur Diskussion beitragen könne?

Zu einer Übertragung auf den Senat hätte m.E. auf vor allem deshalb Anlass bestanden, weil die Frage, ob der Terminsvertreter des Pflichtverteidigers nur die Terminsgebühr verdient oder auch die Grund- und Verfahrensgebühr ja inzwischen von zahlreichen Gerichten anders gesehen wird als vom OLG Hamm (vgl. nur OLG Bamberg, NStZ-RR 2011, 223 [Ls.]; OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.2.2024 – 1 Ws 13/24 (S), AGS 2024, 171; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.10.2008 – 1 Ws 318/08; OLG Jena, JurBüro 2011, 478; Beschl. v. 14.4.2021 – (S) AR 62/20, AGS 2021, 394 = JurBüro 2021, 576; OLG Karlsruhe, StraFo 2008, 349 = NJW 2008, 2935 = RVGreport 2009, 19 = StRR 2009, 119; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.2.2023 – 2 Ws 13/23, AGS 2023, 164 = NStZ-RR 2023, 159; OLG Köln, RVGreport 2010, 462 = AGS 2011, 286; OLG München, NStZ-RR 2009, 32 = StRR 2009, 120 = RVGreport 2009, 227; OLG München, RVGreport 2016, 145 = AGS 2014, 174 = Rpfleger 2014, 445; OLG Nürnberg, RVGreport 2016, 105 = StraFo 2015, 39 = AGS 2015, 29; OLG Schleswig SchlHA 2010, 269 [Dö/Dr]). Insbesondere die gut begründete Entscheidung des OLG Karlsruhe vom 9.2.203 (a.a.O.) hätte dem OLG Hamm Anlass sein sollen, sich noch einmal näher mit der streitigen Frage auseinander zu setzen. Aber die wird noch nicht einmal erwähnt. Das lässt – zumindest bei mir – den Eindruck entstehen, es hier mit einer Entscheidung zu tun zu haben, die in die Rubrik: „Das haben wir immer schon so gemacht.“ einzuordnen ist.

2. In der Sache ist dem OLG ebenfalls zu widersprechen. Die Entscheidung steht und fällt mit der Frage, ob die Ansicht des OLG, eine „Vertretung“ i.e.S. des Pflichtverteidigers sei zulässig. Das ist m.E. nicht der Fall. Denn die Beiordnung des Pflichtverteidigers ist auf seine Person beschränkt; sie ist höchst persönlich (so auch Meyer-Goßner/Schmidt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 142 Rn 15; Hillenbrand in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., 2022, Rn 3636 f., jeweils m.w.N.; BGHSt 59, 284 = NJW 2014, 3320 m. Anm. Barton StRR 2015, 62; BGH NStZ 2012, 276; OLG Saarbrücken, RVGreport 2015, 64 = StRR 2015, 117). Soweit einige Gerichte (OLG Celle RVGreport 2009, 226; OLG Koblenz JurBüro 2013, 84 = RVGreport 2013, 17; LG Potsdam JurBüro 2011, 417 = AGS 2012, 65; LG Saarbrücken, Beschl. v. 30.6.2014 – 2 KLs 2/13) anderer Ansicht sind, ist das m.E. seit BGHSt 59, 284 nicht mehr haltbar.

3. Im Übrigen: Zu der Frage, dass nicht nur die Terminsgebühr, sondern auch Grundgebühr und Verfahrensgebühr anfallen, ist schon viel geschrieben worden. Das muss man hier nicht wiederholen. Ich verweise dazu auf den o.a. Beschluss des OLG Karlsruhe und auf Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A Rn 2101 ff.). In dem Zusammenhang liegt der Hinweis des OLG auf die (geringe) Dauer des Hauptverhandlungstermins an dieser Stelle neben der Sache.

Zu der Frage, warum die Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG nicht entstanden ist, enthält der Beschluss des OLG kein Wort der Begründung. Die dürfte hier aber entstanden sein, da sich aus dem Beschluss ergibt, dass die Pflichtverteidigerin auch telefoniert hat. Das reicht aber für das Entstehen der Nr. 7002 VV RVG aus (Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Nr. 7002 VV Rn 1 m.w.N.).

4. Für den Verteidiger lässt sich aus der Entscheidung ableiten, dass er in diesen Fällen sehr sorgfältig prüfen sollte/muss, welche Entscheidungen ergehen. Ggf. muss gegen einen Beschluss, der einen Antrag nicht voll ausschöpft, so wie hier, da Bestellung als „weiterer Pflichtverteidiger„ beantragt war, sofortige Beschwerde (§ 142 Abs. 7 StPO) eingelegt oder auf Klarstellung gedrängt werden, dass man nicht von einer Vertretung i.e.S. (vgl. auch § 5 RVG) ausgeht.“

StPO I: Anordnung der DNA-Identitätsfeststellung, oder: Jugendtümliche Tat eines Jugendlichen

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Und dann Start in die 4. KW, und zwar mit zwei Entscheidungen zu Ermittlungsmaßnahmen, also mal wieder StPO.

Ich beginne mit dem LG Essen, Beschl. v. 08.01.2024 – 64 Qs 26/23, der sich zur Anordnung einer Maßnahme nach § 81g StPO äußert. Dem Beschuldigten, einem Jugendlichen, wird vorgworfen, zusammen mit vier Mittätern, bei einem „Drogenankauf“ den Verkäufer überfallen une beraubt zu haben. Deswegen ist ein Verfahren wegen schweren Raubes gegen den Beschuldigten anhängig. In dem Verfahren ist vom AG auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Entnahme von Körperzellen bei dem Beschuldigten gemäß § 81g StPO sowie die Untersuchung molekulargenetischen Materials bei dem Beschuldigten gemäß § 81g StPO für zukünftige Identitätsfeststellungen angeordnet worden. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Beschuldigten, die Erfolg hatte.

Das LG stellt zunächst fest, dass der Beschuldigte vor der Anordnung nicht ausreichend angehört worden ist. Das hat das LG aber im Beschwerdeverfahren nachgeholt und es entscheidet dann in der Sache:

„3. Die Voraussetzungen für die Anordnung der beantragten Maßnahmen liegen jedoch nicht vor.

Die Entnahme und die Untersuchung der Körperzellen sind grundsätzlich auch im anhängigen Strafverfahren zulässig. Zum Schutz des Betroffenen stellt § 81 g StPO strengere Voraussetzungen auf, die unterlaufen würden, ließe man die Einbindung in eine auf der Grundlage des § 81b Alt. 2 StPO angeordnete erkennungsdienstliche Behandlung zu. Auf den Verdachtsgrad kommt es nicht an, so dass ein Anfangsverdacht ausreicht. Die Anordnung einer DNA-Identitätsfeststellung setzt damit lediglich einen einfachen Tatverdacht (Anfangsverdacht) zum Zeitpunkt der Anordnung der Entnahme und der Untersuchungsanordnung nach § 81 f StPO voraus (vgl. BeckOK StPO/Goers, 49. Ed. 1.10.2023, StPO § 81g Rn. 1 m. w. N.). Weil der Gesetzeswortlaut von künftigen Strafverfahren und nicht von künftigen Straftaten spricht, sind die Maßnahmen auch dann zulässig, wenn es um den Nachweis einer bereits begangenen, noch nicht aufgeklärten Straftat geht (vgl. BeckOK StPO/Goers, 49. Ed. 1.10.2023, StPO § 81g Rn. 6).

Der Beschuldigte ist zwar wegen einer Straftat von grundsätzlich erheblicher Bedeutung, vorliegend wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes nach §§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 2 Nr. 1, 25 Abs. 2 StGB, angeklagt, denn dabei handelt es sich um eine Straftat, welche mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stören kann und welche geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Sollte der Beschuldigte eine ähnliche Tat – erneut – verüben, so könnten dabei grundsätzlich auch Körperzellen abgesondert werden (vgl. (BeckOK StPO/Goers, 49. Ed. 1.10.2023, StPO § 81g Rn. 3).

Jedoch besteht entgegen der weiteren Voraussetzung des § 81g Abs. 1 S. 1 StPO derzeit aufgrund der Ausführung der Tat und der Persönlichkeit des Beschuldigten kein Grund zur Annahme, dass gegen ihn künftig Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden. Denn die bisherige strafrechtliche Entwicklung des Beschuldigten spricht nicht dafür, dass er auch zukünftig gleich gelagerte Taten begehen wird.

Die Prognose künftiger Strafverfahren muss nach den Erkenntnissen bei der vorliegenden Straftat beurteilt werden. Insoweit sind konkretisierbare Anhaltspunkte für künftige gleichgelagerte Fälle erforderlich. Die künftigen Straftaten müssen Straftaten von erheblicher Bedeutung zum Gegenstand haben. Bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden kann der Umstand, dass es sich um eine jugendtypische Verfehlung handelt, die Prognoseentscheidung maßgeblich beeinflussen. Auch wenn anzunehmen ist, dass sich der Angeklagte vom Drogenmilieu gelöst hat, kann dieser Umstand einer Anordnung entgegenstehen. Bei der Art oder Ausführung der Tat spielen die Tatschwere, die kriminelle Energie und das Nachtatverhalten eine Rolle.

Bei der Persönlichkeit des Beschuldigten sind seine kriminelle Karriere, seine Vorstrafen, sein soziales Umfeld, seine psychiatrischen Erkrankungen zu berücksichtigen. Bei den sonstigen Erkenntnissen sind kriminalistische oder kriminologisch anerkannte Erfahrungsgrundsätze heranzuziehen (vgl. BeckOK StPO/Goers, 49. Ed. 1.10.2023, StPO § 81g Rn. 6ff. m. w. N.)

Der Beschuldigte ist nicht vorbestraft. Darüber hinaus ist zu berücksichtigten, dass die ihm vorgeworfene Tat bereits länger als dreieinhalb Jahre zurückliegt und der Beschuldigte seitdem nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist.

Darüber hinaus handelt es sich bei der Tat um eine jugendtypische Verfehlung im Rahmen eines gruppendynamischen Prozesses, auch wenn die Kammer nicht verkennt, dass es sich um eine Straftat von jedenfalls mittlerer Kriminalität handelt.

Die Anordnung wäre vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen sowie unter Berücksichtigung dessen, dass der Beschuldigte bei der ihm vorgeworfenen Tat erst 19 Jahre alt war, auch unverhältnismäßig. Denn bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden ist zu berücksichtigen, dass der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts auf eine möglichst weitgehende soziale Integration abzielt. Deshalb ist unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit abzuwägen, ob durch die Speicherung des Identifizierungsmusters dem Jugendlichen eine Brandmarkung droht, die seiner sozialen Integration entgegenstehen kann (BeckOK StPO/Goers, 49. Ed. 1.10.2023, StPO § 81g Rn. 3). Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden besonders restriktiv zu handhaben. So unterliegen jugendliche Straftäter im pubertären Alter – wie hier der zur Tatzeit 19-jährige Beschuldigte – anlässlich des natürlichen Selbstfindungsprozesses erheblichen Integrations- und Anpassungskonflikten, die sich vielfach in Verhaltensunsicherheit und gesteigertem Abweichungspotenzial ausdrücken. Die Verhaltensunsicherheit des Jugendlichen bzw. des Heranwachsenden kann dazu führen, dass er unfähig ist, Aggressionen und Bedürfnissen sozialadäquat Ausdruck zu verleihen, so dass die Ausübung körperlicher Gewalt oft zur einzigen Möglichkeit wird, diese zu artikulieren. Dies lässt sich dann als Mittel deuten, dem jugendlichen Streben nach Anerkennung und Selbstbehauptung – zumindest physisch – gerecht zu werden. Folglich werden beispielsweise Körperverletzungsdelikte als „jugendtypisch“ beschrieben. Das subjektive Bedürfnis nach Anbindung an eine Gruppe ist – im Vergleich zu Erwachsenen – bei Jugendlichen und Heranwachsenden gesteigert. In der Gruppe verringern sich Hemmungen gegenüber delinquentem Verhalten und Verantwortungsgefühl gegenüber Dritten, und die Begehung einer Straftat unterliegt vermehrt dem Einfluss gruppendynamischer Prozesse. Dies führt dazu, dass jugendliche Delinquenz typischerweise vorübergehend ist, die Mehrzahl jugendlicher Täter mithin lediglich einmal bzw. innerhalb einer bestimmten Lebensphase mehrfach bis zum effektiven Eingreifen der staatlichen Sanktionen strafrechtlich in Erscheinung tritt (vgl. LG Hannover, Beschluss vom 3. Juli 2014 – 31 Qs 3/14 –, Rn. 19, juris). Von einem solchen lediglich vorübergehend auftretenden delinquenten Verhalten ist nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall des bisher noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getretenen Beschuldigten aus den oben bereits genannten Gründen auszugehen.“

Pflichti II: Beiordnungsgründe, oder: Unfähigkeit zur Selbstverteidigung, schwere Rechtsfolge, Beweislage

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Im zweiten „Pflichtverteidigerposting“ dann Beiordnungsgründe, und zwar:

Sowohl der Umstand, dass eine (ausländische) Beschuldigte Analphabetin ist, unter Betreuung steht und bei einem Unterlassungsdelikt (hier: § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, passloser Aufenthalt) wegen psychischer Erkrankung §§ 20, 21 StGB in Betracht kommen erfordern jeweils selbständig eine Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit zur Selbstverteidigung. Jedenfalls begründet aber ansonsten die erforderliche Gesamtschau der angeführten Umstände die Bestellung.

Bei Einholung eines Sachverständigengutachtens ist nicht in jedem Fall die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich. Indes kann eine schwierige Sachlage vorliegen, wenn ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel gegen einen Angeklagten ist.

Zur (verneinten) schwierigen Beweislage.

Hätte man m.E. übrigens auch gut anders entscheiden können. Ausschreitungen bei einem Fußballspiel und dann keine schwierige Beweislage?

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge lässt die Mitwirkung eines Verteidigers nicht geboten erscheinen bei nur einem vergleichsweise geringfügiges Delikt, bei dem auch im Fall der Bildung einer Gesamtstrafe lediglich eine geringfügige, für den Beschuldigten nicht wesentlich ins Gewicht fallende Erhöhung der bereits rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe zu erwarten gewesen wäre.

 

 

Die Erstattung der Kosten für ein SV-Gutachten, oder: Anthropologie kann doch wohl jeder

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Und wenn ich den Tag schon mit einer falschen Entscheidung begonnen habe, dann schiebe ich gleich noch eine hinterher. Es handelt sich um den LG Essen, Beschl. v. 19.07.2021 – 27 Qs 35/21. Thematik: Erstattung der Kosten für ein Privatgutachten nach Einstellung des Bußgeldverfahrens. Das ist auch so ein Bereich, in dem sich die Vetreter der Staatskasse und die LG austoben und i.d.R. falsch entscheiden. So auch hier:

Dem Beschwerdeverfahren zugrunde liegt ein gegen die Betroffene geführtes Bußgeldverfahren wegen einer angeblichen Unterschreitung des gebotenen Abstandes zum vorausfahrenden Fahrzeuges. Deswegen erging ein Bußgeldbescheid. Vor der Hauptverhandlung teilte der Verteidiger dem Gericht mit, dass bestritten wird, dass es sich bei der Betroffenen um den Fahrer des Pkws handelt und reichte ein zuvor eingeholtes anthropologisches Privatgutachten ein. Der Verteidiger beantragte zudem, das Verfahren gegen die Betroffene einzustellen. Das AG stellt ein und legt sowohl die Kosten des Verfahrens als auch die der Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse auf.

Im Kostenfestsetzungverfahren wird dann um die Erstattung der Kosten für das außergerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten in Höhe von insgesamt 269,48 EUR gestritten. Die Bezirksrevisorin sieht die natürlich als nicht notwendig an. Das Gericht sei insoweit von Amts wegen dazu verpflichtet, entsprechende Feststellungen zur treffen. Die Rechtspflegerin hat dann nicht festgesetzt – wen wundert es? Dagegen das Rechtsmittel des Kollegen Urbanzyk, das keinen Erfolg hatte:

„Im Sinne des § 46 I OWiG i.V.m. § 464a II Nr. 2 StPO sind unter notwendigen Auslagen die einem Beteiligten erwachsenen, in Geld messbaren Aufwendungen zu verstehen, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, zur Geltendmachung seiner prozessualen Rechte in der gebotenen Form notwendig waren. Hierbei sind Aufwendungen für private Ermittlungen oder Beweiserhebungen in der Regel nicht als notwendig Auslagen anzusehen, weil Ermittlungsbehörden und Gericht von Amts wegen nach § 244 II StPO zur Sachaufklärung verpflichtet sind (LG Aachen, Beschl. v. 12.7.2018, 66 Qs 31/18; LG Berlin, Beschl. v. 05.03.2018, 534 Qs 21/18, jeweils zitiert nach juris). Die Interessen des Beschuldigten bzw. Betroffenen im Straf- bzw. Bußgeldverfahren sind durch die gesetzliche Verpflichtung der Ermittlungsbehörden und Gerichte zur umfassenden Sachaufklärung gewahrt, auf die die Verteidigung zudem durch die Stellung von Beweisanträgen und -anregungen Einfluss nehmen kann (§§ 163a II, 219, 220, 244 III bis VI StPO). Dies gilt auch für das Bußgeldverfahren, in welchem die Einflussmöglichkeiten des Betroffenen gegenüber denjenigen im Strafverfahren deutlich gemindert sind (§§ 55 II 2, 77 II OWiG). Demgegenüber handelt sich aber auch insoweit um ein Amtsermittlungsverfahren, welches schon auf der Ebene der Ermittlungen auch auf alle dem Betroffenen günstigen Umstände zu erstrecken ist (§§ 160 II StPO, 46 II OWiG).

Von diesem Grundsatz der fehlenden Notwendigkeit der Einholung außergerichtlicher Gutachten im Bußgeldverfahren sind zwar Ausnahmen anerkannt, vorliegend aber nicht einschlägig. Abgesehen von der Konstellation, in der das Privatgutachten tatsächlich ursächlich für den Freispruch oder die Einstellung des Verfahrens geworden ist, werden die Kosten ausnahmsweise z.B. auch dann als erstattungsfähig angesehen, wenn es ein abgelegenes und technisch schwieriges Sachgebiet betrifft (LG Wuppertal, Beschl. v. 08.02.2018, 26 Qs 214/17, zitiert nach juris). Auch wird darauf abgestellt, ob die Behörden den Beweisanregungen oder -anträgen der Verteidigung nachkommen und ob ohne die private Ermittlung sich die Prozesslage des Betroffenen verschlechtern würde (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 20.02.2012, 1 Ws 72/09, zitiert nach‘ juris).

Nach der Auffassung des Landgerichts Aachen (LG Aachen, Beschl. v. 12.07.2018, 66 Qs 31/18, zitiert nach juris), welcher sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, folgt aus dem das Bußgeld- wie auch das Strafverfahren beherrschenden Grundsatz der Amtsermittlung, dass allein die Entlegenheit der Materie die Einholung eines Privatgutachtens grundsätzlich nicht erstattungsfähig macht; Anders als im Zivilprozess, in dem die Natur des Parteiprozesses ein (weiteres) Privatgutachten zur Herstellung von ‚Waffengleichheit“ erforderlich machen kann, weil zum Beispiel dann, wenn die Gegenseite ihren Vortrag auf ein eigenes Privatgutachten stützen kann, der eigenen Substantiierungspflicht sonst nicht genügt werden kann, bietet die Verpflichtung des Gerichts und nach dem Gesetz auch der Anklagebehörde zur umfassenden Sachaufklärung zunächst Gewähr für die umfassende Objektivität auch eines von Amts wegen beauftragten Gutachtens. Demzufolge kann die Einholung eines Privatgutachtens aus der maßgeblichen ex ante-Sicht nur dann notwendig sein, wenn objektivierbare Mängel vorliegen, die zur Einholung des Gutachtens drängen. Ex-ante notwendig und damit erstattungsfähig kann ein Privatgutachten sowohl zur Überprüfung eines Erstgutachtens wie auch sonst zur ergänzenden Aufklärung also nur sein, wenn die bisher geführten Ermittlungen unzureichend sind. Allerdings ist es dem Betroffenen auch dann zuzumuten, die Behebung solcher Ermittlungslücken durch das Gericht zu beantragen. Zweite Voraussetzung für die Erstattungsfähigkeit von Gutachterkosten ex-ante ist es daher, dass dem Betroffenen andernfalls eine wesentliche Verschlechterung seiner Prozesslage droht. Dies kommt lediglich dann in Betracht, wenn die Ermittlungsbehörde bzw. das Gericht einem Beweisantrag nicht nachkommt und ein Zuwarten bis zur Hauptverhandlung nicht zumutbar ist. Im Bußgeldverfahren ist es insoweit dem Betroffenen stets zumutbar, auch ex-ante notwendig erscheinende Ermittlungen erst dann selbst zu veranlassen, wenn das in der Hauptsache zuständige Gericht diese abgelehnt hat. Wenn ein Privatgutachten in diesem Sinne ex-ante ausnahmsweise notwendig war, kommt es auf, die Relevanz für den späteren Freispruch ex-post auch nicht mehr an. Wenn dann aber zunächst auf eigenes Kostenrisiko veranlasste private Ermittlungen sich tatsächlich entscheidungserheblich zugunsten des Betroffenen auswirken, sind die Kosten hierfür stets zu erstatten (LG Aachen, Beschl. v. 12.07.2018, 66 Qs 31/18, zitiert nach juris). Hinzu kommt vorliegend, dass das Gutachten der Frage diente, ob es sich bei der auf dem Lichtbild abgelichteten Person um die Betroffene gehandelt hat. Hierbei handelte es sich zum einen nicht um einen technisch anspruchsvollen und schwierigen, technischen Sachverhalt, welcher u.U. auch durch Inaugenscheinnahme durch das Amtsgericht selbst entschieden werden kann.

Unter Anwendung der zuvor ausgeführten Grundsätze sind die von der Beschwerdeführerin – verauslagten Sachverständigenkosten vorliegend nicht erstattungsfähig.

Die Berücksichtigung der von der Verteidigung zitierten Entscheidungen führt zu keiner abweichenden Bewertung. In dem der Entscheidung des Landgerichts Bielefeld (LG Bielefeld, Beschl. v. 19.12.2019, 10 Qs 425/19, zitiert nach juris) zugrunde liegenden Sachverhalt handelte es sich um ein Gutachten zu einer schwierigen technischen Fragestellung, so dass das Gericht die Einholung eines Privatgutachtens als notwendige Vorbereitung für die Prozessführung und Darlegung durch den Verteidiger ansah und sie somit als erstattungsfähig behandelt hat. In dem zitierten Beschluss des Landgerichts Dresden (LG Dresden, Beschl. v. 07.10.2009, 5 Qs 50/07, zitiert nach juris) war ein amtswegig eingeholtes Gutachten mit objektivierbaren Mängeln behaftet, so dass es der Überprüfung durch ein Privatgutachten bedurfte. Diese Konstellationen sind vorliegend nicht gegeben.

Nach den obigen Ausführungen war es dem Verteidiger insbesondere aufgrund des im Bußgeldverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes zuzumuten, bei Zweifeln an der Fahrereigenschaft der Betroffenen die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zu beantragen. Erst wenn das Amtsgericht diesem Antrag nicht entsprochen hätte oder wenn es zur Widerlegung des gerichtlich eingeholten Gutachten erforderlich erscheint, hätte es aus ex-ante Sicht der Einholung eines Privatgutachtens bedurft, welches auch zur Akte hätte gereicht werden müssen.“

Das LG scheint das ernst zu meinen: Das Gericht kann durch/nach Inaugenscheinsnahme des Betroffenen in der Hauptverhandlung selbst entscheiden. Ah ja, sicher. Und ein anthropologisches Gutachten ist kein Hexenwert. Das kann jeder. Von da bis zum standardisierten Verfahren ist es nicht mehr weit. Man glaubt es nicht. Schön übrigens auch immer die Passage in den Beschlüssen, in denen auf das Beweisantragsrecht verwiesen wird. Aber hallo? Blendet man eigentlich das Theater an den AG um Beweisanträge aus. § 77 OWiG lässt grüßen.