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(Un)Zulässigkeit einer weiteren Haftbeschwerde, oder: Antrag auf Haftprüfung versus Haftbeschwerde

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Der zweite Beschluss, der OLG Hamm, Beschl. v. 03.12.2024 – 3 Ws 417/24 -, befasst sich mit der Zulässigkeit einer Haftbeschwerde.

Das AG hat am 22.02.2024 gegen den Beschuldigten Haftbefehl erlassen, den es am 23.04.2024 neu gefasst hat. Auf Grundlage dieses geänderten Haftbefehls wurde gegen den Beschuldigten am 15.05.2024 ein Europäischer Haftbefehl erlassen. Mit Beschluss vom 30.09.2024 hat das AG den vom Verteidiger des Beschuldigten gestellten auf Außervollzugsetzung des Haftbefehls zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschuldigten hat das LG Bielefeld mit Beschluss vom 15.10.2024 als unbegründet verworfen. Mit Schriftsatz vom 29.10. hat der Beschuldigte über seinen Verteidiger weitere Beschwerde eingelegt.

Dem Beschuldigten wurde unterdessen – nachdem er auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls aus den Niederlanden in die Bundesrepublik Deutschland überstellt worden war – am 10. 10.2024 vor dem AG Kleve der Haftbefehl verkündet und dieser zugleich aufrechterhalten und in Vollzug gesetzt. In diesem Termin beantragte der Beschuldigte, dem zuständigen Gericht vorgeführt zu werden. Nachdem der Beschuldigte – seinem Antrag entsprechend – dem für ihn zuständigen Ermittlungsrichter zugeführt worden war, ist der Haftbefehl dort im Anschluss an den Vorführtermin vom 11.11.2024 aufrechterhalten und in Vollzug belassen worden.

Das OLG hat die weitere Beschwerde des Beschuldigten als unzulässig angesehen:

„Die nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO grundsätzlich statthafte weitere Beschwerde gegen den Beschluss der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom 15. Oktober 2024, mit welchem die Beschwerde vom 07. Oktober 2024 gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Bielefeld vom 23. April 2024 in Verbindung mit dem Beschluss des Amtsgerichts Bielefeld vom 30. September 2024 – betreffend die Zurückweisung des Antrages auf Außervollzugsetzung – als unbegründet verworfen wurde, ist bereits unzulässig.

1. Der Zulässigkeit der weiteren Beschwerde steht im vorliegenden Fall § 117 Abs. 2 S. 1 StPO entgegen. Nach dieser Vorschrift ist neben einem Antrag auf Haftprüfung die Beschwerde unzulässig (sog. „Vorrang der Haftprüfung gegenüber der Haftbeschwerde“). Diese Vorrangregelung führt auch im vorliegenden Fall zur Unzulässigkeit der weiteren Haftbeschwerde.

a) Der Beschuldigte hat im Rahmen seiner Vorführung am 10. Oktober 2024 beim Amtsgerichts Kleve gemäß § 115a Abs. 3 S. 1 StPO seine Vorführung vor das zuständige Gericht zur Vernehmung nach § 115 StPO beantragt. Der Sache nach handelt es sich um einen Antrag auf Haftprüfung im Sinne des § 117 Abs. 1 StPO (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 13. Februar 2002 – 2 Ws 38/02; OLG Stuttgart, Beschluss vom 03. August 1989 – 3 Ws 178/89, beck-online). Denn wie bei einer Haftprüfung führt auch der Antrag nach § 115a Abs. 3 S. 1 StPO zu einer gerichtlichen Prüfung des gemäß § 126 StPO zuständigen Gerichts aufgrund mündlicher Verhandlung, ob der Haftbefehl aufzuheben oder dessen Vollzug auszusetzen ist. Der Gang der Entscheidungsfindung und der Entscheidungsgegenstand stimmen mit einer Haftprüfung im Sinne der §§ 117 ff. StPO überein. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, die Haftprüfung nach den §§ 117 ff. StPO sowie die Vorführung nach den §§ 115a, 115 StPO – insbesondere im Hinblick auf die gesetzliche Vorrangregelung – unterschiedlich zu beurteilen. Denn der gesetzliche Grundgedanke, dass zunächst das sachnähere Haftgericht oder das bereits mit der Hauptsache befasste Tatgericht über die Haftfortdauer entscheiden soll (vgl. MüKoStPO/Böhm, 2. Auflage 2023, StPO § 117 Rn. 46), bevor das entferntere Beschwerdegericht – in der Regel gemäß § 118 Abs. 2 StPO nach Aktenlage – zu entscheiden hat, gilt in beiden Fällen gleichermaßen.

b) Die Stellung des Antrages auf Vorführung vor das zuständige Gericht am 10. Oktober 2024 hat damit zugleich die Unzulässigkeit der am 07. Oktober 2024 eingelegten Beschwerde gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Bielefeld vom 23. April 2024 nach sich gezogen und führt auch zur Unzulässigkeit der gegen den Verwerfungsbeschluss der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom 15. Oktober 2024 gerichteten weiteren Beschwerde vom 29. Oktober 2024, mit denen letztlich dasselbe Ziel, nämlich die Aufhebung (§ 120 Abs. 1 StPO) oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO) verfolgt wurde, wie mit der am 10. Oktober 2024 vom Beschuldigten beantragten Haftprüfung. Dabei ist es letztlich unerheblich, ob die (weitere) Beschwerde vor, nach oder gleichzeitig mit dem Haftprüfungsantrag eingelegt worden ist. Insbesondere lebt die eingelegte Beschwerde nach Abschluss des Haftprüfungsverfahrens oder nach etwaiger Rücknahme des darauf gerichteten Antrages nicht wieder auf, sondern bleibt unzulässig (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 18. Mai 2017 – 4 Ws 85/17; BeckOK StPO/Krauß, 53. Ed. 1.7.2024, StPO § 117 Rn. 13; Lind in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2019, § 117 StPO, Rn. 29 ff.). Denn die durch Anbringung des Haftprüfungsantrags einmal bewirkte Unzulässigkeit kann hierdurch nicht wieder beseitigt werden (vgl. Faßbender/Posthoff in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 117 StPO, Rn. 20). Der Beschwerdeführer erleidet hierdurch keinen wesentlichen Nachteil, da er gegen die Entscheidung nach erfolgter Haftprüfung erneut Beschwerde einlegen kann.

2. Die weitere Beschwerde ist darüber hinaus mittlerweile infolge der Entscheidung des Amtsgerichts Bielefeld vom 11. November 2024, mit dem der Haftbefehl aufrechterhalten und in Vollzug belassen worden ist, prozessual überholt und damit unzulässig.

a) Es entspricht gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung, dass bei mehreren aufeinander folgenden, denselben Gegenstand betreffenden Haftentscheidungen grundsätzlich nur jeweils die letzte Haftentscheidung angefochten werden kann (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 23. November 2020 – 1 Ws 475/20; OLG Hamm, Beschluss vom 29. Juni 2010 – 2 Ws 149/10, beck-online; BeckOK StPO/Krauß, 53. Ed. 1.7.2024, StPO § 117 Rn. 5; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, 67. Auflage 2024, § 117 StPO, Rn. 8 m.w.N.). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine frühere Haftentscheidung durch eine ihr zeitlich nachfolgende prozessual überholt sein kann und es einem vernünftigen Verfahrensablauf widerspricht, wenn der Angeklagte beliebig auf frühere, denselben Sachvorgang betreffende Haftentscheidungen zurückgreifen könnte, deren Begründung eventuell bereits überholt ist, und es hierdurch im Ergebnis zu einander widersprechenden Entscheidungen verschiedener mit der Sache befasster Gerichte kommen kann (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 29. Juni 2010, 2 Ws 149/10; OLG Hamm, Beschluss vom 27. Mai 2008 – 4 Ws 136/08; OLG Hamburg, Beschluss vom 22. Februar 1994, 1 Ws 40/94 – juris).

Etwas anderes gilt nur dann, wenn dies lediglich zu einer sachlich nicht gebotenen kurzfristigen Haftentscheidung desselben Spruchkörpers führen und die erstrebte Anrufung des Beschwerdegerichts dadurch ohne sachlich zwingende Gründe verzögert würde, weil derselbe Spruchkörper erst kurz zuvor eine ausreichend begründete Haftentscheidung (als Beschwerdegericht) getroffen hat (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 06. Juni 2013 – 5 Ws 202/13; OLG Hamm, Beschluss vom 29. Juni 2010, 2 Ws 149/10; OLG Hamm, Beschluss vom 27. Mai 2008, 4 Ws 136/08 – beck-online).

Ein derartiger Ausnahmefall, der ein Abweichen von dem oben bezeichneten Grundsatz rechtfertigen könnte, ist vorliegend indessen nicht gegeben. Es liegt bereits keine Identität des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers vor, jedenfalls soweit es die personelle Identität des zuständigen Ermittlungsrichters beim Amtsgericht Bielefeld anbetrifft. Darüber hinaus hat der Ermittlungsrichter vorliegend – ausweislich des Protokolls des Vorführtermins vom 11. November 2024 – unter Berücksichtigung ergänzender Ausführungen des Beschuldigten und seines Verteidigers, insbesondere zur Frage des Vorliegens eines Haftgrundes, entschieden. Die Einhaltung des gesetzlich vorgesehenen Instanzenzuges kann aufgrund dessen auch vor dem Hintergrund des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgrundsatzes nicht als bloßer Formalismus angesehen werden.

b) Es besteht auch kein besonderes Interesse an der Feststellung einer (etwaigen) Rechtswidrigkeit der (prozessual überholten) Haftfortdauerentscheidung. Ein solches käme nur dann in Betracht, wenn die Untersuchungshaft beendet wäre und der Beschuldigte ohne Zuerkennung des besonderen Fortsetzungsfeststellungsinteresses mangels Beschwer eine gerichtliche Überprüfung der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht mehr erreichen könnte (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 02. Februar 2017, 4 Ws 422/16; OLG Koblenz, Beschluss vom 23. Dezember 2015, 2 Ws 664/15, OLG Koblenz, Beschluss vom 06. November 2006, 1 Ws 675/06, juris). Dies ist indes vorliegend nicht der Fall. Denn die Untersuchungshaft wird weiterhin auf Grundlage der zuletzt ergangenen Entscheidung des Amtsgerichts Bielefeld vom 11. November 2024 vollzogen.“

Zu frühe Sechs-Monats-Haftprüfung beim OLG, oder: Begriff derselben Tat und „neue“ Vorwürfe

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Auf geht es in die 4. KW/2025, und zwar mit zwei Haftentscheidungen. Nichts Besonderes und nichts Neues, sondern nur „alte“ Probleme/Aussagen der entscheidenden OLG.

Zunächst stelle ich den OLG Brandenburg, Beschl. v. 05.12.2024 – 2 Ws 153/24 (S) – vor. Ergangen ist er im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO. Das OLG äußert sich (noch einmal) zum Begriff derselben Tat, der ja für die Frage der Berechnung der Sechs-Monats-Frist von Bedeutung ist:

„Eine Entscheidung durch den Senat ist derzeit nicht veranlasst. Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat dazu in ihrer Stellungnahme vom 15. November 2024 das Folgende ausgeführt:

„I.

Im Übrigen handelt es sich um andere Taten im Sinne des § 121 StPO, als die wegen der der Beschuldigte ursprünglich inhaftiert wurde. Der nun vollstreckte Haftbefehl betrifft nicht mehr dieselbe Tat wie der ursprüngliche Haftbefehl (siehe hierzu BGH NStZ-RR 2023, 349 m.w.Nachw.). Der Begriff derselben Tat im Sinne des § 121 StPO weicht vom prozessualen Tatbegriff im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO ab und ist mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Er erfasst alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt geworden sind und in einen bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind (vgl. BGH Beschl. v. 02.06.2021 – AK 33/21, BeckRS 2021, 15386 Rn. 6 m.w.Nachw.). Dadurch wird eine sogenannte Reservehaltung von Tatvorwürfen vermieden, die darin bestünde, dass von Anfang an bekannte oder im Laufe der Ermittlungen bekannt gewordene Taten zunächst zurückgehalten und erst kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zum Gegenstand eines neuen oder erweiterten Haftbefehls gemacht werden mit dem Ziel, eine neue Sechsmonatsfrist zu eröffnen. Somit löst es keine neue Haftprüfungsfrist gemäß § 121 Abs. 1 StPO aus, wenn ein neuer Haftbefehl lediglich auf Tatvorwürfe gestützt bzw. durch sie erweitert wird, die schon bei Erlass des ersten Haftbefehls – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt waren. Tragen dagegen die erst im laufe der Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls und ergeht deswegen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt (BGH, Beschluss vom 20. September 2023 – AK 54/23 -, Rn. 8, juris m. w. Nachw.). So liegt es hier jedenfalls bezüglicher der Taten Nr. 6, 8, 9, 12-17, 19-20 und 22-23 des Haftbefehls vom 5. November 2024.

…..

Für den Beginn der neuen Sechsmonatsfrist gemäß §§ 121, 122 StPO bezüglich dieser Taten ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem sich der Verdacht hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe zu einem dringenden verdichtet hat. Entscheidend ist mithin, wann der neue bzw. erweiterte Haftbefehl hätte erlassen werden können (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 16. Mai 2018 – 1 Ws 149/18 H -, Rn. 8), nicht hingegen, wann die Staatsanwaltschaft ihn erwirkt hat. Dabei ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Haftbefehl spätestens an dem auf die Beweisgewinnung folgenden Tag der veränderten Sachlage anzupassen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2023 – AK 54/23 -, Rn. 8), insbesondere der Tag nach der Vernehmung des Zeugen (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 25. März 2019 – 2 Ws 39 – 42/19 -, Rn. 8, juris).

1. Eine neue Sechsmonatsfrist läuft daher ab den 20. Juni 2024 jedenfalls im Hinblick auf die erst und nur durch Vernehmung der Zeugin … (Name 02) am 19. Juni 2024 (Bd. 111 BI. 466 ff. der Akte) ermittelten haftbefehlsgegenständlichen Vorwürfe schweren sexuellen Missbrauchs gemäß § 176c StGB (Bd. IV BI. 832 der Akte), nämlich zwei Fälle des Vollzugs des Geschlechtsverkehrs an ihr durch den Beschuldigten in einem Auto im Wald (Tat Nr. 22 und 23). Diese tragen aufgrund der Tatschwere (§ 176a Abs. 2 StGB a. F. bzw. § 176c StGB) und der Gesamtschau der geschilderten Beweislage gegen den Beschuldigten und die Mitbeschuldigten allein den Vollzug des Haftbefehls. Bezüglich dieser Taten läuft die Sechsmonatsfrist daher erst am 20. Dezember 2024 ab.

2. Eine neue Sechsmonatsfrist läuft zudem bezüglich der übrigen zum Gegenstand des erweiterten Haftbefehls gemachten Vorwürfe schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, die gegen den Beschuldigten erst erhoben werden konnten, nachdem er auf Foto- und Videoaufnahmen des Missbrauchs identifiziert werden konnte. Diese Aufnahmen befanden sich auf den am 21.Mai 2024 sichergestellten Datenträgern und gelangten erst durch Auswertungsbericht vom 25. September 2024 zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden. Es handelt sich dabei um Tat 6 (Nr. 12 auf BI. 47 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 8 (Nr. 7 BI. 181 f. des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 13 (Nr. 8 BI. 38 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 14 (Nr. 7 BI. 37 des Sonderhefts Gutachten P- 2024-0326), Tat 15 (Nr. 6 BI. 36 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 16 (Nr. 3 BI. 34 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 17 (Nr. 2 BI. 34 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 19 (Nr. 11 BI. 39 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326) und Tat 20 (Nr. 12 BI. 39 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326) des Haftbefehls. Dabei kann es aufgrund der geschilderten Maßstäbe für den Beginn einer neuen Sechsmonatsfrist nicht allein auf den Tag nach der Vorlage des Auswertungsberichts am 25. September 2024 ankommen (BI. 1 ff. des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), da ansonsten die Ermittlungsbehörden willkürlich durch verzögerte Auswertung von Datenträgern Haftbefehle „auf Reserve“ generieren könnten. Für den Beginn einer neuen Sechsmonatsfrist ist im Falle von Taten, denen der Beschuldigte erst durch Auswertung von Datenträgern dringend verdächtig ist und die zum Gegenstand eines (erweiterten) Haftbefehls gemacht werden, entscheidend, wann frühestens mit der Auswertung der Datenträger zu rechnen wäre (vgl. OLG Jena Beschl. v. 16.11.201 O – 1 Ws 446/10 (32), BeckRS 2011, 15235) und sodann der Tag nach der Vorlage der Auswertung maßgeblich (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2023 – AK 54/23 -, Rn. 24, juris). Vorliegend wurden die am 21. Mai 2024 sichergestellten Datenträger am 12. Juni 2024 dem externen IT-Forensiker überreicht und der Auftrag am 24. Juni 2024 erteilt (BI. 1 ff. des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326, siehe Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 31. Mai 2024, Bd. II BI. 314 der Akte).

Dieser Zeitraum hätte unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen und der möglichen Vorbereitung der Auswahl der Stelle, die die Auswertung der sichergestellten Datenträger vornehmen soll, auf eine Woche nach Ablauf des Tages des Erlasses und der Vollstreckung des ursprünglichen Haftbefehls am 22. Mai 2024 verkürzt werden können, indem der Auftrag am 30. Mai 2024 erteilt worden wäre. Die Auswertung selbst dauerte vom 24. Juni 2024 bis 25. September 2024, wobei nicht ersichtlich ist, dass die Auswertung in kürzerer Zeit möglich gewesen wäre. Die im Zuge der Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten am 21. Mai 2024 als Beweismittel sichergestellten über zwei Dutzend Datenträger (BI. 7 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326) konnten trotz kostspieliger Beauftragung eines externen Gutachters (Bd. IV BI. 865 der Akte) erst am 23. Juli 2024 (BI. 1 ff. des Sonderheftes „vorläufige Auswertung“) und 5. September 2024 vorläufig ausgewertet werden und enthielten ca. 10.000 Dateien mutmaßlich kinderpornographischen Materials und Videoaufnahmen mutmaßlich schweren sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigungen der Zeuginnen … (Name 02) sowie der … (Name 01) durch den Beschuldigten und die Mitbeschuldigten … (Name 03) und … (Name 04) (Bd. IV BI. 832 der Akte). Die Auswertung nahm 252 Arbeitsstunden in Anspruch (ca. 84 Stunden pro Monat, Bd. IV BI. 865 der Akte). In der obergerichtlichen Rechtsprechung sind zur Berechnung neuer Sechsmonatsfristen Zeiträume von über drei Monaten von der Sicherstellung bis zur Auswertung von Datenträgern anerkannt (vgl. OLG Jena Beschl. v. 16.11.2010 – 1 Ws 446/10 (32), BeckRS 2011, 15235; BGH, Beschluss vom 20. September 2023 -AK 54/23 -, Rn. 24, juris). Das ohne erkennbaren Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz erstellte Gutachten über die forensische Auswertung der Datenträger vom 25. September 2024 fasst die Ergebnisse dahingehend zusammen, dass 2.728 Bilder und 71 Videos jugend- und kinderpornographischen Inhalts festgestellt werden konnten, die zu einem wesentlichen Anteil den schweren sexuellen Missbrauch der Geschädigten … (Name 02) und … (Name 01) zeigen würden (BI. 1 ff., 31 ff. des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326) und jedenfalls die Taten Nr. 6, 8, 13, 14, 15, 16, 17, 19, 20 des Haftbefehls belegen, die sich ausschließlich aus dem Auswertebericht vom 25. September 2024 ergeben (BI. 31-50 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326).

Mit Ausnahme der geschilderten Verzögerung von drei Wochen und vier Tagen hätten diese Taten, derer der Beschuldigte erst aufgrund der Auswertung der Datenträger in der Gesamtschau der Ermittlungsergebnisse (siehe unter 11.) dringend verdächtig ist, nicht früher als am 26. September 2024 zum Gegenstand des erweiterten Haftbefehls gemacht werden können. Maßgeblicher Zeitpunkt der neuen Sechsmonatsfrist ist hiernach der Tag nach der Vorlage der Auswertung, der 26. September 2024, unter Abzug von drei Wochen und vier Tagen, die die Auswertung vermeidbar verzögert worden ist. Jedenfalls hinsichtlich der Taten Nr. 6, 8, 13, 14, 15, 16, 17, 19 und 20, die angesichts der geschilderten Beweislage und der Schwere der Vorwürfe den derzeit vollstreckten Haftbefehl gegen den Beschuldigten alleine tragen, begann die neue Sechsmonatsfrist mithin am 1. September 2024 und endet am 1. März 2025.“

Diesen zutreffenden Erwägungen tritt der Senat bei.“

Wenn man es zweimal gelesen hat, versteht man es 🙂 .

 

Verwerfung III: Verspätung wegen Verkehrsstau, oder: Gericht muss während HV telefonisch erreichbar sein

Und dann die dritte „Verwerfungsentscheidung“. Die kommt aus dem Bußgeldverfahren.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Die Hauptverhandlung, in der das Urteil verkündet worden ist, hat am 05.10.2023 von 8:30 Uhr bis 9:00 Uhr in Abwesenheit sowohl des Betroffenen als auch seines Verteidigers stattgefunden. Ein Wiedereinsetzungsantrag des Betroffenen hatte keinen Erfolg. Zur Zulassung des Rechtsbeschwerde ist vorgetragen worden:

Der Verteidiger sei rechtzeitig in Bad Harzburg losgefahren sei, um den am 05.10.2023 auf 8.30 Uhr bestimmten Hauptverhandlungstermin beim AG Braunschweig wahrzunehmen. Wegen eines unvorhersehbaren Verkehrsunfalls im Bereich einer Baustelle sei es auf der Autobahn 36 indes zu einer temporären Vollsperrung von mehr als 30 Minuten gekommen. Weitere etwa 15 Minuten Verzögerung seien dadurch eingetreten, dass der Verkehr im Bereich der wegen der Baustelle ohnehin einspurigen Strecke nur sehr langsam an – dem verunfallten Fahrzeug habe vorbeigeführt werden können. Er habe deshalb erst um 9:02 Uhr den Gerichtssaal erreicht. Zu diesem Zeitpunkt sei, wie er sodann erfahren habe, das Urteil bereits verkündet gewesen.

Das OLG Braunschweig hat mit dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 20.12.2024 – 1 ORbs 62/24  – die Rechtsbeschwerde zugelassen und das AG-Urteil aufgehoben:

„Ein Betroffener hat einen Anspruch darauf, sich im Bußgeldverfahren der Hilfe eines Verteidigers zu bedienen (§ 137 Abs. 1 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG). Im Falle nicht angekündigter Verspätung des Verteidigers gebietet es deshalb die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts regelmäßig, zumindest einen Zeitraum von 15 Minuten zuzuwarten, bevor mit der Hauptverhandlung begonnen wird (OLG Hamm, Beschluss vom 16. Juni 2006, 3 Ss OWi 310/06, juris, Rn. 6; OLG Köln, Beschluss vom 2. September 1997, Ss 485/97 (B) = NStZ 1997, 494). Hat der Verteidiger indes seine Verspätung gegenüber dem Gericht angekündigt und sich dabei auf ein unvorhersehbares Ereignis – beispielsweise einen Verkehrsstau – berufen, kann es geboten sein, auch über den Zeitraum von 15 Minuten hinaus auf dessen Eintreffen zu warten (OLG Hamm, a.a.O.; Rn. 7; OLG Köln, a.a.O.). So lag der Fall hier. Das Gericht hätte das Eintreffen der Verteidigung um 9:02 Uhr abwarten müssen. Der Verteidiger hat im Zulassungsantrag nachvollziehbar dargelegt, dass er rechtzeitig in Bad Harzburg losgefahren und allein deshalb verspätet zum Hauptverhandlungstermin erschienen ist, weil sich seine Anreise um zumindest 45 Minuten wegen eines von ihm nicht vorhersehbaren Verkehrsstaus verzögert hat. Eine unverschuldete Verzögerung, gegen die auch die vernünftigerweise zu beachtende Sorgfalt keine Vorsorge gebietet, kann auch durch einen außergewöhnlich ausgedehnten Stau bewirkt werden (BFH, Beschluss vom 17. April 2024, X B 68, 69/23, juris, Rn. 13). Ohne den Stau, der zu einer verkehrsbedingten Verzögerung von 45 Minuten geführt hat, wäre der Verteidiger bereits um 8:17 Uhr und damit rechtzeitig am Sitzungssaal eingetroffen.

Dass die Vorsitzende bei Verkündung des Urteils keine Kenntnis von dem Hinderungsgrund hatte, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn Fehler der Justiz sind dem Gericht zuzurechnen (BFH, a.a.O., Rn. 15; OLG Köln, Beschluss vom 2. September 1997, Ss 485/97 (B) = NStZ 1997, 494). Ein Fehler, der der Justiz zuzurechnen ist, liegt vor, denn der Verteidiger konnte das Gericht in der Zeit von 8:11 Uhr bis 8:35 Uhr bei insgesamt sieben Anrufen unter der 0531 4880 und bei weiteren 11 Anrufen unter der ihm bekannten Durchwahl – 2146 – nicht erreichen, wie er zur Überzeugung des Senats belegt hat. Werden Hauptverhandlungen durchgeführt, hat das Gericht jedoch für eine Kommunikation mit den Verfahrensbeteiligten erreichbar zu sein und entsprechende Telefonanrufe entgegenzunehmen.

Der Verstoß gegen die gerichtliche Fürsorgepflicht ist vorliegend auch nicht nur als Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 GG), der für eine Zulassung gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG nicht ausreicht (vgl. OLG Hamburg, Be-schluss vom 2. März 2021, 2 RB 5/21, 3 Ss-OWi 11/21, Rn. 15 f., juris; KG, Beschluss vom 3. Juni 2021, 3 Ws (B) 148/21, Rn. 10, juris; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 4. Januar 2021, Rn.12, juris), sondern als Gehörsverstoß (Art. 103 Abs. 1 GG) anzusehen. Das ist zwar regelmäßig nicht der Fall, weil aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht folgt, dass das rechtliche Gehör durch Vermittlung eines Rechtsanwalts gewährt wird (BayObLG, Beschluss vom 29. März 1995, 2 Ob OWi 61/95, juris, Rn. 4 m.w.N.). Der aktuell zu beurteilende Fall ist jedoch deshalb anders gelagert, weil der Betroffene vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundenen war und auf die Anwesenheit seines Verteidigers vertraut hat, sodass auch er keine Möglichkeit hatte, sich zum Vorwurf äußern.“

Man merkt dem Beschluss an, dass das OLG ein wenig „angefressen“ ist/war.

KCanG II: Zuständigkeit für Neufestsetzung der Strafe, oder: Noch nicht erledigte Maßregel der Unterbringung

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Im zweiten Posting zum KCanG dann zwei Entscheidungen zur Neufestsetzung der Strafe, und zwar:

Der BGH hat im BGH, Beschl. v. 23.10.2024 – 2 ARs 179/24 – zur Zuständigkeit für die Neufestsetzung der Strafe, zu der sich ja auch schon einige OLG geäußert haben, Stelllung genommen, und zwar wie folgt:

1. Zuständig für die Entscheidungen nach Art. 316p in Verbindung mit Art. 313
EGStGB ist nicht die Strafvollstreckungskammer, sondern stets das Gericht
des ersten Rechtszugs.

2. Art. 313 Abs. 4 Satz 1 EGStGB ist in den Fällen des Art. 313 Abs. 3 EGStGB
entsprechend anzuwenden.

Damit dürfte das Problem, wenn es denn eins war, erledigt sein. Die Entscheidung ist übrigens zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt.

Und dann habe ich noch den OLG Hamm, Beschl. v. 19.11.2024 – 3 Ws 368/24 – zur Frage, was bei Neufestsetzung einer (Gesamt)Strafe eigentlich aus einer – noch nicht erledigten – Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wird, wenn dazu keine Entscheidung getroffen wird:

1. Trifft ein Gericht bei der Neufestsetzung einer Gesamtstrafe nach Art. 316p i. V. m. Art. 313 Abs. 4 EGStGB keine ausdrückliche Entscheidung zu der mit der Gesamtstrafe angeordneten – noch nicht erledigten – Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, so ist damit die Maßregel nicht zwangsläufig in Wegfall gebracht. Ob sich der (Einzel-)Straferlass unter Neufestsetzung einer Gesamtstrafe auf die Maßregel erstreckt, ist vielmehr durch Auslegung zu ermitteln.

2. Zwar ordnet das Gesetz in Art. 313 Abs. 1 S. 2 EGStGB an, dass sich der Straferlass auch auf Maßregeln erstreckt. Aber erst dann, wenn durch den Straferlass die für die Maßregelanordnung maßgeblichen Anlasstaten betroffen sind, ist überhaupt eine Entscheidung über dieselbe veranlasst gewesen.

KCanG I: Quelle für Erwerb zum Eigenverbrauch, oder: „Geldwäsche“ bei Erwerb unter dem Schwellenwert

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Heute stelle ich einige Entscheidungen zum KCanG vor.

Ich starte mit dem OLG Hamburg, Urt. v. 12.12.2024 – 5 ORs 21/24 -, das sich zum Besitz und/oder Erwerb von Cannabis äußert. Dem Angeklagten und einem bereits rechtskräftig verurteilten Mitangeklagten ist mit der Anklage das gemeinschaftliche Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Last gelegt worden. Das AG hat beide Angeklagte jeweils wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln schuldig gesprochen. Gegen dieses Urteil hat nur der Angeklagte Berufung eingelegt. Das LG hat dann das AG-Urteil aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen.

Nach den Feststellungen des LG verwahrten die zunächst gemeinsam Angeklagten B. und S. am 24.05.2021 gegen 20:26 Uhr in der von ihnen zusammen bewohnten Wohnung insgesamt 1.047,13 g netto Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt zwischen 2,52% und 3,0% und damit einer Gesamtwirkstoffmenge von 26,09 g THC. Davon verwahrte der Angeklagte B. in der Küche insgesamt 29,15 g netto Marihuana zum Eigenkonsum. Die übrige Menge Marihuana wurde dem Angeklagten S. zugeordnet. Eine betäubungsmittelrechtliche Erlaubnis lag nicht vor. Der Angeklagte B. war zum Tatzeitpunkt fünfunddreißig Jahre alt und verwahrte nach den Feststellungen 29,15 g Marihuana zum persönlichen Eigenkonsum an seinem Wohnsitz.

Gegen den Freispruch richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, der sich die Generalstaatsanwaltschaft angeschlossen hat. Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg:

„1. Bezüglich einer etwaigen Strafbarkeit wegen des Besitzes von Cannabis ist der lex-mitior-Grundsatz (§ 2 Abs. 3 StGB) heranzuziehen: Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.

a) Am 1. April 2024 ist das Gesetz zum Umgang mit Konsumcannabis (Konsumcannabisgesetz – KCanG) vom 27. März 2024 in Kraft getreten (BGBl. 2024 I Nr. 109). Nach der Neuregelung unterfällt Cannabis nicht mehr dem Betäubungsmittelgesetz, sodass sich die Strafbarkeit der hier zu beurteilenden Tat nach dem Konsumcannabisgesetz bestimmt. Dabei ist Marihuana als Bestandteil der Cannabispflanze (§ 1 Nr. 4 KCanG) vom Begriff Cannabis umfasst, § 1 Nr. 8 KCanG. Ob das Tatzeitrecht oder das neue Recht nach dem KCanG für den Angeklagten günstiger und damit gemäß § 2 Abs. 3 StGB zur Anwendung zu bringen ist, richtet sich nach einem konkreten Gesamtvergleich im Einzelfall (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschl. v. 11. September 2024 – 3 StR 261/24, juris Rn. 10; Beschl. v. 7. August 2024 – 3 StR 278/24, juris Rn. 13; Beschl. v. 26. Juni 2024 – 3 StR 201/24, juris Rn. 7; BGHSt 67, 130 Rn. 12 f. m.w.N.; Beschl. v. 14. Oktober 1982 – 3 StR 363/82, NStZ 1983, 80; Fischer, StGB, 72. Aufl., § 2 Rn. 8 f.). Der Vergleich zwischen § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG und § 34 Abs. 1 Nr. 1 KCanG zeigt, dass Letzteres das mildere Gesetz ist. Denn nach diesem beginnt die Strafbarkeit des Besitzes von Cannabis erst ab einer Grenze von mehr als 30 g.

b) Dies steht auch nicht im Widerspruch mit dem Recht der Europäischen Union. Nach Artikel 2 Absatz 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des Rates vom 25.10.2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels (ABl. L 335 S. 8), der zuletzt durch Artikel 1 Richtlinie (EU) Nr. 2021/802 (ABl. L 178 v. 12. März 2021, S. 1) geändert worden ist („Rahmenbeschluss 2004“) sind das Ein- und Ausführen, Herstellen, Zubereiten, Anbieten, Verkaufen, Liefern von Drogen, zu denen auch Cannabis gehört, durch die Mitgliedstaaten unter Strafe zu stellen. Das Besitzen oder Kaufen von Drogen ist nur dann unter Strafe zu stellen, wenn dies deshalb erfolgt, um eine der im Satz zuvor genannten Handlungen zu begehen (Art. 2 Abs. 1c des Rahmenbeschlusses). Im Übrigen ist der Anwendungsbereich dann nicht nach Art. 2 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses eröffnet, wenn die Taten durch die Täter „ausschließlich für ihren persönlichen Konsum im Sinne des nationalen Rechts begangen“ wurden.

c) Damit ist das neue Recht für den Angeklagten günstiger als das Tatzeitrecht. Der Angeklagte ist wegen des Besitzes von 29,15 g Marihuana zum Eigenkonsum wegen Unterschreitung des Schwellenwertes nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 KCanG nicht nach dieser Vorschrift strafbar.

2. Die Prüfung des Revisionsgerichts umfasst auf die allgemeine Sachrüge hin jedoch auch die Frage, ob das Recht auf den festgestellten Sachverhalt richtig angewendet worden ist und ob die Urteilsfeststellungen hierfür eine tragfähige Grundlage bieten (BGHSt 14, 162 = NJW 1960, 1397; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 337 Rn. 21 m.w.N.).

a) Der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff ist unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten auf seine Strafbarkeit hin zu untersuchen. Der Ausgangspunkt der Prüfung ist dabei die prozessuale Tat im Sinne des § 264 StPO, die damit auch die Grenzen der tatrichterlichen Kognitionspflicht bestimmt (BGH, Urt. v. 14. November 2024 – 3 StR 189/24, juris Rn. 52). Die Kognitionspflicht gebietet es, dass der – durch die zugelassene Anklage abgegrenzte – Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird, wobei das Tatgericht alle in Betracht kommenden Strafvorschriften – ohne Bindung an die in Anklage und Eröffnungsbeschluss aufgeführten Strafnormen – zu prüfen hat (vgl. nur BGH, Urt. v. 5. November 2024 – 5 StR 599/23, juris Rn. 31; BGHSt 22, 105 (106) = NJW 1968, 901 (902); BGHSt 32, 84 (85) = NStZ 1984, 129; BGH, Urt. v. 29. Oktober 2009 – 4 StR 239/09 = NStZ 2010, 222 (223); BGH, Urt. v. 24. Oktober 2013 – 3 StR 258/13 = NStZ-RR 2014, 57; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 264 Rn. 27 m.w.N.).

b) Dies umfasst bei der Dauerstraftat des Besitzes auch die Handlungen zur Begründung der Sachherrschaft über das Cannabis wie den Erwerb oder das Sich-Verschaffen. Denn diese Handlungsformen stellen einen tatbestandserheblichen Tatbeitrag zum Dauerdelikt des Besitzes dar und befinden sich dazu in einer sachlich-rechtlichen Idealkonkurrenz nach § 52 StGB (Fischer, StGB, 72. Aufl., Vorbem. §§ 52 ff. Rn. 60; Weber/Kornprobst/Maier/Weber, BtMG, 6. Aufl., Vorbem. §§ 29 ff. Rn. 577). Damit handelt es sich auch um dieselbe prozessuale Tat nach § 264 StPO (zum Verhältnis zwischen prozessualem und materiell-rechtlichem Tatbegriff BGH, Beschl. v. 24. Mai 2022 – 2 StR 394/21, juris Rn. 11 m.w.N.), sodass sich die tatrichterliche Kognitionspflicht (und die Feststellung einer Verletzung derselben) auch auf solche Tatbeiträge erstreckt (vgl. BGH, Urt. v. 26. September 2024 – 4 StR 115/24, juris Rn. 18).

3. Eine Strafbarkeit wegen des Erwerbs oder der Entgegennahme von Cannabis nach dem zum Tatzeitpunkt geltenden § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG scheidet wegen des lex-mitior-Grundsatzes nach § 2 Abs. 3 StGB aus. Die durch das KCanG geschaffene neue Rechtslage ist wiederum die gegenüber dem Tatzeitrecht für den Angeklagten günstigere Rechtslage.

a) Der Erwerb und die Entgegennahme ist nun in § 34 Abs. 1 Nr. 12 KCanG geregelt. Nach dieser Vorschrift können nach Nr. 12a) bis zu 25 g pro Tag und nach Nr. 12b) bis zu 50 g im Monat straffrei erworben beziehungsweise entgegengenommen werden. Zwar liegt die dem Angeklagten zugeordnete Menge von 29,15 g Marihuana über der Grenze der täglich straffrei erwerb- und entgegennehmbaren Menge nach § 34 Abs. 1 Nr. 12a) KCanG, aber unter dem Schwellenwert nach § 34 Abs. 1 Nr. 12b) KCanG.

Es wurden keine Feststellungen dazu getroffen, ob die dem Angeklagten zugeordnete Menge durch diesen an einem Tag erworben oder entgegengenommen wurden oder nicht. Dies kann hier auch dahinstehen, da jedenfalls der Schwellenwert nach § 34 Abs. 1 Nr. 12b) KCanG unterschritten wurde.

b) Einer Anwendung des lex-mitior-Grundsatzes stünde auch nicht die Überlegung entgegen, dass ein Erwerb beziehungsweise die Entgegenahme nur aus einer illegalen Quelle erfolgt sein könne, da zum Tatzeitpunkt keine legalen Erwerbsmöglichkeiten von Cannabis aus Eigenanbau oder Anbauvereinigungen (vgl. § 2 Abs. 3 KCanG) existierten. Eine Auslegung dahingehend, dass nur der Erwerb oder die Entgegennahme aus legalen Quellen straffrei sein soll, ist nicht mit dem Wortlaut des § 34 Abs. 1 Nr. 12 KCanG vereinbar. Dieser differenziert nicht danach, ob der Erwerb oder die Entgegennahme aus legalen oder illegalen Quellen erfolgt.

Eine Anwendung dieser Vorschrift nur auf den Erwerb aus legalen Quellen mit der Folge der Strafbarkeit auch bei Unterschreiten der Schwellenwerte des § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 12 KCanG würde dem Grundsatz „nullum crimen sine lege“ (Keine Strafe ohne Gesetz – Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) widersprechen. Denn die Zufügung eines zusätzlichen Tatbestandsmerkmals in eine Strafausschließungsvorschrift hätte eine verfassungswidrige Ausdehnung der Strafbarkeit zur Folge. Unterhalb der Schwellenwerte – wobei es für den hier zu entscheidenden Fall nicht auf die Einordung als strafrechtliche Freigrenze (vgl. BGH, Beschl. v. 12. Juni 2024 – 1 StR 105/24, juris Rn. 22 ff. mit zust. Bespr. Lichtenthäler, FD-StrafR 2024, 817914) oder Freibetrag (BGH, Beschl. v. 24. April 2024 – 4 StR 50/24, juris Rn. 13 ff.) ankommt – liegt eine sog. Bereichsausnahme des Tatbestandes vor (Patzak/Fabricius, BtMG, 11. Aufl., KCanG, § 34 Rn. 170), was dogmatisch einem Strafausschließungsgrund gleichkommt.

4. Ein Verschaffen von Cannabis ist jedoch auch nach der neuen Rechtslage nach § 34 Abs. 1 Nr. 11 KCanG strafbar, ohne dass dort – wie bei § 34 Abs. 1 Nr. 12 KCanG – Schwellenwerte enthalten sind.

a) Der Gesetzgeber hat die Tathandlungen des § 34 Abs. 1 KCanG ausdrücklich an die Begrifflichkeiten des Betäubungsmittelgesetzes angelehnt (BT-Drs. 20/8704, S. 94; BGH, Beschl. v. 7. August 2024 – 3 StR 278/24, juris Rn. 7). Damit ist der Ausgangspunkt zur Bestimmung des Bedeutungsgehaltes der Tathandlung des Verschaffens nach § 34 Abs. 1 Nr. 12 KCanG die betäubungsmittelrechtliche Auslegung der Verschaffenshandlung nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG. Ein Sich-Verschaffen liegt im Sinne des BtMG vor, wenn der Täter die tatsächliche Verfügungsgewalt über ein Betäubungsmittel auf andere Weise als beim Erwerb oder dem Entgegennehmen erlangt, also ohne Rechtsgeschäft, insbesondere auf strafbarem Weg durch Diebstahl, Unterschlagung, Betrug, Raub oder (räuberische) Erpressung (Patzak/Fabricius, BtMG, 11. Aufl., KCanG, § 34 Rn. 161; BeckOK-BtMG/Hollering/Köhnlein, Stand: 15. September 2024, KCanG, § 34 Rn. 215.2; MK-StGB/O?lakc?o?lu, BtMG, 4. Aufl., § 29 Rn. 998, 1000; Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl., § 29 Rn. 1258). Deshalb ist bei der Übertragung des Bedeutungsgehalts auf das KCanG davon auszugehen, dass unter dem Sich-Verschaffen im Sinne der § 34 Abs. 1 Nr. 11 KCanG ein den Erwerb und die Entgegennahme ausschließendes sonstiges Sich-Verschaffen wie in § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtmG zu verstehen ist, auch um ein Leerlaufen der Schwellenwerte des § 34 Abs. 1 Nr. 12 KCanG zu vermeiden (vgl. hierzu Weiß, wistra 2024, 225, 227).

b) Zur Frage, auf welche Art und Weise der Angeklagte in den Besitz des Marihuanas gekommen ist, wurden keine Feststellungen getroffen, sodass insbesondere auch keine Anhaltspunkte für ein etwaiges strafbares Erlangen der Verfügungsgewalt über das Marihuana durch Diebstahl, Unterschlagung, Betrug, Raub oder (räuberische) Erpressung gegeben ist. Nach Überzeugung des Senats ist hierzu auch bei einer weiteren Verhandlung keine weitere Aufklärung mehr zu erwarten, sodass nicht von einem Verschaffen im Sinne von § 34 Abs. 1 Nr. 11 KCanG auszugehen ist.“

Das OLG hat sich dann auch noch mit einer Strafbarkeit nach § 261 StGB wegen Geldwäsche befasst. Insoweit verweise ich auf den verlinkten Volltext und stelle hier nur den dazu vorliegenden Leitsatz des OLG vor, der lautet:

Der Anwendungsbereich des § 261 StGB ist dahingehend einzuschränken, dass der Erwerb und Besitz von Cannabis unterhalb der Schwellenwerte von § 34 Abs. 1 Nrn. 1, 12 KCanG nicht zu einer Geldwäschestrafbarkeit führt. Eine solche teleologische Reduktion des § 261 StGB ist erforderlich, um die Entkriminalisierungsabsicht des Gesetzgebers zu beachten.