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Kollision Pkw und Bahn wegen offener Schranken, oder: Bahnbetreiber haftet i..d.R. allein

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By Feuermond16 – Own work

Im zweiten Posting stellt ich das OLG Celle, Urt. v. 31.01.2023 – 14 U 133/22. In der – umfangreich begründeten – Entscheidung geht es um Schadensersatz nach einem Bahnunfall. Zugrunde liegt dem Urteil folgender Sachverhalt:

„Die am pp. 1952 geborene Klägerin nimmt die Beklagten als Gesamtschuldner auf Schadensersatz und Schmerzensgeld aus einem Schienenbahnunfall in Anspruch.

Am Freitag, den 02. August 2019, befuhr die Klägerin auf dem Weg zum Zahnarzt mit ihrem Pkw Opel Corsa, pp., in R.-E. die B. Straße Richtung Bpp. Gegen 10:42 Uhr erreichte sie den Bahnübergang in Höhe des Bahnkilometers pp. der Eisenbahnstrecke von H. O. nach R., Streckennummer pp.

Der Übergang führte über die eingleisige nicht elektrifizierte Bahnlinie. Dort galt in beiden Fahrtrichtungen eine Höchstgeschwindigkeit für Züge von 120 km/h. Der Bahnübergang war gesichert mit Andreaskreuz, Halbschranken auf beiden Seiten und einer Lichtzeichenanlage. Verbaut war eine sog. Bahnübergangssicherungsanlage (künftig auch: BÜSA) der Fa. S. und B. mit Einheits-Bahnübergangstechnik (EBÜT) aus den 1980-er Jahren. Diese BÜSA wurde nicht vom Fahrdienstleiter oder Schrankenwärter bedient, sondern durch Überfahren eines Einschaltkontaktes durch den Zug aktiviert. Der Kontakt war aus Richtung H. O. kommend am Bahnkilometer pp. angebracht. Wenn beim Überfahren dieses Kontaktes eine Störung auftrat, wurde diese nicht dem Triebwagenführer angezeigt, sondern lief bei dem zuständigen Fahrdienstleiter in R. auf, der dann den Zugführer über Funk verständigen musste.

Dort waren am 02. August 2019 gegen 10:42 Uhr aufgrund einer technischen Störung die Schranken offen, die Lichtanlage war außer Funktion. Zugleich funktionierte auch die Noteinschaltung nicht.

Die Bahnstrecke wurde zu dieser Zeit befahren in Richtung R. von der pp.Bahn (pp.), RB pp., Zugnummer pp., gesteuert von dem Zugführer und Zeugen K. B. Er näherte sich dem oben genannten Bahnübergang mit einer Geschwindigkeit von etwa 116 km/h. Dabei war dem Zugführer bis zu diesem Zeitpunkt der Ausfall der Schranken und der Signale nicht bekannt. Zuständiger Fahrdienstleiter für den Übergang war Herr R. P., der sich in seinem Kontrollraum in R. befand. Ca. 175 m vor dem Übergang löste der Zeuge B. eine Schnellbremsung aus, nachdem er die offenstehenden Schranken bemerkt hatte. Der RB pp. wurde daraufhin etwas langsamer, fuhr beim Erreichen des Übergangs aber immer noch 96 km/h schnell. Zwischen den Parteien ist streitig, ob und ggfs. wann und wie lange der Zeuge B. zusätzlich das Makrofon, die Hupe des Zuges, betätigt hat.

Auf dem Bahnübergang kam es zur Kollision zwischen dem RB pp. und dem von der Klägerin gesteuerten Pkw Opel Corsa. Das Auto wurde vom Zug auf der Beifahrerseite erfasst und zunächst durch die Luft gegen zwei dort abgestellte DB-Fahrzeuge geschleudert, ehe es sich teilweise um die eigene Achse drehte und erheblich deformiert und beschädigt in umgekehrter Fahrtrichtung zwischen den DB-Fahrzeugen und dem Schrankenantrieb zum Stehen kam.

Zur Zeit des Unfalls befanden sich die beiden Mitarbeiter B. K. und M. W. der Beklagten zu 2) im Bereich des Bahnübergangs.

Die Klägerin wurde bei dem Zusammenstoß schwer verletzt. Sie musste von Feuerwehrleuten aus dem Fahrzeugwrack ihres Pkw befreit werden. Die Klägerin erlitt bei dem Unfall ein Polytrauma mit gedecktem Schädelhirntrauma und multiple Kontusionsblutungen rechts frontal und temporal, weiter eine Rippenserienfraktur rechts, mit traumatischem Pneumohämatothorax rechts, eine ausgedehnte Rissquetschwunde am distalen Oberarm rechts, eine Radiusköpfchenfraktur mit Gelenkbeteiligung und knöcherner Absprengung am Olekranon rechts (Ellenbogenhöcker an der Spitze des Ellenbogens) und eine Milzkontusion. Die Olekranon-Fraktur wurde noch am Unfalltag operativ versorgt. Die Klägerin wurde vom 02. August 2019 bis 26. August 2019 im Krankenhaus M. stationär behandelt. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus war sie bis zum 17. September 2019 zu einer Rehabilitation in einer Klinik in Bad O. Danach konnte sie in ihre eigene Wohnung entlassen werden.

Die Beklagte zu 1) zahlte außergerichtlich auf das Schmerzensgeld 4.000,00 € an die Klägerin.“

Das LG hat die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 56.000,00 €, zur Zahlung weiterer 443,98 € sowie 2.561,83 € vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt, festgestellt, dass die Beklagten der Klägerin auch zum Ersatz zukünftiger materieller und immaterieller Schäden verpflichtet sind und die Klage im Übrigen hinsichtlich des begehrten Haushaltsführungsschadens überwiegend abgewiesen. Dagegen die Berufungen der Beklagten und der Klägerin.

Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg, die der Klägerin war hingegen erfolgreich. Ich beschränke mich hier auf die (amtlichen) Leitsätze der Entscheidung, den Rest bitte im verlinkten Volltext selbst lesen:

  1. Bei einem Zusammenstoß von Kfz und Bahn infolge geöffneter Schranken haftet der Bahnbetreiber im Grundsatz alleine. Eine Mithaftung auf Seiten des beteiligten Pkws kommt nur dann in Betracht, wenn der herannahende Zug für den Kfz-Fahrer erkennbar gewesen ist.
  2. Die Beweislast für die optische und/oder akustische Erkennbarkeit eines herannahenden Schienenfahrzeugs für den Straßenverkehr einschließlich der Wahrnehmbarkeit akustischer Warnsignale, hier für ein rechtzeitiges Betätigen des Makrofons durch den Zugführer, liegt bei den beteiligten Eisenbahnunternehmen.
  3. Es liegt grundsätzlich ein erhebliches Organisationsverschulden des für die Bahnstrecke verantwortlichen Unternehmens der Deutschen Bahn vor, wenn es an einem Bahnübergang in weniger als einem Monat zu 15 Störungsfällen und schließlich zu einer Kollision zwischen Bahn und Pkw wegen der defekten Bahnübergangssicherungsanlage (BÜSA) deswegen kommt, weil bis zur Klärung der Ursache der Störungsserie keine zusätzlichen Sicherungsmaßnahmen für den betroffenen Bahnübergang getroffen worden sind.
  4. Zur Erhöhung des Schmerzensgeldes aufgrund eines nicht nachvollziehbaren Regulierungsverhaltens (hier: Komplettverweigerung bei erheblicher Mitverantwortung für ein Unfallgeschehen trotz schwerer Verletzungen der Geschädigten).

Beim Elektroroller explodiert die ausgebaute Batterie, oder: Haftet der Halter?

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Und heute dann zwei zivilgerichtliche Entscheidungen.

Zunächst hier das zu BGH, Urt. v. 23.01.2023 – VI ZR 1234/20 – zur Haftun des Halters eines Elektrorollers, wenn dessen ausgebaute Batterie bei einer Inspektion während des Aufladens explodiert und eine Werkstatt in Brand setzt. Geklagt hatte hier der Gebäudeversicherer gegen die Haftpflichtversicherung des Elektrorollers. Der Halter hatte den zur Inspektion in die Werkstatt gebracht, die bei der Klägerin versichert war. Ein Mitarbeiter des Werkstattinhabers hatte die Batterie aus dem Rollen genommen, um sie aufzuladen. Dabei erhitzte sich diese so stark, dass er sie vom Stromnetz trennen musste und sie zur Abkühlung auf den Boden der Werkstatt legte. Kurz darauf explodierte dann der Akku und setzte das Gebäude in Brand.

LG und OLG haben die Klage abgewiesen. Die Revision hatte dann beim BGH keinen Erfolg:

„1. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zutreffend angenommen, dass die Batterie nicht im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG bei dem Betrieb des Elektrorollers explodierte.

a) Voraussetzung des § 7 Abs. 1 StVG ist, dass eines der dort genannten Rechtsgüter „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ verletzt bzw. beschädigt worden ist. Dieses Haftungsmerkmal ist entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Denn die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeugs erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird; die Vorschrift will daher alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist demgemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, das heißt, wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist. Erforderlich ist aber stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll, das heißt, die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist. Für die Zurechnung der Betriebsgefahr kommt es damit maßgeblich darauf an, dass die Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht (vgl. Senatsurteile vom 20. Oktober 2020 – VI ZR 319/18, VersR 2021, 597 Rn. 7; – VI ZR 374/19, DAR 2021, 87 Rn. 7; – VI ZR 158/19, NJW 2021, 1157 Rn. 7 mAnm Makowsky, JR 2021, 386; jeweils mwN).

b) Zwar ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts der Umstand, dass sich der Elektroroller und die Batterie zur Inspektion in einer Werkstatt befanden, für die Frage der Haftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG unerheblich. Denn dass Dritte durch den Defekt einer Betriebseinrichtung eines Kraftfahrzeuges an ihren Rechtsgütern einen Schaden erleiden, gehört zu den spezifischen Auswirkungen derjenigen Gefahren, für die die Haftungsvorschrift des § 7 StVG den Verkehr schadlos halten will. Dabei macht es rechtlich keinen Unterschied, ob der Brand unabhängig vom Fahrbetrieb selbst vor, während oder nach einer Fahrt eintritt. Wollte man die Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG auf Schadensfolgen begrenzen, die durch den Fahrbetrieb selbst und dessen Nachwirkungen verursacht worden sind, liefe die Haftung in all den Fällen leer, in denen unabhängig von einem Betriebsvorgang allein ein technischer Defekt einer Betriebseinrichtung für den Schaden eines Dritten ursächlich geworden ist. Bei der gebotenen wertenden Betrachtung ist das Schadensgeschehen jedoch auch in diesen Fällen durch das Kraftfahrzeug selbst und die von ihm ausgehenden Gefahren entscheidend (mit)geprägt worden. Hierzu reicht es aus, dass der Brand oder dessen Übergreifen in einem ursächlichen Zusammenhang mit einer Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeuges steht (vgl. die nach Verkündung des Berufungsurteils ergangenen Senatsurteile vom 20. Oktober 2020 – VI ZR 319/18, VersR 2021, 597 Rn. 8 [schwer beschädigtes und nicht fahrbereites Fahrzeug in Lagerhalle]; – VI ZR 374/19, DAR 2021, 87 Rn. 8 ff. [in Werkstattgebäude zur Reparatur aufgebockter LKW]; – VI ZR 158/19, NJW 2021, 1157 Rn. 13 ff. [zur TÜV-Untersuchung in Werkstattgebäude abgestellter LKW]).

c) Allerdings ist nicht festgestellt – und die Revision zeigt dazu auch keinen übergangenen Vortrag auf -, dass die Erhitzung und die nachfolgende Explosion der Batterie bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einer Betriebseinrichtung im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG standen. Denn zu diesem Zeitpunkt war die Batterie bereits aus dem Elektroroller ausgebaut und hatte zu diesem keine Verbindung mehr. Bei dieser Sachlage besteht kein Unterschied zu der Situation, in der eine zuvor nicht im Elektroroller befindliche Batterie dort eingebaut werden soll und zu diesem Zweck vorher aufgeladen wird. In diesen Fällen ist die Batterie nicht mehr bzw. noch nicht Teil der Betriebseinrichtung.

Weiter ist nicht festgestellt – und die Revision zeigt auch dazu keinen übergangenen Vortrag auf -, dass die Explosion der Batterie in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Betriebsvorgang stand (vgl. dazu Senatsurteil vom 26. März 2019 – VI ZR 236/18, NJW 2019, 2227 Rn. 9). Allein der Umstand, dass sich die Batterie zuvor im Elektroroller befand und in diesem entladen wurde, begründet nicht den erforderlichen Zurechnungszusammenhang.

2. Es bedarf daher keiner Klärung, ob die von der Revision angegriffenen Erwägungen des Berufungsgerichts zur möglichen Verursachung des Brandes durch ein schadhaftes Ladegerät und zur bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit des Elektrorollers revisionsrechtlicher Prüfung standhalten würden.“

Befangenheit III: Reicht Arzt-Patienten-Verhältnis?, oder: Reicht auch in „Nichtarzthaftungssachen“

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Die dritte Entscheidung stammt dann auch aus dem Zivilrecht, und zwar aus einem familiengerichtlichen Verfahren.

Gestritten wird im Unterhalt für ein aus einer außerehelichen Beziehung hervorgegangenes Kind. Der Antragsgegner ist Zahnarzt. Der Richter teilte am 11.11.2022 den Beteiligten mit, dass er selbst Patient beim Antragsgegner ist und forderte die Beteiligten zur Stellungnahme auf. Mit Schriftsatz vom 18.11.2022 erklärte die Antragstellervertreterin, dass sie beantrage, dass der Richter für befangen erklärt werde und die Zuständigkeit wechsle. Mit Vermerk vom 09.01.2023 leitete der Abteilungsrichter die Akte weiter zur Prüfung des Antrags „im Hinblick auf die bedenkliche Gemengelage im Hinblick auf das vertrauliche Arzt-Patient-Verhältnis“.

Das AG hat im AG Schwetzingen, Beschl. v. 23.01.2023 – 1 F 228/22 – die Besorgnis der Befangenheit bejaht:

„Auch inhaltlich ist die Ablehnung gerechtfertigt. Es liegt ein Grund vor, der im Sinne von § 113 Abs. 1 S. 1 FamFG iVm § 42 Abs. 2 ZPO geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen.

Dabei muss es sich um einen objektiven Grund handeln, der vom Standpunkt des Ablehnenden aus die Befürchtung erwecken kann, der Richter stehe der Sache nicht unvoreingenommen und damit nicht unparteiisch gegenüber. Dabei ist nicht entscheidend, ob der Richter tatsächlich befangen ist oder sich selbst befangen fühlt. Entscheidend ist, ob ein Prozessbeteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit eines Richters zu zweifeln (BGH, Beschluss vom 14. März 2003 – IXa ZB 27/03 –, Rn. 6, juris).

Das Arzt-Patient-Verhältnis zwischen dem Richter und dem Antragsgegner ist als eine persönliche und rechtliche Beziehung zu qualifizieren, welche im Ergebnis ausreichend ist, für einen objektiven Beobachter Anlass zu Zweifeln zu geben.

Die Rechtsprechung sieht die Besorgnis der Befangenheit beispielsweise in Arzthaftungsprozessen in der Regel als berechtigt, wenn der Richter selbst Patient des Arztes war oder ist (Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 12. Januar 2012 – 5 W 36/11; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Juni 2019 – 13 W 22/19; OLG Koblenz, Beschluss vom 15. Februar 2012 – 5 U 1011/11). Der Grund hierfür wird darin gesehen, dass zwischen dem Arzt und seinem Patienten immer ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, nicht nur in Einzelfällen (Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 12. Januar 2012 – 5 W 36/11 –, Rn. 6, juris). Dies sei nur bei einmaligen, lange zurückliegenden oder weniger bedeutenden Maßnahmen nicht der Fall (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Juni 2019 – 13 W 22/19, Rn. 15, juris). Außerdem sei es nicht abwegig, wenn ein Beteiligter befürchte, der Richter könne Angst haben, ein negativer Ausgang des Prozesses für den Arzt könnte seine zukünftige Behandlung beeinflussen (OLG Koblenz, Beschluss vom 15. Februar 2012 – 5 U 1011/11 –, Rn. 3, juris).

All diese Überlegungen sind nicht nur im Arzthaftungsprozess von Bedeutung, sondern auch in sonstigen Rechtsstreitigkeiten, zumindest solchen mit erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung. Für die Frage, ob zwischen dem Arzt und dem Richter ein besonderes Verhältnis besteht, ist es allenfalls am Rande erheblich, ob Gegenstand des Verfahrens die ärztliche Tätigkeit ist oder nicht. Die Tatsache, dass der Patient seine gesundheitlichen Belange dem Arzt anvertraut und sich mit diesen in die Hände des Arztes begibt, ist in jedem Fall gegeben. Ebenso ist die Befürchtung, der Richter könne Folgen für seine eigene Behandlung besorgen, im Unterhaltsverfahren nicht weniger berechtigt.

Daher kann auch außerhalb des Arzthaftungsprozesses davon ausgegangen werden, dass ein Arzt-Patienten-Verhältnis zwischen einem Verfahrensbeteiligten und dem Richter eine Besorgnis der Befangenheit regelmäßig begründet.

Aus den Umständen des Einzelfalles ergibt sich nichts anderes. Der Richter hat angegeben, dass er seit etlichen Jahren regelmäßig zu Untersuchungen und Zahnreinigung in die Praxis des Antragsgegners geht. Auch wurde über vertrauliche gesundheitliche Belange gesprochen. Es besteht also eindeutig ein Vertrauensverhältnis. Auch hat der Rechtstreit für den Antragsgegner erhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Die Unterhaltspflicht für ein Kind belastet ihn in erheblichem Umfang von langer Dauer.“

Befangenheit II: Vorbefassung der Ehefrau des Richters, oder: Teilnahme am „einstimmigen Beschluss“

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In der zweiten Entscheidung, dem BGH, Beschl. v. 09.02.2023 – I ZR 142/22 – geht es auch um die Besorgnis der Befangenheit, und zwar um die bei Vorbefassung der Ehefrau des Richters.

Ergangen ist der Beschluss in einem Zivilverfahren, in dem sich die Parteien um eine Provision streiten. Die Klage hatte beim LG Erfolg. Die Berufung des Beklagten wurden vom OLG nach entsprechendem Hinweis einstimmig zurückgewiesen. Der Beklagte hat Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH eingelegt. Dort ist aber einer der zuständigen Richter der Ehemann einer der Richterinnen, die an der OLG-Entscheidung beteiligt waren. Der BGH-Richter hat sich selbst abgelehnt. Die Parteien haben ihn ebenfalls wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Der BGH ist dem gefolgt:

„II. Die Selbstablehnung des Richters am Bundesgerichtshof Dr. L. und das gegen ihn gerichtete Ablehnungsgesuch der Klägerin sind begründet.

1. Nach § 42 Abs. 2 ZPO findet die Ablehnung eines Richters wegen der Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Tatsächliche Befangenheit oder Voreingenommenheit ist nicht erforderlich; es genügt schon der „böse Schein“, das heißt der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität (BVerfG, NJW 2012, 3228 [juris Rn. 13]). Entscheidend ist, ob ein Prozessbeteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit eines Richters zu zweifeln. Dabei kommen nur objektive Gründe in Betracht, die aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit oder der Unabhängigkeit des abgelehnten Richters aufkommen lassen (BGH, Beschluss vom 13. Januar 2016 – VII ZR 36/14, NJW 2016, 1022 [juris Rn. 9]; Beschluss vom 20. November 2017 – IX ZR 80/15, juris Rn. 3; Beschluss vom 21. Juni 2018 – I ZB 58/17, NJW 2019, 516 [juris Rn. 10]). Solche Zweifel können sich aus dem Verhalten des Richters innerhalb oder außerhalb des konkreten Rechtsstreits, aus einer besonderen Beziehung des Richters zum Gegenstand des Rechtsstreits oder zu Prozessbeteiligten (vgl. BGH, NJW 2019, 516 [juris Rn. 10] mwN) oder – wie vorliegend – aus nahen persönlichen Beziehungen zwischen an derselben Sache beteiligten Richtern ergeben.

2. Nach diesen Maßstäben sind aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters am Bundesgerichtshof Dr. L. gerechtfertigt.

a) Allerdings stellt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Mitwirkung des Ehegatten eines Rechtsmittelrichters an der angefochtenen Entscheidung keinen generellen Ablehnungsgrund gemäß § 42 Abs. 2 ZPO im Hinblick auf dessen Beteiligung an der Entscheidung im Rechtsmittelverfahren dar (BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2003 – II ZB 31/02, NJW 2004, 163 [juris Rn. 7]; Beschluss vom 17. März 2008 – II ZR 313/06, NJW 2008, 1672; vgl. auch BGH, Beschluss vom 26. August 2015 – III ZR 170/14, MDR 2016, 49 [juris Rn. 3]). Diese Auffassung hat der Bundesgerichtshof damit begründet, dass eine solche generalisierende, allein auf die Tatsache des ehelichen Verhältnisses abstellende Betrachtung im Ergebnis auf dem Umweg über § 42 ZPO zu einer unzulässigen Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 41 ZPO führen würde, da sie faktisch einem Ausschluss kraft Gesetzes gleichkäme (BGH, NJW 2004, 163 [juris Rn. 7]). Die Vorschrift des § 41 ZPO zähle die Ausschließungsgründe abschließend auf. Schon wegen der verfassungsmäßigen Forderung, den gesetzlichen Richter im voraus möglichst eindeutig zu bestimmen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), sei die Vorschrift einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich (BGH, NJW 2004, 163 [juris Rn. 6]). Diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat im Schrifttum Kritik erfahren (Feiber, NJW 2004, 650 f.; M. Vollkommer, EWiR 2004, 205, 206; Zöller/G. Vollkommer, ZPO, 34. Aufl., § 42 Rn. 13a mwN).

b) Vorliegend muss nicht entschieden werden, ob an dieser Rechtsprechung uneingeschränkt festgehalten werden kann. Jedenfalls liegt im Streitfall ein Grund vor, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit von Richter am Bundesgerichtshof Dr. L. zu rechtfertigen.

aa) Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass es den Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters begründen kann, wenn seine Ehefrau nicht lediglich als Mitglied eines Kollegialgerichts an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt, sondern diese als Einzelrichterin allein verantwortet hat. Denn aus Sicht der ablehnenden Partei kann die Alleinverantwortung der Ehefrau des abgelehnten Richters für das angefochtene Urteil zu einer Solidarisierungsneigung des abgelehnten Richters führen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Februar 2020 – III ZB 61/19, NJW-RR 2020, 633 [juris Rn. 13]). Letztere ist nicht in gleichem Maße zu erwarten, wenn der Ehegatte des abgelehnten Richters lediglich als Mitglied eines Kollegialgerichts an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat (vgl. BGH, NJW 2004, 163 [juris Rn. 8]; BGH, NJW-RR 2020, 633 [juris Rn. 13]; Fellner, MDR 2020, 777, 778).

bb) Im Streitfall hat die Ehefrau des Richters am Bundesgerichtshofs Dr. L. an einem die Berufung der Beklagten zurückweisenden Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO mitgewirkt, der nach der gesetzlichen Regelung nur einstimmig gefasst werden kann. Sie hat damit nicht allein als – möglicherweise überstimmtes – Mitglied eines Kollegiums, sondern infolge der Einstimmigkeit des gefassten Beschlusses in nach außen erkennbarer Weise die Verantwortung für die angefochtene Entscheidung mit übernommen. Dieser Fall ist nicht anders zu beurteilen als der Fall, dass der Ehegatte des abgelehnten Richters die angefochtene Entscheidung als Einzelrichter getroffen hat. Ein solcher Sachverhalt begründet ebenfalls die Besorgnis, dass der abgelehnte Richter der Sache nicht unvoreingenommen gegenübersteht.

cc) Da nach § 42 Abs. 3 ZPO das Ablehnungsrecht in jedem Fall beiden Parteien zusteht, steht dem Erfolg des Ablehnungsgesuchs der Klägerin nicht entgegen, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts zu ihren Gunsten ausgefallen ist. Die Klägerin hat dennoch Veranlassung, Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters am Bundesgerichtshof Dr. L. zu hegen. Auch wenn es näher liegen mag, dass die in der Vorinstanz unterlegene Beklagte eine Solidarisierung des abgelehnten Richters mit seiner Ehefrau befürchtet (vgl. BGH, NJW-RR 2020, 633 [juris Rn. 13]), kann auch die Klägerin die nachvollziehbare Besorgnis hegen, dass der abgelehnte Richter in dem Bestreben, seine Unvoreingenommenheit in dieser Sache zu zeigen, geneigt sein könnte, dem Begehren der Beklagten näherzutreten.

c) Eine Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBl. I S. 661) ist nicht veranlasst. Eine Abweichung gemäß § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist nicht gegeben, wenn die Rechtsauffassungen zwar nicht voll übereinstimmen, aber zum selben Ergebnis führen (BGH, Beschluss vom 6. Mai 1999 – V ZB 1/99, BGHZ 141, 351 [juris Rn. 20] mwN). So liegt es hier.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts stellt die Ehe zwischen einer an einem Revisionsgericht tätigen Richterin und einem Richter, der an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, „angesichts der Komplexität der Verfahren und der Intensität, mit der sich die für die Entscheidung zuständigen Richter mit dem vorinstanzlichen Urteil auseinandersetzen“, einen Grund dar, die Besorgnis der Befangenheit der Richterin, deren Ehepartner an der vorinstanzlichen Entscheidung mitgewirkt hat, zu rechtfertigen (BSG, Beschluss vom 18. März 2013 – B 14 AS 70/12 R, BeckRS 2013, 68558 Rn. 7). Nach dieser Rechtsprechung, die maßgeblich auf die Tätigkeit der abgelehnten Richterin oder des abgelehnten Richters an einem der obersten Gerichtshöfe des Bundes abstellt, wäre das Ablehnungsgesuch gegen den Richter am Bundesgerichtshof Dr. L. ebenfalls begründet.“

beA II: Vorübergehende technische Unmöglichkeit, oder: Unverzügliche Glaubhaftmachung ist erforderlich

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Und auch die zweite Entscheidung hat heute eine beA-Problematik zum Gegenstand. Der BGH hat im BGH, Beschl. v. 15.12.2022 – III ZB 18/22 – zur Frage der Unverzüglichkeit der Glaubhaftmachung bei vorübergehender technischer Unmöglichkeit im Sinne von § 130d Satz 2 und 3 ZPO Stellung genommen. Die Entscheidung ist schon etwas älter, ich hatte sie bisher übersehen. Aber man kann gerade im Hinblick auf § 130d ZPO als Anwalt nicht vorsichtig genug sein. Daher kann man auch jetzt noch über die Entscheidung berichten.

Nach dem Sachverhalt hatte das LG die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 6.904,17 EUR nebst Zinsen verurteilt. Gegen das der Beklagten am 20.11.2021 zugestellte Urteil hat diese am 19.12.2021 durch Einwurf der Berufungsschrift in den Briefkasten des OLG form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründung hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten am 20.12.2022 ebenfalls durch Einwurf in den Briefkasten des OLG eingereicht. Der Klägerin ist sodann mit Vorsitzendenverfügung vom 09.02.2022 eine Frist zur Berufungserwiderung gesetzt worden. Nachdem die Klägerin unter dem 10.02.2022 um Mitteilung gebeten hatte, ob die Berufungsbegründung gemäß § 130d ZPO als elektronisches Dokument eingereicht worden sei, ist die Beklagte mit Vorsitzendenverfügung vom 11.02.2022 unter Einräumung einer Stellungnahmefrist von zwei Wochen darauf hingewiesen worden, bei Setzung der Berufungserwiderungsfrist sei nicht aufgefallen, dass die Berufungsbegründung entgegen § 130d ZPO nicht als elektronisches Dokument eingereicht worden sei. Eine vorübergehende Unmöglichkeit (iSd § 130d Satz 2 und 3 ZPO) sei weder in der Berufungsbegründung noch unverzüglich danach glaubhaft gemacht worden. Bei dieser Sachlage sei die Berufung möglicherweise nicht formgerecht entsprechend § 520 Abs. 3 ZPO begründet worden. Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten hat daraufhin mit Schriftsatz vom 24.02.2022 eidesstattlich versichert, dass am 20.01.2022 nach dem Aufspielen eines Updates die „beA Client Security“ nicht mehr habe gestartet werden können. Diese habe erneut aufgespielt werden müssen, um die Störung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) zu beseitigen. Die Berufungsbegründung sei daher zur Fristwahrung als Brief in den Nachtbriefkasten des OLG eingelegt worden. Mit Beschluss vom 02.03.2022 hat das OLG die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen.

Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde der Beklagten, die keinen Erfolg hatte. Der BGh führt zu § 130d ZPO aus:

„….. Das Berufungsgericht hat den Zugang der Beklagten zur Berufungsinstanz jedoch nicht in unzumutbarer Weise erschwert. Die Auslegung und Anwendung von § 130d Satz 3 Halbsatz 1 ZPO ist rechtsfehlerfrei erfolgt. Insbesondere hat das Berufungsgericht den Rechtsbegriff „unverzüglich“ zutreffend im Sinne der in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB enthaltenen Legaldefinition als „ohne schuldhaftes Zögern“ ausgelegt. Entgegen der Auffassung der Beschwerde war das Berufungsgericht nicht gehalten, die Vorschrift des § 130d Satz 3 Halbsatz 1 ZPO nach ihrem Inkrafttreten während einer (weiteren) Übergangsfrist nicht oder nur „behutsam“ anzuwenden.

aa) Die Vorschrift des § 130d ZPO, die auf § 130a ZPO aufbaut, ist durch das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013 (BGBl. I 3786) eingeführt worden und gemäß Art. 26 Abs. 7 dieses Gesetzes mit Wirkung zum 1. Januar 2022 in Kraft getreten. § 130d Satz 1 ZPO sieht unter anderem eine Pflicht für alle Rechtsanwälte vor, Schriftsätze, Anträge und Erklärungen den Gerichten nur noch in elektronischer Form zu übermitteln. Die Einreichung in dieser Form ist eine Frage der Zulässigkeit und daher von Amts wegen zu beachten. Bei Nichtbeachtung ist die Prozesserklärung unwirksam. Auf die Einhaltung der elektronischen Form kann der Gegner weder verzichten noch sich rügelos einlassen (Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten, BT-Drucks. 17/12634, S. 27). Ist die Übermittlung des elektronischen Dokuments – wie im vorliegenden Fall – aus technischen Gründen vorübergehend unmöglich, darf der Nutzungspflichtige gemäß § 130d Satz 2 ZPO das Dokument ausnahmsweise nach den allgemeinen Vorschriften, das heißt in Papierform oder als Telefax, übermitteln. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Ursache für die vorübergehende technische Unmöglichkeit in der Sphäre des Gerichts oder in der des Einreichenden zu suchen ist (BT-Drucks. aaO). Um Missbrauch auszuschließen, bestimmt § 130d Satz 3 Halbsatz 1 ZPO allerdings, dass der Nutzungsberechtigte die vorübergehende technische Unmöglichkeit unaufgefordert schon bei der Ersatzeinreichung oder jedenfalls unverzüglich (ohne schuldhaftes Zögern) danach glaubhaft zu machen hat, wobei die Glaubhaftmachung möglichst gleichzeitig mit der Ersatzeinreichung erfolgen soll (BT-Drucks. aaO S. 28; BeckOK ZPO/von Selle, § 130d Rn. 5 [46. Edition, Stand: 1. September 2022]; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 19. Aufl., § 130d Rn. 3; siehe auch BGH, Beschluss vom 12. September 2022 – XII ZB 264/22, NJW 2022, 3647 Rn. 13 zu § 14b Abs. 1 Satz 3 FamFG).

bb) Diese Rechtslage musste dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten als Rechtsanwalt beim Inkrafttreten der Vorschrift am 1. Januar 2022 bekannt sein. Ein etwaiger Rechtsirrtum wäre schuldhaft und müsste von der Beklagten im Wege der Zurechnung nach § 85 Abs. 2 ZPO hingenommen werden. Der Prozessbevollmächtigte einer Partei muss alles ihm Zumutbare tun und veranlassen, damit die Frist zur Einlegung und Begründung eines Rechtsmittels gewahrt wird. In seiner Verantwortung liegt es, die gesetzlichen Formerfordernisse zu wahren (vgl. BGH, Beschluss vom 30. März 2022 – XII ZB 311/21, NJW 2022, 2415 Rn. 15). Der (fahrlässige) Rechtsirrtum eines Rechtsanwalts über die gesetzlichen Formerfordernisse für die Einlegung und Begründung eines Rechtsmittels vermag ihn nicht zu entlasten und rechtfertigt erst recht nicht die Gewährung einer Übergangsfrist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss ein Rechtsanwalt die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen (BGH aaO Rn. 16). Dazu zählen ohne jeden Zweifel die Vorschriften über den elektronischen Rechtsverkehr (§§ 130a, 130d ZPO).

cc) Vor diesem Hintergrund besteht keine Veranlassung, die Vorschrift des § 130d Satz 3 Halbsatz 1 ZPO nach dem Inkrafttreten der Norm für eine (weitere) Übergangszeit nicht oder nur „behutsam“ anzuwenden. Vielmehr hätte der Prozessbevollmächtigte der Beklagten der Vorschrift gerade im Hinblick auf die zum 1. Januar 2022 eingetretene Rechtsänderung eine erhöhte Aufmerksamkeit zukommen lassen müssen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass § 130d ZPO, obwohl er erst am 1. Januar 2022 in Kraft getreten ist, bereits durch das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013 in die Zivilprozessordnung eingefügt worden ist. Im Hinblick auf das Merkmal „unverzüglich“ hätte sich der Prozessbevollmächtigte der Beklagten für den sichersten Weg entscheiden müssen (vgl. Grüneberg/Grüneberg, BGB, 82. Aufl., § 280 Rn. 69). Dieser hätte darin bestanden, die Art der technischen Störung bereits bei der Einreichung der Berufungsbegründung in Schriftform oder unmittelbar danach glaubhaft zu machen. Dazu wäre er auch in der Lage gewesen, weil ihm die Probleme mit der Client Security des beA von Anfang an bekannt waren. Die mit Schriftsatz vom 24. Februar 2022 – fünf Wochen nach der Ersatzeinreichung der Berufungsbegründung und lediglich als Reaktion auf einen gerichtlichen Hinweis – erfolgte Glaubhaftmachung war nicht mehr „unverzüglich“, zumal nach dem Willen des Gesetzgebers die Glaubhaftmachung möglichst gleichzeitig mit der Ersatzeinreichung erfolgen und die Nachholung der Glaubhaftmachung auf diejenigen Fälle beschränkt sein soll, bei denen der Rechtsanwalt erst kurz vor Fristablauf feststellt, dass eine elektronische Einreichung nicht möglich ist und bis zum Fristablauf keine Zeit mehr verbleibt, die Unmöglichkeit darzutun und glaubhaft zu machen (BT-Drucks. aaO S. 28). Dies spricht dafür, den Zeitraum des unverschuldeten Zögerns eng zu fassen und ein wochenlanges Zuwarten regelmäßig als zu lang anzusehen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. September 2022 aaO Rn. 17).

b) Das Berufungsgericht hat auch den Anspruch der Beklagten auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK) nicht verletzt. Der Umstand, dass das Gericht den Formmangel im Sinne des § 130d Satz 1 ZPO zunächst übersehen hatte, vermag daran nichts zu ändern. Denn das Berufungsgericht hat auf die Anfrage der Klägerin nach der Wahrung der elektronischen Form seinen Irrtum korrigiert und die Beklagte auf den Formmangel unter Einräumung einer angemessenen Stellungnahmefrist hingewiesen. Dass das Gericht sodann die Berufung der Beklagten gemäß § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig verworfen hat, ist die zwingende Konsequenz aus der Nichteinhaltung der elektronischen Form und der verspäteten Glaubhaftmachung im Sinne des § 130d Satz 3 Halbsatz 1 ZPO.

c) Aus den vorgenannten Gründen scheidet auch ein Verstoß des Berufungsgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG aus. Eine Überraschungsentscheidung liegt offenkundig nicht vor.“