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StGB III: Qualifikation „besonders schwerer Raub“?, oder: Körperlich schwere Misshandlung/Todesgefahr?

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Und dann habe ich noch den schon etwas älteren BGH, Beschl. v. 23.01.2025 – 6 StR 569/24, der aber erst im Sommer auf der Homepage des BGH eingestellt worden ist. Thematik: Raub mit Todesfolge.

Das LG hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (Fall 1) sowie wegen gefährlicher Körperverletzung (fall 2) in Tateinheit mit Bedrohung  Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hatte teilweise Erfolg.

„1. Der (tateinheitliche) Schuldspruch wegen besonders schweren Raubes im Fall 1 der Urteilsgründe hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Nach den Feststellungen traf der alkoholisierte und unter dem Einfluss einer unbekannten Menge Tilidin und Kokain stehende Angeklagte zufällig den Nebenkläger, mit dem er eng befreundet war. Er begrüßte ihn freundlich und begleitete ihn. Unvermittelt und ohne äußeren Anlass geriet der Angeklagte in Wut, packte den Nebenkläger an Hals und Hosenbund und zerrte ihn in einen nahegelegenen Park. Dort riss er ihn zu Boden. Er warf ihm vor, „schlecht über ihn zu reden“ und mit der Polizei zu seinem Nachteil zusammenzuarbeiten. Sodann schlug und trat er mehrfach kraftvoll gegen den Kopf und den linken unteren Rippenbogen des Nebenklägers, um ihn zu erniedrigen. Anschließend riss er dem weiterhin am Boden liegenden Nebenkläger eine Goldkette vom Hals und eine Uhr vom Arm; ferner nahm er eine während der vorangegangenen Misshandlungen zu Boden gefallene Sonnenbrille des Geschädigten sowie Geld aus dessen Portemonnaie an sich, um die Sachen für sich zu behalten. Der Nebenkläger ließ die Wegnahme der Gegenstände vor dem Hintergrund der vorangegangenen Gewalttätigkeiten geschehen; dies wollte der Angeklagte. Durch die Schläge und Tritte erlitt der Nebenkläger eine Rippenserienfraktur links, einen hierdurch ausgelösten Spannungs-Pneumothorax, eine Fraktur des linken Augenhöhlenbodens sowie einen Bruch des linken Handgelenks. Aufgrund des durch die Rippenserienfraktur ausgelösten Pneumothorax bestand Lebensgefahr. Der Nebenkläger wurde sechs Tage stationär behandelt, leidet nach wie vor unter Schmerzen und ist in der Bewegung seines linken Armes eingeschränkt.

b) Diese Feststellungen ergeben nicht, dass der Angeklagte den Nebenkläger bei der Tat körperlich schwer misshandelt (vgl. § 250 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a StGB ) oder durch die Tat in die Gefahr des Todes (vgl. § 250 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b StGB ) gebracht hat.

aa) Die Qualifikation des § 250 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a StGB erfordert eine schwere körperliche Misshandlung bei der Tat. Das Tatbestandsmerkmal „bei der Tat“ bezieht sich auf die finale Verknüpfung von Nötigungsmittel und rechtswidriger Vermögensverfügung, durch die die Raubdelikte geprägt sind. Zwischen der Drohung mit oder dem Einsatz von Gewalt und der Wegnahme beim Raub muss eine finale Verknüpfung bestehen; Gewalt oder Drohung müssen das Mittel zur Ermöglichung der Wegnahme sein. An dem tatbestandlich vorausgesetzten Finalzusammenhang fehlt es, wenn die Drohung oder die Gewalt nicht als Nötigungsmittel zum Zweck der Wegnahme eingesetzt wird, sondern der Täter den Entschluss zur Wegnahme erst nach Abschluss dieser Handlung fasst (vgl. BGH, Urteil vom 20. April 1995 – 4 StR 27/95 , BGHSt 41, 123, 124 ; Beschlüsse vom 20. März 2024 – 6 StR 572/23 ,StV 2024, 505, 506; vom 18. Februar 2014 – 5 StR 41/14 , NStZ 2015, 156). Der Qualifikationstatbestand ist daher nur erfüllt, wenn die schwere körperliche Misshandlung zur Duldung der Wegnahme oder zumindest zur Beutesicherung verübt wird. Ein schlichter räumlichzeitlicher Zusammenhang zwischen einem Raub und einer schweren Misshandlung genügt hingegen nicht. Es reicht daher weder aus, dass die schwere Misshandlung dem Raub unmittelbar nachfolgt, noch dass sie – wie hier – dem Raub unmittelbar vorausgeht (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juni 2015 – 3 StR 193/15 , NStZ-RR 2015, 277; Urteil vom 25. März 2009 – 5 StR 31/09 , BGHSt 53, 234, 236 ).

bb) Den Feststellungen ist auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs nicht zu entnehmen, dass der Angeklagte die Tritte gegen Kopf und Oberkörper des Nebenklägers, die erhebliche und mit einer Lebensgefahr verbundene Verletzungen zur Folge hatten, als Mittel der Wegnahme eingesetzt hat. Sie ergeben, dass der Angeklagte den Nebenkläger massiv misshandelte, um ihn zu erniedrigen. Weiterhin ist festgestellt, dass der Nebenkläger die Wegnahme der Wertgegenstände vor dem Hintergrund der vorangegangenen Gewalttätigkeiten des Angeklagten duldete, der Angeklagte die Wirkung der zuvor – ohne Wegnahmeabsicht – angewendeten massiven körperlichen Gewalt bewusst als aktuelle Drohung mit erneuter Gewaltanwendung einsetzte und konkludent eine Wiederholung der Gewalthandlungen für den Fall des Widerstands in Aussicht stellte (vgl. BGH, Urteil vom 3. März 2021 – 2 StR 170/20 , Rn. 19). Mittel des Raubes war danach die konkludente Drohung mit erneuter Gewalt und nicht die zur Annahme der schweren Misshandlung im Sinne des § 250 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a StGB herangezogenen massiven Schläge und Tritte gegen Kopf und Oberkörper des Nebenklägers.

cc) Die Feststellungen ergeben auch nicht, dass der Angeklagte durch die Tat eine konkrete Gefahr des Todes im Sinne des § 250 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b StGB herbeigeführt hat. Insoweit gelten die Ausführungen zu § 250 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a StGB entsprechend.“

StGB II: Provokation durch den Geschädigten, oder: Minder schwere Körperverletzung mit Todesfolge?

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Als zweite StGB-Entscheidung kommt dann heute das BGH, Urt. v. 02.10.2025 – 3 StR 29/25.

Das LG hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt. Gegen das Urteil hat die Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Angeklagten eingelegt. Das Rechtsmittel hatte Erfolg:

„1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte, der in der Vergangenheit als Boxer und Ringer in der Mittelgewichtsklasse Kampfsport betrieben hatte, besuchte mit seiner Ehefrau ein Restaurant. Im Verlauf des Abends kommentierte der ebenfalls anwesende Geschädigte ein vom Angeklagten bestelltes Getränk mit den Worten, dieses tränken nur „Bauern“ oder „Idioten“. Der Angeklagte ging auf die Bemerkung nicht ein.

Der Geschädigte verließ in der Folge das Restaurant und kehrte später, wie vom Angeklagten erkannt, erheblich alkoholisiert zurück. Der Geschädigte trat an den Tisch des Angeklagten und dessen Ehefrau heran, an dem ein weiterer Zeuge saß. Dabei berührte er die Ehefrau des Angeklagten kurz im unteren Bereich ihrer sehr langen Haare. Daraufhin kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten, in deren Verlauf der Angeklagte aufstand und auf den Geschädigten zuging. Der Angeklagte war über das aufdringliche Verhalten des deutlich alkoholisierten Geschädigten verärgert. Er hielt diesem vor, er habe seine Ehefrau durch das Berühren ihrer Haare belästigt. Die Strafkammer hat nicht auszuschließen vermocht, dass der Geschädigte im Verlauf der verbalen Auseinandersetzung zu dem Angeklagten auf Russisch sinngemäß „Hurensohn“ sagte. Nachdem die verbale Auseinandersetzung noch kurze Zeit fortgesetzt worden war, schlug der Angeklagte den Geschädigten zweimal in kurzer Folge mit der Faust aus kurzer Distanz sehr wuchtig in das Gesicht.

Der Geschädigte fiel daraufhin ungebremst nach hinten, schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf und blieb regungslos liegen. Er erlitt durch die beiden Schläge beziehungsweise durch das Auftreffen auf dem Boden ein schweres Hirntrauma mit Einblutungen in die Hirnhaut und eine Fraktur des Schädels. Er verstarb wenige Tage später im Krankenhaus an den Folgen seiner Verletzungen.

2. Das Landgericht hat den Angeklagten der Körperverletzung mit Todesfolge schuldig gesprochen. Im Rahmen der Strafzumessung hat es einen minder schweren Fall nach § 227 Abs. 2 StGB i.V.m. § 213 Alternative 1 StGB analog bejaht. Die Strafkammer hat es für möglich gehalten, dass der Angeklagte die etwaige Bemerkung „Hurensohn“ auf sich bezogen habe und er auch hierdurch zu der Tat (mit-)veranlasst worden sei.

II.

Die wirksam auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat weitestgehend Erfolg. Die Begründung, mit der die Strafkammer einen minder schweren Fall entsprechend § 213 Alternative 1 StGB bejaht hat, hält sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Die Frage, ob von der Strafzumessungsregel des § 213 Alternative 1 StGB Gebrauch zu machen ist, ist revisionsrechtlich nur auf Rechtsfehler überprüfbar. Denn die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Das Revisionsgericht darf die der Entscheidung über das Vorliegen eines minder schweren Falles unterliegende Wertung nicht selbst vornehmen, sondern lediglich daraufhin überprüfen, ob dem Tatgericht insoweit ein Rechtsfehler unterlaufen ist (vgl. BGH, Urteile vom 4. April 2023 ? 1 StR 488/22, BGHR StGB § 213 Alternative 1 Beleidigung 11 Rn. 7; vom 21. März 2017 – 1 StR 663/16, NStZ 2019, 210 Rn. 12, jeweils mwN).

Den Anforderungen an eine Misshandlung oder schwere Beleidigung im Sinne des § 213 Alternative 1 StGB genügen grundsätzlich nur solche Provokationen, die auf der Grundlage aller dafür maßgebenden Umstände unter objektiver Betrachtung und nicht nur aus der Sicht des Täters als schwer zu beurteilen sind, wobei die Anforderungen nicht zu niedrig anzusetzen sind. Maßgebend ist dafür der konkrete Geschehensablauf unter Berücksichtigung von Persönlichkeit und Lebenskreis der Beteiligten, der konkreten Beziehung zwischen Täter und Opfer sowie der tatauslösenden Situation. Erforderlich ist deshalb stets eine Gesamtbetrachtung, in die alle Umstände einzubeziehen sind, die dem konkreten Einzelfall unter dem Gesichtspunkt der Provokation durch das spätere Tatopfer sein Gepräge geben (vgl. BGH, Urteile vom 4. April 2023 ? 1 StR 488/22, BGHR StGB § 213 Alternative 1 Beleidigung 11 Rn. 8; vom 21. März 2017 – 1 StR 663/16, BGHR StGB § 213 Alternative 1 Beleidigung 10 Rn. 15; Beschlüsse vom 8. Juli 2014 ? 3 StR 228/14, NStZ 2015, 218, 219; vom 21. Dezember 2010 ? 3 StR 454/10, NStZ 2011, 339, 340, jeweils mwN).

2. Eine solche Gesamtwürdigung lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Das Landgericht hat lediglich isoliert die unmittelbar tatauslösende Äußerung des Geschädigten in seine Betrachtung einbezogen, ohne sich überhaupt zur Erheblichkeit der Provokation zu verhalten. Dies war nach den Gesamtumständen nicht entbehrlich. Insbesondere hat es die ? vom Angeklagten wahrgenommen ? deutliche Alkoholisierung des bereits schwankenden Geschädigten nicht erkennbar bedacht, obgleich dieser Umstand zur Beurteilung des Schweregrads der Beleidigung bedeutsam ist (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juli 2013 ? 4 StR 213/13, NStZ 2013, 580, 581; Fischer, StGB, 72. Aufl., § 213 Rn. 6; MüKoStGB/Schneider, 5. Aufl., § 213 Rn. 21 mwN). Das neue Tatgericht mag zudem in den Blick nehmen, dass im Verlauf der verbalen Auseinandersetzung sowohl der nicht bedrohlich auftretende Geschädigte als auch ein Zeuge versuchten, den Angeklagten zu beschwichtigen.“

StGB I: Messerangriff/Tötung im Drogenmilieu, oder: Mordmerkmale „Heimtücke“/“niedrige Beweggründe“

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Und dann geht es heute weiter mit StGB-Entscheidungen. Alle drei kommen vom BGH und alle drei haben mit Tötungsdelikten zu tun.

Zunächst stelle ich das  BGH, Urt. v. 24.09.2025 – 5 StR 423/25 – vor. Das LG hat den Angeklagten wegen Totschlags verurteilt. Dagegen die Revision der Staatsanwaltschaft, die eine Verurteilung  wegen Mordes erstrebt. Die Revision hatte Erfolg.

Gegenstand des Verfahrens ist eine Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppierungen, die in Rauschgiftgeschäfte involviert sind. Am Abend und in der Nacht des 21.06.2024 kam es zwischen beiden Gruppen zu zunächst verbal geführten und dann mit Gewalt ausgetragenen Auseinandersetzungen. Anlass hierfür war ein Streit um zehn Euro, deren Bezahlung der Anführer der Gruppe des Angeklagten gegen den Geschädigten wegen der Überlassung von Betäubungsmitteln auf Kommissionsbasis gefordert hatte. Gegen 13 Uhr des nächsten Tages betraten der Geschädigte und seine beiden Gefährten den U-Bahnhof K. Tor. Dort kam es – wegen der Einzelheiten bitte im Volltext nachlesen, zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Angeklagte dem überraschten Geschädigten mit Tötungsvorsatz einen wuchtigen Messerstich in die linke Brust versetzt. Der Geschädigte verstarb trotz schneller notärztlicher Hilfe noch vor Ort.

Das LG hatte sich davon überzeugt, dass der Angeklagte den Geschädigten vorsätzlich getötet hat. Es hat sich indes nicht imstande gesehen, das Vorliegen von Mordmerkmalen im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB zu bejahen. „In dubio pro reo“ sei vom Fehlen der für die Annahme von Heimtücke notwendigen Arglosigkeit auszugehen, weil der Geschädigte aufgrund der Auseinandersetzungen am Abend vor der Tat zur Tatzeit mit einem Angriff durch die Gruppe des Angeklagten gerechnet habe. Aus niedrigen Beweggründen habe der Angeklagte nicht gehandelt, weil er mit der Tat auch seinem „Freund“ und Anführer seiner Gruppe habe „helfen“ wollen. Dieses Tatmotiv stehe nicht auf tiefster sittlicher Stufe, sondern erscheine menschlich nachvollziehbar. Das Landgericht hat den Angeklagten daher lediglich des Totschlags nach § 212 Abs. 1 StGB schuldig gesprochen.

Der BGH sieht das anders und führt zu den Mordmerkmalen aus:

„1. Das Landgericht hat ein heimtückisches Handeln des Angeklagten rechtsfehlerhaft verneint.

a) Heimtückisch handelt, wer eine zur Tatzeit beim Opfer bestehende Arg- und Wehrlosigkeit bewusst zur Tat ausnutzt. Arglos ist, wer sich eines Angriffs nicht versieht; wehrlos ist derjenige, dessen Verteidigungsfähigkeit aufgehoben oder erheblich eingeschränkt ist. Die Wehrlosigkeit muss sich als Folge der Arglosigkeit darstellen. Heimtückisches Handeln erfordert kein „heimliches“ Vorgehen. Das Opfer kann auch dann arg- und infolgedessen wehrlos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff etwas Wirkungsvolles entgegen zu setzen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Juni 2016 – 3 StR 120/16, NJW 2016, 2899; Urteile vom 11. Mai 2022 – 5 StR 361/21, NStZ-RR 2022, 277, 279; vom 1. Februar 2024 – 4 StR 287/23, NStZ 2025, 152, 153). Eine auf früheren Aggressionen und einer feindseligen Atmosphäre beruhende latente Angst des Opfers steht der Annahme von Arglosigkeit nicht entgegen; denn es kommt darauf an, ob es gerade im Tatzeitpunkt mit Angriffen auf sein Leben gerechnet hat (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 2017 – 5 StR 338/17, NStZ 2018, 97, 98 mwN; ausf. MüKo-StGB/Schneider, 5. Aufl., § 211 Rn. 151 ff.).

b) Gemessen daran ist die Ablehnung einer heimtückischen Tötung rechtsfehlerhaft. Das Landgericht hat bei seinen rechtlichen Erwägungen den rechtlichen Maßstab verkürzt und deshalb bei der konkreten Prüfung des Mordmerkmals nicht alle relevanten Tatsachen berücksichtigt.

Die Jugendkammer hat die Arglosigkeit allein mit der Begründung verneint, dass der Geschädigte aufgrund eines schwelenden Konfliktes mit der Gruppe des Angeklagten, der am Vorabend der Tat zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung geführt hatte, am Tattag mit einem körperlichen Angriff von deren Seite gerechnet habe. Bei Opfern, die auf Grund von bestehenden Konfliktsituationen oder früheren Bedrohungen dauerhaft Angst um ihr Leben haben, kann ein Wegfall der Arglosigkeit aber erst dann in Betracht gezogen werden, wenn für sie ein akuter Anlass für die Annahme bestand, dass der ständig befürchtete Angriff auf ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit nun unmittelbar bevorstehe (vgl. BGH, Urteile vom 4. Dezember 2024 – 2 StR 352/24 Rn. 26; vom 30. August 2012 – 4 StR 84/12, NStZ 2013, 337, 338).

Dies verkennend hat das Landgericht bei der Prüfung hierfür wesentliche Umstände außer Acht gelassen: Das listige Vorgehen der Angreifer glich einem Anschleichen. Der Geschädigte nahm die bewaffneten Mittäter des Angeklagten, die mit ihrem Vorgehen seine Aufmerksamkeit binden sollten, um dem Angeklagten einen Angriff von hinten zu ermöglichen, erst wenige Augenblicke vor dem tödlichen Messerstich wahr. Die Tat fand am hellichten Tag an einem zentralen innerstädtischen U-Bahnhof statt. Der Geschädigte war deshalb von dem Angriff „überrascht“. Tatsächliche Anhaltspunkte, dass der Geschädigte in der konkreten Tatsituation mehr als eine bloß latente Furcht vor einem Angriff durch den Angeklagten und seine Mittäter hatte, lassen sich den Urteilsgründen hingegen nicht entnehmen. Die unter – zudem vorschneller – Anwendung des Zweifelssatzes begründete Annahme des Landgerichts, der Geschädigte habe zur Tatzeit mit einem solchen gerechnet, entbehrt daher einer tatsächlichen Grundlage. Die Ablehnung der Arglosigkeit ist mithin nicht tragfähig begründet (vgl. BGH, Urteil vom 23. Juli 2020 – 3 StR 77/20 Rn. 11 ff.).

2. Das Landgericht hat das Vorliegen niedriger Beweggründe rechtsfehlerhaft abgelehnt.

a) Ein Beweggrund ist dann niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich aufgrund einer Gesamtwürdigung, welche die Umstände der Tat, die Lebensverhältnisse des Täters und seine Persönlichkeit einschließt. Für die Beurteilung eines Beweggrundes sind die Wertevorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich. Spielen bei der Tat mehrere Motive eine Rolle („Motivbündel“), muss das Tatgericht sämtliche wirkmächtigen Elemente einbeziehen und prüfen, ob der die Tat prägende Handlungsantrieb einen niedrigen Beweggrund darstellt. Lässt sich kein dominantes Motiv feststellen, ist ein Handeln aus niedrigen Beweggründen anzunehmen, wenn sämtliche denkbaren Motive auf sittlich tiefster Stufe stehen (vgl. BGH, Urteil vom 27. März 2024 – 5 StR 446/23, NStZ 2025, 154 f. mwN).

b) Gemessen daran hält die Ablehnung einer Tötung aus niedrigen Beweggründen der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Nach dem Tatplan sollte durch den Angriff auf den Geschädigten die Macht der Gruppe des Angeklagten demonstriert und die Ehre ihres Anführers wiederhergestellt werden. Dessen bewusst wollte der Angeklagte durch seinen Tatbeitrag seinen „Freund“ und Anführer der Gruppe hierbei unterstützten und helfen, um dadurch dessen Anerkennung zu erlangen. Außerdem bezweckte er, sich durch die Tat Respekt und Achtung in der Drogenszene zu verschaffen. Welches der Motive für den Angeklagten bewusstseinsdominant war, hat das Landgericht nicht aufzuklären vermocht. Eines der Tatmotive, nämlich der Beweggrund, seinem „Freund“ und Anführer zu helfen, sei indes menschlich nachvollziehbar und daher nicht als niedrig zu bewerten, eine Tötung aus niedrigen Gründen danach ausgeschlossen.

Das Landgericht hat bei der Würdigung des letztgenannten Motivs indes nicht in die Bewertung einbezogen, was der Angeklagte mit seiner Hilfeleistung bezweckte: Er wollte durch die Tötung des Geschädigten seinen „Freund“ und Anführer dabei unterstützen, eine vermeintliche Ehrverletzung zu rächen sowie dessen Stärke und Macht als Zwischenhändler und damit auch die der ganzen Gruppe gegenüber den (anderen) Straßenhändlern zu demonstrieren. Tötungen zur Bestrafung von Kontrahenten, zur Machtdemonstration oder zur Ausübung von Selbstjustiz rechtfertigen aber regelmäßig die Annahme niedriger Beweggründe (vgl. BGH, Urteil vom 27. März 2024 – 5 StR 446/23, NStZ 2025, 154, 155 mwN). Dem steht nicht von vornherein entgegen, wenn der Täter handelt, um einem ihm verbundenen Tatbeteiligten zu Gefallen und zu Hilfe zu sein (vgl. BGH, Urteil vom 12. Januar 2005 – 2 StR 229/04, BGHSt 50, 1, 8). Das Landgericht hätte sich deshalb nicht lediglich auf den Aspekt der „Hilfeleistung“ zurückziehen dürfen.

Soweit das Landgericht bei der Ablehnung niedriger Beweggründe dem Angeklagten zugutegehalten hat, er sei der „Moral“ und Regeln des Drogenhandels am K. Tor gefolgt, lässt dies besorgen, dass es einen unzutreffenden Maßstab bei der Bewertung von Tatmotiven angelegt hat. Denn maßgeblich sind hierbei die Wertevorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland und nicht die Gesetze der Straße.“

OWi III: Abwesenheitsverhandlung im OWi-Verfahren, oder: Schriftliche (Vor)Erklärungen/Sacheinlassungen

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Und dann habe ich noch etwas Verfahrensrechtliches, nämlich den OLG Koblenz, Beschl. v. 06.10.2025 – 3 Orbs 4 SsRs 29/25 – zum Abwesenheitsverfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG. Nichts Dolles, aber immerhin 🙂 .

Der Betroffene ist mit Abwesenheitsurteil wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße verurteilt worden. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die beim OLG Erfolg hatte:

„Das statthafte (§§ 79 Abs. 1 Satz 2, 80 Abs. 1 OWG), form- und fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsmittel hat in der Sache einen jedenfalls vorläufigen Erfolg.

Vorliegend ist die Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) aufzuheben. Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist mit dem Vortrag, das Ausgangsgericht habe vor-terminliches Vorbringen des Verteidigers unberücksichtigt gelassen, mit den für eine Verfahrensrüge nach §§ 80 Abs. 3, 79 Abs. 3 OWG, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erforderlichen Angaben erhoben und auch in der Sache begründet. Die (zugelassene) Rechtsbeschwerde ist mit der Verletzung des rechtlichen Gehörs ihrerseits begründet.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu ausgeführt:

„Das Amtsgericht verfuhr vorliegend nach § 74 Abs. 1 OWiG, da ausweislich des Protokolls im Hauptverhandlungstermin vom 07.01.2025 weder der von seiner Verpflichtung zu persönlichem Erscheinen entbundene Betroffene noch sein Verteidiger erschienen waren. Wird das Abwesenheitsverfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG durchgeführt, so ist der wesentliche Inhalt früherer Vernehmungen des Betroffenen und seine schriftlichen oder protokollierten Erklärungen durch Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts oder durch Verlesung in die Hauptverhandlung einzuführen, § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG. Dadurch wird sichergestellt, dass zum Ausgleich für die weitgehende Durchbrechung des das Strafverfahren beherrschenden Mündlichkeitsprinzips alle wesentlichen Erklärungen, die der Betroffene in irgendeinem Stadium des Bußgeldverfahrens zu der gegen ihn erhobenen Beschuldigung abgegeben hat, bei der Entscheidung berücksichtigt werden (vgl. BayObLG, Beschluss vom 03.01.1996, Az. 2 ObOWi 911/95; OLG Celle, Beschluss vom 28.06.2016, 2 Ss (OWi) 125/16; jeweils bei juris). Die Verlesung bzw. Bekanntgabe gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung im Sinne des § 274 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG, deren Beobachtung nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (BayObLG, a.a.O., m.w.N.). Zu den früheren Vernehmungen des Betroffenen und seinen protokollierten und sonstigen Einlassungen gemäß § 74 Abs. 1 S. 2 OWiG gehören auch Sacheinlassungen des Verteidigers, jedenfalls dann, wenn dieser gemäß § 73 Abs. 3 OWG bevollmächtigt war (OLG Hamburg Beschl. v. 25.5.2023 — 6 ORbs 19/23, BeckRS 2023, 34942, beck-online)

Dass das als Beweisanregung zu verstehende Vorbringen des Betroffenen hinsichtlich des Ergebnisses des von ihm eingebrachten privaten Sachverständigengutachtens sowie der im Schriftsatz enthaltene weitere Vortrag des fehlerhaft um 1 km/h zu gering erfolgten Toleranzabzuges der Geschwindigkeitsmessung nicht in die Hauptverhandlung eingebracht wurde, ergibt sich aus dem Schweigen des Protokolls hierüber. Das Amtsgericht hätte sich jedenfalls in den Urteilsgründen mit dem Vorbringen auseinandersetzen und in einer für das Rechtsbeschwerdegericht nachprüfbaren Weise begründen müssen, weshalb es eine weitere Aufklärung nicht für erforderlich erachtet hat und wie der Vortrag zum fehlerhaften Toleranzabzug bewertet wird. Hierzu wird im angefochtenen Urteil jedoch nichts ausgeführt. So wird der Einwand, es könnte zu einem Übertragungsfehler gekommen sein, nicht angesprochen. Vielmehr geht das Amtsgericht im Urteil trotz der dem Rügevorbringen zu entnehmenden klaren Sachlage hinsichtlich des fehlerhaften Toleranzabzuges und auch der vom Gericht erfolgten Nachermittlungen weiterhin von Geschwindigkeitsüberschreitung von 36 km/h aus, die aus einem fehlerhaftem Toleranzabzug von nur 4 km/h resultiert.

Durch diese Verfahrensweise dürfte dem Betroffenen rechtliches Gehör versagt worden sein.

Das Gebot des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die erlassene Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet daher das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BayObLG, a.a.O., m.w.N.). Der Umstand, dass das Amtsgericht ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung die Beweisanregungen und Einwendungen des Betroffenen weder in die Hauptverhandlung eingeführt noch in den Urteilsgründen sich mit ihm auseinandergesetzt hat, insbesondere im Urteil von einem fehlerhaften Toleranzabzug ausgeht, lässt besorgen, dass es bei seiner Entscheidung die Ausführungen des Verteidigers insoweit nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen hat. Damit dürfte der Tatrichter das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verkürzt haben.“

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Einzelrichter des Senats nach eigener Prüfung an.

Das Urteil beruht auch auf der Verletzung rechtlichen Gehörs. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Bußgeldrichter unter Berücksichtigung des Vortrags des Betroffenen zu einer anderen Entscheidung gelangt, insbesondere etwa weitere Beweiserhebungen durchgeführt hätte (vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 25.05.2023 – 6 ORbs 19/23, juris). Das angefochtene Urteil ist daher mit den getroffenen Feststellungen aufzuheben und die Sache gemäß § 79 Abs. 6 OWiG zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Simmern/Hunsrück zurückzuverweisen.“

OWi II: Berufung auf die sog. Medikamentenklausel, oder: „Zoom-Rezept“/“Cannabis-Ausweis“ reichen nicht

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Im zweiten Posting berichte ich über AG Hamburg-Wandsbek, Urt. v. 24.09.2025 – 726b OWi 58/25.

Das AG hat festgestellt, dass der Betroffene am 08.04.2025 um 02:40 ein Fahrzeug mit einer Konzentration von mindestens 12 ng/ml Tetrahydrocannabinol im Blut geführt hat. Der Betroffene hatte eingeräumt, am Abend vor dem Tatzeitpunkt gegen 23:00 Uhr Cannabis in Form eines Joints konsumiert zu haben. Der Betroffene hat sich weiter darauf berufen, über eine ärztliche Erlaubnis zum medizinischen Konsum von Cannabis zu verfügen. Hierzu hat er den Ausdruck eines Privatrezepts der Ärztin B. aus L. vom 09.04.2025 sowie Fotos eines „Cannabis-Ausweises“ des Arztes M. aus B. vor, die in Augenschein genommen wurden, vorgelegt. Im „Cannabis-Ausweis“ heißt es: „Der/Die Ausweisinhaber/in erhält wegen seiner/ihrer Erkrankung eine ärztlich verordnete Behandlung mit einem Cannabis-basierten Medikament […]; Bakerstreet: 0,25-0,3g pro Mal abends; Bedrocan: bis 0,5g 2 Mal täglich tagsüber“. Der Betroffene hat angegeben, keinen persönlichen Kontakt zum verschreibenden Arzt gehabt zu haben. Er habe lediglich Kontakt mittels Internet-Chat und via Videotelefonat (Zoom) gehabt.

Das AG ist der Berufung auf die sog. Medikamentenklausel des § 24a Abs. 4 StVG nicht gefolgt:

„2. Die „Medikamentenklausel“ des § 24a Abs. 4 StVG, die auch die fahrlässige Begehungsweise der Tat ausschließt (OLG Zweibrücken, NStZ 2024, 371, Ls.), steht der Verurteilung des Betroffenen nicht entgegen.

a) Gemäß § 24a Abs. 4 StVG ist Abs. 1a nicht anzuwenden, wenn die betreffende Substanz aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt. Wegen des mit dem Ausnahmetatbestand einhergehenden Missbrauchspotenzials (vgl. OLG Oldenburg DAR 2023 584, 585; König, NJW-Sonderbeil. 2025, 77, 81; ders., DAR 2019, 362, 369; Maatz, BA 2018, Sup I – 30 ff.; Hentschel/König/König, § 24a StVG Rn. 22) sind seine Voraussetzungen im Einzelfall restriktiv auszulegen und sorgfältig zu prüfen.

Zunächst erfordert § 24a Abs. 4 StVG die bestimmungsgemäße Einnahme der betreffenden Substanz. Bestimmungsgemäß ist die Einnahme, wenn sie sich im Rahmen der verschriebenen Dosieranleitung hält und die Grenze zum Missbrauch nicht überschreitet (OLG Bamberg DAR 2019, 390, 391; KG BeckRS 2016, 2821 Rn. 8; Hentschel/König/König, § 24a StVG Rn. 22c). Der Inhalt des hierfür maßgeblichen Cannabinoidausweises des Betroffenen ist – sofern keine zulässige Bezugnahme erfolgt – im Wortlaut in den Urteilsgründen wiederzugeben (OLG Koblenz BeckRS 2022, 8932 Ls. 1).

Weiter erfordert § 24a Abs. 4 StVG das Vorliegen einer Verschreibung. Der Begriff in § 24a Abs. 4 StVG nimmt erkennbaren Bezug auf § 3 MedCanG, nach dessen Abs. 1 Satz 3 sich der notwendige Inhalt einer Verschreibung nach den §§ 2 und 4 der Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) richtet (vgl. Patzak/Fabricius/Patzak, BtMG, § 3 MedCanG Rn. 2). Der notwendige Inhalt einer Verschreibung gemäß § 2 Abs. 1 AMVV umfasst neben Angaben zur Person des Verschreibenden (Nr. 1) und der Person, für die das Arzneimittel bestimmt ist (Nr. 3) das Datum der Ausfertigung (Nr. 2), ihre Gültigkeitsdauer (Nr. 8) sowie die abzugebende Menge des verschriebenen Arzneimittels (Nr. 6). Keiner weiteren Begründung bedarf der Umstand, dass das Datum der Verschreibung zeitlich vor der potenziell nach § 24a Abs. 1a StVG ordnungswidrigen Tat liegen und die Verschreibung zu diesem Zeitpunkt noch gültig sein muss.

Die Verschreibung muss zur Behandlung eines konkreten Krankheitsfalls erfolgt sein, § 24a Abs. 4 StVG (Hentschel/König/König, § 24a StVG Rn. 22b). Das Tatbestandsmerkmal verdeutlicht, dass eine Verschreibung im Sinne der Vorschrift keinesfalls pauschal oder generalklauselartig erfolgen darf. Vorausgesetzt wird vielmehr eine sorgfältige Anamnese, die in der Regel das persönliche Erscheinen des Betroffenen vor dem verschreibenden Arzt erfordert (siehe auch OLG Oldenburg DAR 2023, 584, 585 mit Verweis auf BGHSt 6, 90). Für eine solche Auslegung spricht auch die am 08.10.2025 von der Bundesregierung beschlossene Klarstellung in § 3 MedCanG-E, wonach die Verschreibung von medizinischem Cannabis den persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patienten erfordert und dieser persönliche Kontakt zur Fortdauer der Verschreibung wenigstens jährlich erfolgen muss (vgl. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/C/MedCanG_Kabinett.pdf, S. 3)

b) Die Verschreibung der Ärztin B. vermag unabhängig davon, ob sie den Anforderungen der §§ 24a Abs. 4 StVG, § 3 Abs. 1 Satz 3 MedCanG, § 2 Abs. 1 AMVV genügt, bereits deshalb den Ausnahmetatbestand des § 24a Abs. 4 StVG nicht zu erfüllen, da sie auf den 09.04.2025 – einen Tag nach der hier in Frage stehenden Tat – datiert.

c) Geht man davon aus, dass ein Joint etwa 0,2-0,4g Cannabis enthält, hielt sich der Betroffene durch den Konsum eines Joints um 23:00 Uhr im Rahmen der im „Cannabis-Ausweis“ vorgeschriebenen Dosieranleitung („0,25-0,3g abends“), sodass eine bestimmungsgemäße Einnahme im Sinne von § 24a Abs. 4 StVG vorliegt.

Allerdings handelt es sich beim in Augenschein genommenen „Cannabis-Ausweis“ schon nicht um eine Verschreibung im Sinne des § 24a Abs. 4 StVG i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 3 MedCanG i.V.m. § 2 Abs. 1 AMVV. Das Dokument lässt weder ein Ausfertigungsdatum (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 AMVV) noch eine Gültigkeitsdauer (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 AMVV) erkennen. Es enthält ferner keine Gesamtmenge verschriebenen Cannabis (§ 2 Abs. 1 Nr. 6 AMVV), die gemeinsam mit den Dosierungshinweisen Aufschluss über die notwendige Dauer der Behandlung geben könnte. Weder für die Cannabis ausgebende Stelle noch für das überprüfende Gericht sind Anhaltspunkte ersichtlich, ob der „Cannabis-Ausweis“ schon bzw. noch gültig ist, über welchen Zeitraum eine Therapie erfolgt und ob eine regelmäßige Evaluation des Therapiefortschritts und der weiteren Erforderlichkeit des medizinischen Cannabiskonsums stattfindet. Höchstens handelt es sich bei dem „Cannabis-Ausweis“ um einen sog. Patientenausweis, der für sich allein genommen den Anforderungen des § 24a Abs. 4 StVG nicht zu genügen vermag (vgl. zur begrifflichen Unterscheidung zwischen Verschreibung und Patientenausweis auch BayVGH SVR 2019, 272, 273).

Auch fehlt es bei dem „Cannabis-Ausweis“ an der gemäß § 24a Abs. 4 StVG erforderlichen Bezugnahme auf einen konkreten Krankheitsfall. Dies folgt einerseits erneut aus der fehlenden zeitlichen Eingrenzung, die die Feststellung einer Bezugnahme auf einen konkreten Krankheitsfall des Betroffenen unmöglich macht. Ferner vermag der unter III. wiedergegebene bloße Verweis auf eine „Erkrankung“, wobei dem konkreten Krankheitsbild des Betroffenen nicht einmal im Hinblick auf dessen Geschlecht, geschweige denn in sonst individualisierter Weise Rechnung getragen wird, den Anforderungen des § 24a Abs. 4 StVG an die Konkretheit des Krankheitsbilds nicht zu genügen. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass es sich beim „Cannabis-Ausweis“ des Arztes M. gerade um eine solche generalklauselartig-pauschale ärztliche Erlaubnis („Freifahrtschein“) handelt, denen der Gesetzgeber mit der Aufnahme des Tatbestandsmerkmals des konkreten Krankheitsfalls in § 24a Abs. 4 StVG vorbeugen wollte.

Zuletzt fehlt es an dem zur Diagnose eines konkreten, mittels Cannabis therapierbaren Krankheitsfalls regelmäßig erforderlichen persönlichen Kontakt des Betroffenen zum verschreibenden Arzt. Der Betroffene hatte Kontakt zum verschreibenden Arzt lediglich via Internet-Chat und Videotelefonat (Zoom). Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, warum ein möglicher konkreter Krankheitsfall des Betroffenen im Sinne von § 24a Abs. 4 StVG ausnahmsweise ohne persönliche körperliche Untersuchung durch den verschreibenden Arzt diagnostiziert werden konnte.“