Verwerfung III: Verspätung wegen Verkehrsstau, oder: Gericht muss während HV telefonisch erreichbar sein

Und dann die dritte „Verwerfungsentscheidung“. Die kommt aus dem Bußgeldverfahren.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Die Hauptverhandlung, in der das Urteil verkündet worden ist, hat am 05.10.2023 von 8:30 Uhr bis 9:00 Uhr in Abwesenheit sowohl des Betroffenen als auch seines Verteidigers stattgefunden. Ein Wiedereinsetzungsantrag des Betroffenen hatte keinen Erfolg. Zur Zulassung des Rechtsbeschwerde ist vorgetragen worden:

Der Verteidiger sei rechtzeitig in Bad Harzburg losgefahren sei, um den am 05.10.2023 auf 8.30 Uhr bestimmten Hauptverhandlungstermin beim AG Braunschweig wahrzunehmen. Wegen eines unvorhersehbaren Verkehrsunfalls im Bereich einer Baustelle sei es auf der Autobahn 36 indes zu einer temporären Vollsperrung von mehr als 30 Minuten gekommen. Weitere etwa 15 Minuten Verzögerung seien dadurch eingetreten, dass der Verkehr im Bereich der wegen der Baustelle ohnehin einspurigen Strecke nur sehr langsam an – dem verunfallten Fahrzeug habe vorbeigeführt werden können. Er habe deshalb erst um 9:02 Uhr den Gerichtssaal erreicht. Zu diesem Zeitpunkt sei, wie er sodann erfahren habe, das Urteil bereits verkündet gewesen.

Das OLG Braunschweig hat mit dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 20.12.2024 – 1 ORbs 62/24  – die Rechtsbeschwerde zugelassen und das AG-Urteil aufgehoben:

„Ein Betroffener hat einen Anspruch darauf, sich im Bußgeldverfahren der Hilfe eines Verteidigers zu bedienen (§ 137 Abs. 1 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG). Im Falle nicht angekündigter Verspätung des Verteidigers gebietet es deshalb die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts regelmäßig, zumindest einen Zeitraum von 15 Minuten zuzuwarten, bevor mit der Hauptverhandlung begonnen wird (OLG Hamm, Beschluss vom 16. Juni 2006, 3 Ss OWi 310/06, juris, Rn. 6; OLG Köln, Beschluss vom 2. September 1997, Ss 485/97 (B) = NStZ 1997, 494). Hat der Verteidiger indes seine Verspätung gegenüber dem Gericht angekündigt und sich dabei auf ein unvorhersehbares Ereignis – beispielsweise einen Verkehrsstau – berufen, kann es geboten sein, auch über den Zeitraum von 15 Minuten hinaus auf dessen Eintreffen zu warten (OLG Hamm, a.a.O.; Rn. 7; OLG Köln, a.a.O.). So lag der Fall hier. Das Gericht hätte das Eintreffen der Verteidigung um 9:02 Uhr abwarten müssen. Der Verteidiger hat im Zulassungsantrag nachvollziehbar dargelegt, dass er rechtzeitig in Bad Harzburg losgefahren und allein deshalb verspätet zum Hauptverhandlungstermin erschienen ist, weil sich seine Anreise um zumindest 45 Minuten wegen eines von ihm nicht vorhersehbaren Verkehrsstaus verzögert hat. Eine unverschuldete Verzögerung, gegen die auch die vernünftigerweise zu beachtende Sorgfalt keine Vorsorge gebietet, kann auch durch einen außergewöhnlich ausgedehnten Stau bewirkt werden (BFH, Beschluss vom 17. April 2024, X B 68, 69/23, juris, Rn. 13). Ohne den Stau, der zu einer verkehrsbedingten Verzögerung von 45 Minuten geführt hat, wäre der Verteidiger bereits um 8:17 Uhr und damit rechtzeitig am Sitzungssaal eingetroffen.

Dass die Vorsitzende bei Verkündung des Urteils keine Kenntnis von dem Hinderungsgrund hatte, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn Fehler der Justiz sind dem Gericht zuzurechnen (BFH, a.a.O., Rn. 15; OLG Köln, Beschluss vom 2. September 1997, Ss 485/97 (B) = NStZ 1997, 494). Ein Fehler, der der Justiz zuzurechnen ist, liegt vor, denn der Verteidiger konnte das Gericht in der Zeit von 8:11 Uhr bis 8:35 Uhr bei insgesamt sieben Anrufen unter der 0531 4880 und bei weiteren 11 Anrufen unter der ihm bekannten Durchwahl – 2146 – nicht erreichen, wie er zur Überzeugung des Senats belegt hat. Werden Hauptverhandlungen durchgeführt, hat das Gericht jedoch für eine Kommunikation mit den Verfahrensbeteiligten erreichbar zu sein und entsprechende Telefonanrufe entgegenzunehmen.

Der Verstoß gegen die gerichtliche Fürsorgepflicht ist vorliegend auch nicht nur als Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 GG), der für eine Zulassung gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG nicht ausreicht (vgl. OLG Hamburg, Be-schluss vom 2. März 2021, 2 RB 5/21, 3 Ss-OWi 11/21, Rn. 15 f., juris; KG, Beschluss vom 3. Juni 2021, 3 Ws (B) 148/21, Rn. 10, juris; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 4. Januar 2021, Rn.12, juris), sondern als Gehörsverstoß (Art. 103 Abs. 1 GG) anzusehen. Das ist zwar regelmäßig nicht der Fall, weil aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht folgt, dass das rechtliche Gehör durch Vermittlung eines Rechtsanwalts gewährt wird (BayObLG, Beschluss vom 29. März 1995, 2 Ob OWi 61/95, juris, Rn. 4 m.w.N.). Der aktuell zu beurteilende Fall ist jedoch deshalb anders gelagert, weil der Betroffene vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundenen war und auf die Anwesenheit seines Verteidigers vertraut hat, sodass auch er keine Möglichkeit hatte, sich zum Vorwurf äußern.“

Man merkt dem Beschluss an, dass das OLG ein wenig „angefressen“ ist/war.

Neues zum schon totgesagten KostRÄndG 2025, oder: Totgesagte leben ggf. doch länger

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Ich hatte ja schon ein paar Mal zum KostRÄndG berichtet. Zuletzt hatte es am 19.12.2024 geheißen: Was kommt denn nun ggf. neu in StPO, StGB und RVG?, oder: Wahrscheinlich viel Lärm um nichts?)

Seitdem hatte ich von der Sache nichts mehr gehört. Am 19.01.2025 sollte zwar – so meine Informationen – der Rechtsausschuss des Bundestages tagen. Aber schaut man dort nach der Tagesordnung, findet man nichts.

Nun erfahre/erhalte ich gerade aber mal aktuelle Informationen, und zwar:

  • Der Rechtsausschuss tagt danach am 28.01.2025
  • 2./3. Lesung im Bundestag dann am 29.01.2025
  • evtl. weiterer Termin im Rechtsausschuss, falls nötig, am 11.02.2025

Also scheint das KostRÄG 2025 doch noch nicht tot zu sein, so dass der Spruch: „Totgesagte leben länger“ passt.

Verwerfung II: Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten, oder: Aufklärungspflicht des Gerichts

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In der zweiten Entscheidung, dem KG, Urt. v. 18.10.2024 – 3 ORs 66/14 – 121 SRs 97/24 – geht es auch noch einmal um die (Un)Zulässigkeit der Verfahrensrüge im Rahmen des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Das LG hat die Berufung des Angeklagten gegen ein Urteil des AG nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen, weil der Angeklagte dem Hauptverhandlungstermin unentschuldigt ferngeblieben sei. Dem lag das folgende Verfahrensgeschehen zu Grunde:

„Der ordnungsgemäß geladene Angeklagte reichte über seinen Verteidiger am Tag vor dem anberaumten Termin ein ärztliches Attest des Herrn Dr. A und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 24. – 26.06.2024 ein. Das Attest hatte den folgenden Wortlaut:

„Der o.g. Patient stellte sich am 24.6.24 in unserer Arztpraxis vor. Er berichtet, seit dem Vorabend unter Übelkeit mit Erbrechen und Diarrhöen zu leiden. Zudem wird von Schnupfen und Halsschmerzen seit 3-4 Tagen berichtet. Der Pat. schildert, einen geplanten Gerichtstermin am 25.6.24 bei den aktuell vorherrschenden gesundheitlichen Problemen nicht wahrnehmen zu können. Es erfolgte eine AU-Bescheinigung vom 24.-26.6.24.“

Die Vorsitzende der zuständigen Strafkammer kontaktierte daraufhin am 25.06.2024 die Praxis telefonisch, in der sie Herrn Dr. A nicht erreichen konnte, aber dessen Kollegin Frau Dr. B. Diese teilte der Vorsitzenden mit, Herr Dr. Asei aufgrund auswärtiger Termine in einer Heimeinrichtung nicht erreichbar. Der Angeklagte sei am 24.06.2024 erstmals in der Praxis erschienen, was Herrn Dr. A verwundert habe. Eine Untersuchung der Symptome habe nicht stattgefunden und sei auch nicht üblich. Sie habe mit Herrn Dr. A über die Angelegenheit gesprochen, der Angeklagte habe etwas erschöpft gewirkt. Herr Dr. A habe sich schwergetan, das Attest auszustellen. Zur Schwere der Symptomatik könne sie anhand der Patientenakte keine Angaben machen.

Gegen das Verwerfungsurteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision. Er trägt vor, das LG habe seine Aufklärungspflicht verletzt, indem es nicht mit dem behandelnden Arzt selbst – gegebenenfalls per Mobiltelefon – Rücksprache gehalten habe. Ein solches Gespräch „hätte die Säumnis als [sic!] Angeklagten als unverschuldet aufgezeigt“.

Die GStA hat die Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an eine andere Strafkammer des LG beantragt. Das KG sieht das anders und hat verworfen. Hier die Leitsätze des KG:

1. Unterlässt es der Revisionsführer, das Ausmaß einer Erkrankung darzulegen oder die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten am Terminstag zu schildern, ist seine auf eine unterbliebene Aufklärung des Gerichts gestützte Verfahrensrüge bereits unzulässig; das Revisionsgericht wird hierdurch nicht in den Stand versetzt, zu beurteilen, ob der Angeklagte im Zeitpunkt der Hauptverhandlung entschuldigt war.

2. Bei „Auslösung“ der Aufklärungspflicht durch Einreichung eines ärztlichen Attests kann das Gericht sich nicht auf Informationen vom „Hörensagen“ einer Kollegin des das Attest ausstellenden Mediziners stützen.

Verwerfung I: Ausbleiben genügend entschuldigt?, oder: Stationär behandlungsbedürftige Erkrankung

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Und heute dann drei Entscheidungen zu „Verwerfungsfragen“, und zwar zweimal Verwerfung der Berufung und einmal Verwerfung des Einspruchs im Bußgeldverfahren.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 09.12.2024 – 203 StRR 591/24.

Das LG hat die Berufung des vom AG verurteilten Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen, weil er unentschuldigt trotz ordnungsgemäßer Ladung in dem Termin zur Hauptverhandlung am 02.08.2024 ausgeblieben wäre. Die im Termin vorgelegte ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 01.082024 belege keine Verhandlungsunfähigkeit. Dagegen die Revision des Angeklagten, die beim LG keinen Erfolg hatte:

„…..

3. Die Verfahrensrüge des Angeklagten genügt diesen Anforderungen nicht.

a) Wie oben dargestellt, hat die Revision, will sie eine fehlerhafte Beurteilung des Tatrichters rügen, umfassend und vollständig die Tatsachen darzulegen, aus denen sich ergeben soll, dass dem Angeklagten das Erscheinen unmöglich oder unzumutbar war und das Berufungsgericht von diesem Entschuldigungsgrund Kenntnis hatte. Nachträglich hinzugekommene Informationen sind insoweit nicht von Bedeutung. Danach ist zwar die Rechtsauffassung des Landgerichts, mangels rechtzeitigen Nachweises einer Verhandlungsunfähigkeit sei von einer nicht ausreichenden Entschuldigung auszugehen, zu beanstanden, da es nach § 329 Abs. 1 StPO auf eine Verhandlungsunfähigkeit nicht ankommt. Allerdings enthält die in der Revisionsschrift wiedergegebene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung weder Angaben zu einer Diagnose noch zu einer Symptomatik. Aus ihr war daher eine genügende Entschuldigung nicht abzuleiten. Dass der Angeklagte sich laut seiner ebenfalls in der Rechtfertigungsschrift zitierten nächtlichen Mitteilung an den Verteidiger subjektiv „wegen Krankheit“ nicht in der Lage gesehen hat, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, und beabsichtigt hat, am Morgen zur stationären Behandlung ein Krankenhaus aufzusuchen, genügt auch in Verbindung mit der auf die Bestätigung einer Arbeitsunfähigkeit beschränkten Bescheinigung für eine Entschuldigung des Fernbleibens nicht. Dafür hätte es zumindest der Angabe einer konkreten Symptomatik bedurft. Die vom Angeklagten behauptete stationäre Behandlungsbedürftigkeit ändert daran nichts. Denn nicht jede stationär behandlungsbedürftige psychische Erkrankung entschuldigt ein Fernbleiben von einem bereits seit längerem anberaumten Gerichtstermin. Zu einer sofortigen stationären Aufnahme des Angeklagten am Tag der Hauptverhandlung oder einer ambulanten ärztlichen Behandlung ist es auch nach dem Vorbringen der Revision nicht gekommen, vielmehr wurde die stationäre Behandlung zunächst aufgeschoben. Selbst ein stationärer Aufenthalt in einem Krankenhaus ist in der Regel kein Entschuldigungsgrund, wenn er aufschiebbar ist (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 20. Februar 2024 – 2 ORs 3/24 –, juris Rn. 12 m.w.N.).

b) Soweit der Angeklagte ein Aufklärungsdefizit des Tatrichters rügt, fehlt es ebenfalls bereits an einer hinreichenden Darlegung der Erkrankung. Der Revisionsschrift lässt sich weder eine Diagnose noch ein genaues Ausmaß der körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung entnehmen. Der Vortrag, der Angeklagte hätte an einer akuten psychischen Erkrankung gelitten, die sich am Vortag der Hauptverhandlung abgezeichnet, an diesem Tage zur Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt, eine Anreise zum und eine Teilnahme am Hauptverhandlungstermin verhindert, am Tag der Hauptverhandlung eine stationäre Aufnahme indiziert und nach der Vorstellung in der Notfallsprechstunde einer psychiatrischen Institutsambulanz einer psychiatrischen Fachklinik in G. zum Eintrag in die dortige Warteliste geführt hätte, genügt nicht. Soweit der Angeklagte seine Revision auf die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung stützt, enthebt ihn dies nicht von dem oben dargelegten Vortragserfordernis, weil das verfahrensgegenständliche Attest keinen Aufschluss über den Krankheitszustand des Angeklagten am Verhandlungstag erbringt (vgl. auch KG Berlin, Urteil vom 24. Juli 2023 – 3 ORs 38/23 –, juris Rn. 9).

c) Bezüglich der Angriffsrichtung eines Aufklärungsdefizits kommt es nicht mehr maßgeblich darauf an, dass der Beschwerdeführer innerhalb der Frist des § 345 Abs. 1 StPO kein Beweismittel bezeichnet hat, das dem Tatrichter in der Hauptverhandlung als Erkenntnismöglichkeit für eine verlässliche Klärung des Zustands des Angeklagten zur Verfügung gestanden hätte. Die Bescheinigung der Klinik ist erst nach dem Termin vorgelegt worden. Dass der Tatrichter zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung Kenntnis von der Institutsambulanz als möglicher Quelle für das Abschöpfen von Informationen zum Gesundheitszustand des Angeklagten gehabt hätte, ist ebenso wenig vorgetragen wie mögliches substanzielles Wissen des die Arbeitsunfähigkeit bestätigenden Arztes.

d) Das am 18. November 2024 in der Revision nachgeschobene Vorbringen zu einer während eines stationären Aufenthalts vom 3. September 2024 bis zum 23. Oktober 2024 diagnostizierten rezidivierenden depressiven Störung, schwere Episode ohne psychotische Symptome, ist nach dem Ablauf der Frist des § 345 Abs. 1 StPO nicht mehr geeignet, die unzulässige Verfahrensrüge zu heilen.

II.

Die Rüge wäre auch unter Berücksichtigung des Vorbringens vom 18. November 2024 unbegründet. Denn dass dem Angeklagten am Tag der Hauptverhandlung nach den Umständen des Einzelfalles ein Erscheinen nicht zumutbar gewesen wäre und ihm deshalb wegen seines Ausbleibens billigerweise kein Vorwurf gemacht werden kann, ergibt sich daraus nicht. Der Angeklagte hat auch in diesem Vortrag nicht dargetan, dass und weshalb gerade am Terminstag eine sofortige stationäre oder ambulante Behandlung angezeigt oder dass er aus sonstigen objektivierbaren Gründen am Erscheinen gehindert gewesen wäre. Alleine der Umstand, dass er an einer Depression leidet und sich subjektiv nicht in der Lage gefühlt hat, zum Termin zu erscheinen, stellt keinen ausreichenden Entschuldigungsgrund für sein Fernbleiben dar.“

KCanG III: Regelmäßiger Konsum – altes/neues Recht, oder: Sofortige Vollziehung der Entziehung der FE?

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Im dritten Posting des Tages habe ich dann noch eine Entscheidung aus dem Verkehrsverwaltungsrecht. Normalerweise kommen Entscheidungen aus dem Bereich ja am Samstag, aber der VG Magdeburg, Beschl. v. 21.06.2024 – 1 B 95/24 MD – passt thematisch auch heute.

Es geht um die Auswirkungen der neuen Rechtslage bei Cannabis auf die Fahrerlaubnisentziehung. Dazu hatte ich ja bereits auch den OVG Lüneburg, Beschl. v. 23.09.2024 – 12 PA 27/24 – vorgestellt, das zu den Auswirkungen ja bereits Stellung genommen hat (vgl. Änderungen der FeVO durch das CanG und KCanG, oder: Auswirkungen auf Entziehungsverfahren?).

Nun also auch das VG Magdeburg. Gestritten wird in dem Verfahren um die Rechtmäßigkeit einer Fahrerlaubnisentziehung. Dem Antragsteller war von der Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis entzogen worden. Er war mit einem Joint und Cannabis in Form einer Blüte angetroffen worden. Gegenüber dem kontrollierenden Beamten hatte er angegeben, dass er regelmäßig Cannabis konsumiere, um seine Psyche zu beruhigen. Er verwende es wie ein Feierabendbier. Deshalb hatte man an seiner Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs gezweifelt und die Fahrerlaubnis entzogen.

Der u.a. dagegen gerichtete Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtschutzes gegen den (auch) angeordneten Sofortvollzug hatte beim VG Erfolg:

„…..

c) Die Interessenabwägung fällt jedoch zuungunsten der Antragsgegnerin aus, da das im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO durch das Gericht zu prüfende überwiegende, besondere Vollzugsinteresse der Allgemeinheit an der sofortigen Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers nicht gegeben ist.

Ein solches, materielles Interesse am Vollzug vor Eintritt der Bestandskraft eines Veraltungsaktes muss stets vorliegen, da eine sofortige Vollziehung auf Basis einer behördlichen Anordnung eine Ausnahme von der gesetzlichen Regel darstellt, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung hat und daher das Aussetzungsinteresse des Betroffenen das Vollzugsinteresse der Allgemeinheit grundsätzlich überwiegt. Es ist gesondert zu prüfen, ob das vorläufige Vollzugsinteresse der Allgemeinheit die Interessen des Betroffenen überwiegen. Dabei kommt es nicht alleine auf die Erfolgsaussichten eines Hauptsacheverfahrens an, sondern diese stellt lediglich einen Gesichtspunkt in der von dem Gericht vorzunehmenden Abwägung dar (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13. September 1991 – 4 M 125/91 –, NVwZ 1992, 687; VGH München, Beschluss vom 12. März 1996 – 14 CS 95.3873 –, NVwZ-RR 1997, 445; BVerfG, Beschluss vom 12. September 1995 – 2 BvR 1179/95 –, NVwZ 1996, 58; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 21. März 2014 – 8 ME 24/14 –, BeckRS 2014, 49116; VG München, Beschluss vom 11. Juni 2021 – M 7 S 21.1849, BeckRS 2021, 55414 Rn. 45; vgl. ebenfalls zum Maßstab: Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 80 Rn. 156 ff.). Hiernach überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Allgemeinheit an der Entziehung der Fahrerlaubnis. Dies ergibt sich maßgeblich aus der gesetzgeberischen Neubewertung und Neugewichtung des Gefährdungspotentials des Cannabiskonsums, nach der der dem Antragsteller zur Last gelegte Sachverhalt keine Eignungszweifel mehr begründen kann.

Mit dem zum 1. April 2024 in Kraft getretenen Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz – CanG) vom 27. März 2024 hat der Gesetzgeber in Artikel 14 dieses Gesetzes in Bezug auf die Beeinträchtigung der Fahreignung durch den Konsum von THC-haltigen Cannabis eine Neubewertung vorgenommen. Nach dieser neuen Bewertung ist eine Fahreignung bei Cannabiskonsum nur noch dann im Regelfall nicht gegeben, wenn Missbrauch (Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV) vorliegt, oder eine Abhängigkeit (Nr. 9.2.3 der Anlage 4 zur FeV) festgestellt ist. Ob für die Bestimmung der Abhängigkeit auf die Maßstäbe der ICD-10F 12.2 (Psychische und Verhaltensstörung durch Konsum von Cannabinoiden Abhängigkeitssyndrom) abzustellen ist, oder ob andere Grundsätze gelten, kann dahinstehen. Denn in jedem Fall setzt eine Abhängigkeit auch im Vergleich zum Missbrauch eine quantitative Konsumsteigerung voraus (vgl. zur Alkoholproblematik: Siegmund, in: Freymann/Wellner, juris PK-Straßenverkehrsrecht, 2. Auflage, § 13 FeV (Stand: 6. Juni 2024) Rn. 26). Vorliegend sind indes selbst die Voraussetzungen eines Missbrauchs nicht feststellbar. Missbrauch ist nach der in der Nr. 9.2.1 enthaltenen Legaldefinition dann gegeben, wenn das Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Cannabiskonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können. Mithin hat der Gesetzgeber auf Grund einer neuerlichen Gefährdungsbeurteilung des Cannabiskonsums diesen den in der Nr. 8 der Anlage 4 FeV enthaltenen Regelungen zur (regelmäßig fehlenden) Fahreignung bei Alkoholkonsum gleichgestellt. Anhaltspunkte für einen Missbrauch durch den Antragsteller sind nicht erkennbar. Es ist nicht durch die Antragsgegnerin ermittelt oder sonst feststellbar, dass der Antragsteller in zeitlicher Hinsicht nicht zwischen seinem Cannabiskonsum und dem Führen von Kraftfahrzeugen trennt. Hierfür bedürfte es Anhaltspunkte für einen fehlenden zeitlichen Abstand zwischen beiden oder für eine zeitliche Überlagerung von beiden Handlungen, wofür vorliegend jedoch nichts spricht. Auch aus der Aussage des Antragstellers, er konsumiere Cannabis wie ein „Feierabendbier“ folgt nicht, dass der Konsum des Antragstellers ein missbräuchlicher ist. Hierfür bedürfte es weiterer Anhaltspunkte, dass der Konsum quantitativ im Übermaß stattfindet oder der Antragsteller keine hinreichende Zeit nach dem Konsumakt verstreichen lässt, um erneut ein Fahrzeug zu führen. Aus dieser Neugewichtung durch den Gesetzgeber folgt, dass, wenn ein Missbrauch oder eine Abhängigkeit von Cannabis nicht feststellbar ist, keine Eignungszweifel bestehen. Mithin überwiegt in einem solchen Fall das Mobilitätsinteresse des Betroffenen die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit. Auf Grund der gesetzgeberischen Neubewertung ist in Fällen, in denen ein Missbrauch oder eine Abhängigkeit nicht gegeben ist, das Gefährdungspotential für die Rechtsgüter Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sowie das Eigentum (Art. 14 GG) der anderen Verkehrsteilnehmer als nicht hinreichend groß anzusehen, um dem Betroffenen die Teilnahme am Straßenverkehr zu versagen. Dass der Antragsteller im Klageverfahren voraussichtlich unterliegen wird, ändert hieran – wie dargestellt – nichts.“

Im Zweifel wird der Antragsteller im Hauptsachverfahren keinen Erfolg haben. Denn Beurteilungszeitpunkt für die Rechtmäßigkeit der Fahrerlaubnisentziehung ist, anders als in Bußgeldverfahren, wo nach § 4 Abs. 3 OWiG das mildeste Gesetz Anwendung findet, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ist: Das ist der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids (siehe dazu OVG Lüneburg, a.a.O.).

Eine andere Frage ist, ob dem Antragsteller die Fahrerlaubnis auf Antrag nicht sofort wieder erteilt werden muss/müsste, da insoweit die neue Rechtslage Anwendung findet. Es ist also zu überlegen, ob man nicht den Bescheid über die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtskräftig werden lässt und sogleich einen Antrag auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis stellt.