Revision III: Rügen in Zusammenhang mit Sky-ECC-Chat, oder: Verspätete Absetzung des Urteils

Und dann habe ich in diesem Posting noch einmal etwas zur Begründung der Revision, und zwar ausreichende Begründung von Verfahrensrügen (des Verteidigers.

Dazu weise ich zunächst hin auf den BGH, Beschl. v. 09.10.2024 – 2 StR 182/24 – , in dem es u.a. auch um die ausreichende Begründung von Verfahrensrügen in Zusammenhang mit Sky-ECC-Chats geht. Dazu der BGH:

„Mit ihren Verfahrensbeanstandungen kann die Revision nicht durchdringen.

1. Die Rüge, die frühzeitige Vernehmung des Ermittlungsführers der Polizei verstoße „gegen §§ 250, 261 StPO sowie den Grundsatz Fair Trial“, ist unbegründet. Die Reihenfolge der Vernehmung von Zeugen steht im pflichtgemäßen richterlichen Ermessen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 58 Rn. 4; KK-StPO/Bader, 9. Aufl., § 58 Rn. 3, jeweils mwN). Dieses ist hier offensichtlich nicht verletzt.

2. Soweit die Revision eine „Aufklärungsrüge hinsichtlich Verwertbarkeit der Chat[s] aus SKY ECC“ erhebt, kann dahinstehen, ob die nur auszugsweise Wiedergabe eines Ablehnungsbeschlusses oder das Fehlen eines in diesem Ablehnungsbeschluss in Bezug genommenen Anwaltsschriftsatzes zur Unzulässigkeit der Rüge führt. Die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Aus den Gründen des Beschlusses der Strafkammer vom 5. Juni 2023, mit dem sie den Antrag auf „Vervollständigung der Chats“ und auf Beiziehung der „originalen“ Rohdaten zur Akte abgelehnt hat, musste sich die Strafkammer nicht zu weiteren Ermittlungen dazu gedrängt sehen, ob die französischen Behörden verfahrensrelevante Daten zurückhalten und diese auf erneute Aufforderung zu erlangen gewesen wären. Anhaltspunkte dafür, dass einzelne für das Verfahren relevante Chats aus den „Originaldaten“ zurückgehalten oder inhaltlich verändert worden waren, sind auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens nicht ersichtlich. Eine sachgerechte Verteidigung war dem Angeklagten möglich.

3. Zu der „Aufklärungsrüge hinsichtlich Übersetzungen der verschiedenen Chats“ und der „Rüge der fehlerhaften Bescheidung des Beweisantrags hinsichtlich Eurojust und Kenntnis der deutschen Vertreter bzgl. franz. Verfahren SKYECC“, befindet sich zwar eine ausreichend lesbare Revisionsbegründung in der Hauptakte, so dass § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt ist.

Ohne Rechtsfehler hat die Strafkammer aber den Antrag auf Neuübersetzung der SkyECC-Chats zurückgewiesen. Wie das Landgericht die Überzeugung vom Übereinstimmen der Übersetzung mit den fremdsprachigen Chatnachrichten gewann, blieb ihm nach Maßgabe der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) überlassen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. November 2018 – 3 StR 339/18; vom 13. Februar 2019 – 2 StR 485/18, Rn. 10). Die von der Revision angeführten „exemplarischen Übersetzungsfehler“ boten keinen Anlass für die Beiziehung weiterer Übersetzer, zumal die Strafkammer den Einwänden der Verteidigung auch durch Einvernahme der beteiligten Dolmetscher nachgegangen war.

Die Bewertung des Antrags auf Einvernahme deutscher Vertreter bei Europol und Eurojust als Beweisermittlungsantrag ist ebenso rechtsfehlerfrei wie die Annahme des Landgerichts, dass auch die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) vor dem Hintergrund der bereits erhobenen Beweise deren Einvernahme nicht gebiete.

4. Auch soweit die Revision eine fehlerhafte Bescheidung eines Beweisantrags „hinsichtlich der Kenntnis des deutschen Vertreters“ bei Eurojust rügt, befindet sich eine ausreichend lesbare Revisionsbegründung in der Hauptakte. Die Rüge ist gleichwohl unzulässig, weil die Revision versäumt, mit der Rüge den vom beanstandeten Ablehnungsbeschluss in Bezug genommenen weiteren Beschluss der Strafkammer vorzulegen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Rüge wäre auch unbegründet, da die Strafkammer zu Recht von einem Beweisermittlungsantrag ausgegangen ist, dem nachzugehen die Aufklärungspflicht nicht drängte.

5. Die Rüge eines Verstoßes gegen § 261 StPO wegen der Verwertung von SkyECC-Chats ist unzulässig. Die Revision versäumt es, die zur Begründung des – in einem Verwertungswiderspruch geltend gemachten – Verwertungsverbots in Bezug genommenen Dokumente (ein Haftbefehl, der aufgehoben worden sein soll, die Europäischen Ermittlungsanordnungen, ein französischer Beschluss „vom 16.12.2020″) vorzulegen. Damit sind die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen nicht so vollständig und so genau dargelegt, dass dem Senat allein auf Grund dieser Darlegung die Prüfung möglich wäre, ob der Verfahrensmangel festzustellen ist, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden.“

Und als zweite Entscheidung dann noch der auch nicht mehr ganz „taufrische“ OLG Celle, Beschl. v. 25.11.2024 – 2 ORs 127/24 – zur ausreichenden Begründung der Revision, mit der eine Verletzung des § 338 Nr. 7 geltend gemacht wird, also verspätete Absetzung des Urteils. Dazu das OLG:

1. Die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 7 i.V.m. § 275 Abs. 1 S. 2 StPO ist in der Regel zulässig erhoben, wenn der Beschwerdeführer das Datum der Urteilsverkündung, die Zahl der Haupt-verhandlungstage, den Fristablauf und den Eingang der schriftlichen Urteilsurkunde bei der Geschäftsstelle mitteilt.

2. Solange die Akten noch in Papierform geführt werden, geschieht die von § 275 Abs. 1 S. 5 StPO verlangte Dokumentation des Eingangs der vollständigen Urteilsgründe üblicherweise durch den Vermerk der Geschäftsstelle auf der Urteilsurschrift; angesichts dessen bedarf es für eine den Anforderungen gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügende Verfahrensrüge der Verlet-zung der Urteilsabsetzungsfrist über die Benennung des Eingangsvermerks der Geschäftsstelle hinaus nur dann der Mitteilung eines aktenkundigen richterlichen Vermerks, wenn dieser sich zu dem Umstand verhält, dass das unterschriebene Urteil „auf den Weg zur Geschäftsstelle“ verbracht wurde und insoweit einen vom Eingangsvermerk abweichenden, früheren Zeitpunkt benennt.

Revision II: Rüge eines Beweisverwertungsverbotes, oder: Wenn die allgemeine Sachrüge nicht reicht

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Im zweiten Posting stelle ich dann zwei Entscheidungen vor, die Revisionen der StA zum Gegenstand haben und von den Revisionsgerichten – BGH bzw. BayObLG – als unzulässig verworfen worden sind. Gibt es also auch 🙂 .

Es handelt sich zunächst um den BGH, Beschl. v. 22.01.2025 – 1 StR 107/24. Da heißt es beim BGH:

„1. Die Verfahrensrügen dringen nicht durch, weil sie nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechen und daher unzulässig sind.

a) Nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO sind die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau darzulegen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung in die Lage versetzt wird, über den geltend gemachten Mangel endgültig zu entscheiden. Für den Revisionsvortrag wesentliche Schriftstücke oder Aktenstellen sind im Einzelnen zu bezeichnen und – in der Regel durch wörtliche Zitate beziehungsweise eingefügte Abschriften oder Ablichtungen – zum Bestandteil der Revisionsbegründung zu machen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 12. Juli 2023 – 6 StR 417/22 Rn. 5 mwN).

b) Die Staatsanwaltschaft wird dem für keine der erhobenen Verfahrensbeanstandungen gerecht.

aa) Soweit sie eine Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) mit der Begründung rügt, das Landgericht habe die für die Prüfung des Beweisverwertungsverbots erforderlichen Prozesstatsachen nur unzureichend aufgeklärt, legt sie bereits nicht dar, weshalb sich dem Landgericht das Rechtshilfeersuchen an die US-amerikanischen Behörden zur Erlangung weiterer Informationen zur Identität des Drittlandes mit Blick auf die Beweisaufnahme aufdrängen musste. Nach den durch die Strafkammer in die Hauptverhandlung eingeführten Urkunden sieht sich das Federal Bureau of Investigation (FBI) weder jetzt noch in der Zukunft in der Lage, die Identität des Drittlandes freizugeben (vgl. Schreiben des US-Justizministeriums vom 22. Dezember 2021). Aus dem Schreiben des US-Justizministeriums vom 3. Juni 2021 ergibt sich zudem, „dass das FBI keine Zusicherung hinsichtlich zusätzlicher Unterstützung (…) macht, die das FBI oder der ursprüngliche Eigentümer der Informationen, wenn dies nicht das FBI ist, bereit sein könnte, zu leisten, um die Verwendung der Information in solchen Gerichtsverfahren zu erleichtern“. Anhaltspunkte, die aus der Sicht der Strafkammer eine hiervon abweichende Auskunft des US-Justizministeriums hinsichtlich der Identität des Drittlandes bzw. einer etwaigen deutschen Beteiligung erwarten ließen, lässt die Revisionsbegründung nicht erkennen. Sie ergeben sich insbesondere nicht aus der Beantwortung der in dem Verfahren pp.  der Generalstaatsanwaltschaft F.                            gestellten Rechtshilfeersuchen. Denn diese betrafen nach dem Revisionsvortrag die Zurverfügungstellung der vom FBI erhobenen Beweismittel sowie Ausführungen zu der Rechtmäßigkeit der Maßnahme aus amerikanischer Sicht und gerade nicht Informationen zu dem Drittland, das um Vertraulichkeit gebeten hatte.

bb) Die Beanstandung der Verletzung des § 261 StPO in Form einer Ausschöpfungsrüge mit der Begründung, das Landgericht habe zu Unrecht angenommen, die Erkenntnisse aus dem sichergestellten Chatverkehr des Angeklagten über den Krypto-Messengerdienst Anom seien nicht verwertbar, ist bereits deshalb unzulässig, weil die Revision keinen vollständigen Vortrag dazu enthält, ob die Chat-Nachrichten zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2023 – 1 StR 316/23 unter 1.; vgl. auch Sander in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 261 Rn. 266). Die Beschwerdeführerin trägt lediglich vor, dass das Selbstleseverfahren durchgeführt und die „ANOM-Chats (…) als Urkunden im Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO eingeführt wurden“, ohne die Protokollierung des Abschlusses der Selbstlesung (§ 249 Abs. 2 Satz 3 StPO) mitzuteilen. Dieser Vortrag wäre aber zur Prüfung einer Verletzung des § 261 StPO durch Nichtausschöpfung zu berücksichtigender Beweismittel erforderlich gewesen; denn dem Tatgericht ist es ohne die abschließende Feststellung (§ 249 Abs. 2 Satz 3 StPO) verwehrt, die Urkunde zur Urteilsfindung heranzuziehen (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 2012 – 5 StR 412/12, BGHSt 58, 61 Rn. 9). Erst durch die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO wird beweiskräftig vollzogen, dass der außerhalb der Hauptverhandlung erhobene Urkundsbeweis dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 – 3 StR 76/10 Rn. 10).“

Und als zweite Entscheidung dann das BayObLG, Urt. v. 03.02.2025 – 203 StRR 573/24, mit folgendem Leitsatz:

Die Begründung der Revision allein mit der allgemeinen Sachrüge ist nicht ausreichend, wenn sich die Revision gegen ein Urteil mit mehreren selbständigen Tatvorwürfen richtet, da dann der Umfang des Revisionsan­griffs unklar bleibt.

 

 

 

 

Revision I: Unkenntnis des Gerichts von der Revision, oder: Nachträgliche Ergänzung der Urteislsgründe?

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Heute ist dann mal wieder ein Revisionstag, also Entscheidungen aus dem Revisionsverfahren.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem BGH, Beschl. v. 25.02.2025 – 5 StR 719/24. Es geht in der Entscheidung um die Frage der Zulässigkeit der Ergänzung der Urteilsgründe im Revisionsverfahren. Wenn man es liest, stutzt man, aber: Es kann gehen/zulässig sein.

Das LG hat den Angeklagten wegen Brandstiftung in mehreren Fällen verurteilt. Dagegen die Revision, mit der der Angeklagte einen Verstoß gegen § 338 Nr. 7 StPO geltend gemacht hatte. Die Revision hatte keinen Erfolg:

„1. Entgegen der Auffassung der Revision war das Landgericht berechtigt, das zunächst abgekürzt abgefasste Urteil nach Kenntnis vom Eingang der Revisionseinlegung in entsprechender Anwendung von § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO zu ergänzen, so dass die Rüge nach § 338 Nr. 7 StPO unbegründet ist (vgl. zur unterschiedlichen revisionsrechtlichen Behandlung des gerügten Mangels BGH, Beschluss vom 15. Mai 2024 – 3 StR 450/23, NJW 2024, 2340 mwN).

a) Dem liegt folgender Verfahrensgang zu Grunde: Nachdem das Urteil am 12. Juni 2024, dem vierten Hauptverhandlungstag, in Anwesenheit des Angeklagten und seines Verteidigers gesprochen worden war, legte der Angeklagte über seinen Verteidiger am 13. Juni 2024 form- und fristgerecht Revision ein. Der Schriftsatz wurde wirksam elektronisch an das Landgericht übermittelt, aber vom Geschäftsstellenbeamten aufgrund einer „technischen Fehlbedienung“ nicht abgerufen und vorgelegt, so dass die für die Urteilsabfassung zuständigen Richter keine Kenntnis davon hatten. Sie fassten deshalb ein abgekürztes Urteil ab. Dieses ging – mit einem Rechtskraftvermerk versehen – dem Verteidiger am 26. August 2024 mit einfacher Post zu. Der Verteidiger rief am gleichen Tag den Vorsitzenden der Strafkammer an und zeigte sich über den Rechtskraftvermerk verwundert. Auf Aufforderung des Vorsitzenden ermittelte der zuständige Geschäftsstellenbeamte, dass die Revisionseinlegung unbearbeitet im elektronischen Postfach lag. Am folgenden Tag forderte der Vorsitzende die Akten an, die unmittelbar anschließend bei ihm eingingen. Die Strafkammer fasste daraufhin ein ergänztes vollständiges Urteil ab und gab dieses am 7. Oktober 2024 auf die Geschäftsstelle. Es wurde dem Verteidiger anschließend zugestellt.

b) Das Gericht war zur Ergänzung der Urteilsgründe in entsprechender Anwendung von § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO berechtigt.

aa) Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass die Möglichkeit zu späterer Urteilsergänzung in entsprechender Anwendung von § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO besteht, wenn das Gericht unverschuldet keine Kenntnis von der Revisionseinlegung hatte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. Mai 2024 – 3 StR 450/23, NJW 2024, 2340 mit zust. Anm. Peglau jurisPR-StrafR 15/2024 Anm. 3; vom 29. April 2024 – 6 StR 18/23; vom 4. Oktober 2017 – 3 StR 397/17; vom 20. Dezember 2011 – 2 StR 405/11, NStZ-RR 2012, 118; vom 12. Juni 2008 – 5 StR 114/08, BGHR StPO § 267 Abs. 4 Ergänzung 2; vom 8. August 2001 – 5 StR 211/01, Becker, NStZ-RR 2002, 257, 261; vgl. auch BGH, Beschluss vom 9. Februar 1990 – 2 StR 638/89, bei Holtz MDR 1990, 490; KG, Beschluss vom 15. September 2022 – 121 Ss 118/22, StraFo 2022, 471; BayObLG, Beschluss vom 23. Juli 2020 – 201 ObOWi 881/20).

Der Gesetzgeber hat die Folgen eines solchen Geschehens nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt, so dass eine Lücke vorliegt. Diese ist auch planwidrig, weil sie keiner bewussten Entscheidung des Gesetzgebers entspricht. Dass er im Zuge der Gesetzesänderungen zur elektronischen Aktenführung und zum elektronischen Rechtsverkehr insoweit – anders als für andere Konstellationen (vgl. etwa § 32a Abs. 6, § 32d Satz 3, 4 StPO; dazu BT-Drucks. 18/9416, S. 47 f., 51) – keine Sonderregelung getroffen hat, lässt sich sowohl nach der Gesetzessystematik als auch nach den Gesetzesmaterialien nicht als bewusste, eine planwidrige Regelungslücke ausschließende Entscheidung verstehen (BGH, Beschluss vom 15. Mai 2024 – 3 StR 450/23, NJW 2024, 2340). Konnte das Gericht von der Revisionseinlegung keine Kenntnis haben und daher die Voraussetzungen für ein abgekürztes Urteil als gegeben erachten, liegt eine vergleichbare Sachlage vor, wie sie der Gesetzgeber mit § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO geregelt hat. In solchen Fällen besteht die Möglichkeit der Ergänzung, um zu verhindern, dass ein Urteil nur deshalb aufgehoben wird, „weil die zur Nachprüfung durch das Revisionsgericht erforderlichen Feststellungen fehlen, deren Angabe das Gericht bei der Urteilsabsetzung für entbehrlich halten durfte“ (vgl. BT-Drucks. 7/551, S. 82; BGH aaO). Die der Prozessökonomie dienende Möglichkeit der Urteilsabkürzung nach § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO wäre zudem faktisch erheblich eingeschränkt, wenn die Gerichte erwarten müssten, abgekürzte Urteilsgründe im Falle eines ihnen nicht bekannten Rechtsmittels nicht mehr ergänzen zu können, und daher vorsorglich davon keinen Gebrauch machen (vgl. BGH aaO).

Allerdings ist eine entsprechende Anwendung wegen des Ausnahmecharakters der Vorschrift auf eng umgrenzte Sachverhalte zu beschränken, in denen das für die Urteilsabfassung zuständige Gericht von der Rechtsmitteleinlegung weder Kenntnis hatte noch nach den konkreten Umständen hätte haben müssen (BGH aaO; vgl. auch KG, Beschluss vom 15. September 2022 – 121 Ss 118/22, StraFo 2022, 471). Abzustellen ist dabei auf die Mitglieder des erkennenden Gerichts, die das Urteil abzufassen haben, denn an sie richtet sich § 267 StPO (vgl. auch Peglau jurisPR-StrafR 15/2024 Anm. 3).

bb) Die Voraussetzungen einer entsprechenden Anwendung von § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO liegen nach diesen Maßstäben vor. Ein Verschulden der für die Urteilsabsetzung zuständigen Mitglieder der erkennenden Strafkammer an ihrer Unkenntnis von der Revisionseinlegung ist nicht ersichtlich. Ihnen war die Revisionseinlegung nicht vorgelegt worden und sie hatten – soweit ersichtlich – auch sonst keine Kenntnis von diesem Umstand. Zwar lag kein „technischer“ Fehler vor (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 15. Mai 2024 – 3 StR 450/23, NJW 2024, 2340), sondern – wie die Revision zutreffend vorträgt – eine Fehlbedienung. Allerdings waren die Kammermitglieder hierfür nicht verantwortlich. Der Fall gleicht damit denjenigen bereits vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fällen, in denen eine Revisionseinlegung zwar wirksam bei der Poststelle des Gerichts eingegangen war (vergleichbar dem Eingang im elektronischen Postfach), dies aber – ohne dass ein technischer Fehler vorlag – den für die Urteilsabsetzung zuständigen Mitgliedern der erkennenden Strafkammer aus von ihnen nicht zu vertretenden Gründen unbekannt blieb (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. April 2024 – 6 StR 18/23: Revisionseinlegung der Staatsanwaltschaft geht zwar auf der Poststelle ein, gelangt aber nicht zu den Akten; vom 4. Oktober 2017 – 3 StR 397/17: Revision des Angeklagten geht rechtzeitig per Fax ein, gelangt nicht zu den Akten, sondern wird später in einem Lastenaufzug gefunden; vom 20. Dezember 2011 – 2 StR 405/11, NStZ-RR 2012, 118: die Revision wird rechtzeitig eingelegt, kann aber im Geschäftsgang verloren gegangen sein, zu den Akten gelangt sie nicht; ebenso Peglau jurisPR-StrafR 15/2024 Anm. 3).

c) Weil das in zulässiger Weise entsprechend § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO ergänzte Urteil innerhalb der am 27. August 2024 mit Akteneingang neu beginnenden Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO vollständig auf die Geschäftsstelle gelangt ist, liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO nicht vor.“

Strafe III: Vollzug zur Verteidigung der Rechtsordnung?, oder: Meistens Zwei-Drittel-Entlassung beim Ersttäter

© rcx – Fotolia.comUnd dann noch zwei Entscheidungen, die sich mit Bewährungsfragen befassen.

Zunächst das BayObLG, Urt. v. 17.03.2025 – 203 StRR 613/24, das ich bereits einmal vorgestellt habe (vgl. hier: TOA III: Wiedergutmachungserfolg als Voraussetzung?, oder: Schweigen des Opfers). Zur Bewährung dann folgender Leitsatz:

Strafaussetzung zur Bewährung kann nach § 56 Abs. 3 StGB nur versagt werden, wenn sie für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts erschüttert und von der Allgemeinheit als ungerechtfertigtes Zurückweichen vor der Kriminalität angesehen werden könnte.

Und als zweite Entscheidung dann noch der OLG Brandenburg, Beschl. v. 22.05.2025 – 1 Ws 58/25 – mit folgendem Leitsatz:

1.Bei einem Verurteilten, der erstmalig eine Freiheitsstrafe verbüßt, ist nach obergerichtlicher Rechtsprechung im Allgemeinen davon auszugehen, dass er nach Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe durch die Strafvollstreckung so nachhaltig beeinflusst sein wird, dass er sich zukünftig straffrei verhält.

2. Strafaussetzung zur Bewährung kann nach § 56 Abs. 3 StGB nur versagt werden, wenn sie für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts erschüttert und von der Allgemeinheit als ungerechtfertigtes Zurückweichen vor der Kriminalität angesehen werden könnte.

Strafe II: Richtige Bemessung der Tagessatzhöhe, oder: Veränderung der Einkommensverhältnisse sicher?

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Im zweiten Posting dann der BGH, Beschl. v. 24.04.2025 – 2 StR 464/24. Der BGH äußert sich zur richtigen Bemessung der Tagessatzhöhe.

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchter Nötigung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 80 EUR verurteilt. Die dagegen gerichtete, auf die Höhe des Tagessatzes beschränkte, Revision, mit der der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, hatte Erfolg:

„1. Das Rechtsmittel ist wirksam auf die Bemessung der Tagessatzhöhe beschränkt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. November 1976 – 1 StR 319/76, BGHSt 27, 70, 73, und vom 25. April 2017 – 1 StR 147/17, StraFo 2017, 338). Ein Ausnahmefall, bei dem sich die Zumessungsakte zur Anzahl des Tagessatzes und dessen Höhe überschneiden, liegt nicht vor.

2. Die Revision ist auch begründet.

a) Die Strafkammer hat die von ihr festgesetzte Tagessatzhöhe von 80 Euro auf folgende Feststellungen gegründet:

Der vielfach vorbestrafte, gelegentlich Crack konsumierende und wiederholt inhaftierte Angeklagte wurde zuletzt am 16. April 2024 aus der Strafhaft entlassen. Die der hiesigen Verurteilung zugrundeliegende Hauptverhandlung begann am darauf folgenden Tag. Dort erklärte er, er habe 1997 eine Umschulung zum Konstruktionsmechaniker absolviert und sich anschließend im Bereich der Schweißtechnik fortgebildet. In der Folgezeit habe er ein Kleingewerbe für Schweißarbeiten betrieben, welches er 2022 aufgegeben habe. Seitdem gehe er keiner geregelten Tätigkeit mehr nach, verrichte jedoch Gelegenheitsarbeiten im Bereich der Schweißtechnik und könne auch nach seiner jetzigen Haftentlassung in diesem Bereich weiterarbeiten. Sein monatliches mit dieser Tätigkeit zu erwirtschaftendes Einkommen betrage „ca. 2.500 EUR“. Unterhaltsverpflichtungen bestünden keine.

b) Diese von der Strafkammer als glaubhaft gewerteten Angaben rechtfertigen die Festsetzung einer Tagessatzhöhe von 80 Euro nicht.

aa) Die Höhe eines Tagessatzes bestimmt sich unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters (§ 40 Abs. 2 Satz 1 StGB). Dabei ist grundsätzlich vom Nettoeinkommen auszugehen, das der Täter an einem Tag hat oder haben könnte (§ 40 Abs. 2 Satz 2 StGB). Nicht zum Nettoeinkommen gehören die laufenden Steuern, bei Unselbständigen die Sozialversicherungsbeiträge, bei Selbständigen die Betriebsausgaben, die Verluste, die Werbungskosten, ferner Kranken- und Altersversicherung sowie weitere Versicherungsleistungen, die der Sozialversicherung der Unselbständigen vergleichbar sind (vgl. Fischer/Lutz in Fischer, StGB, 72. Aufl., § 40 Rn. 13; LK-StGB/Werner, 14. Aufl., § 40 Rn. 27a, jeweils mwN). Jedoch erschöpft sich die Festlegung der Tagessatzhöhe nicht in einer mechanischen Berechnung. Vielmehr handelt es sich um einen wertenden Akt richterlicher Strafzumessung, der dem Tatrichter Ermessensspielräume hinsichtlich der berücksichtigungsfähigen Faktoren belässt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. April 2017 – 1 StR 147/17, BGHR StGB § 40 Abs. 2 Satz 1 Einkommen 6 Rn. 7, und vom 14. Januar 2021 – 1 StR 242/20, Rn. 5). Maßgebend sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der tatgerichtlichen Entscheidung (vgl. BGH, Beschluss vom 27. März 1979 – 1 StR 503/78, BGHSt 28, 360, 362; MüKo-StGB/Radtke, 4. Aufl., § 40 Rn. 71 mwN). Eine Ausnahme gilt allerdings dann, wenn die Veränderung der Einkommensverhältnisse bereits im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung mit Sicherheit zu erwarten ist und die Veränderung nicht lediglich von vorübergehender Dauer sein wird (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 1976 – 3 StR 8/76, BGHSt 26, 325, 329; Fischer/Lutz in Fischer, aaO, § 40 Rn. 6a; MüKo-StGB/Radtke, aaO, § 40 Rn. 71; NK-StGB/Albrecht, 6. Aufl., § 40 Rn. 43). Die Berücksichtigung zukünftig zu erzielender Einnahmen setzt dabei hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine fundierte richterliche Überzeugung von der künftigen Entwicklung der Einkommensverhältnisse voraus (BGH, aaO, S. 326). Zudem ist zu beachten, dass bei einem im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung arbeitslosen Täter selbst bei einer mit Sicherheit zu erwartenden zeitnahen Arbeitsaufnahme die wirtschaftliche Lebenssituation nicht sofort wieder durch die Höhe des Erwerbslohns bestimmt wird (vgl. MüKo-StGB/Radtke, aaO, § 40 Rn. 72; Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl., § 40 Rn. 10; vgl. auch BGH, Beschluss vom 28. April 1976 – 3 StR 8/76, BGHSt 26, 325, 330).

bb) Diesen Maßstäben genügt die Festsetzung der Tagessatzhöhe durch die Strafkammer nicht. Sie hat ihr lediglich die Erwartung des Angeklagten zugrunde gelegt, nach seiner Haftentlassung im Bereich der Schweißtechnik durch Gelegenheitsarbeiten „2.500 EUR“ erzielen zu können. Auf welcher Tatsachengrundlage die Erwartung des Angeklagten, der sich im Urteilszeitpunkt bereits wieder einen Monat in Freiheit befand, basiert, lassen die Urteilsgründe offen. Allein der Umstand, dass der Angeklagte vormals durch Gelegenheitsarbeiten im Bereich der Schweißtechnik derartige Einkünfte erzielte, belegt eine gesicherte Erwartung nicht. Darüber hinaus ist dem Senat eine Überprüfung des tatrichterlichen Ermessens bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe verschlossen. Denn die Urteilsgründe lassen offen, ob es sich bei den vom Angeklagten erwarteten Einkünften um solche aus einer selbständigen oder abhängigen Tätigkeit handelt und welche Berechnungspositionen in den Endbetrag von „2.500 EUR“ eingestellt worden sind.“