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„Vertretung“ des Pflichtverteidigers im Hafttermin, oder: „Unschönes“ aus Ludwigshafen

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Als zweite Entscheidung dann der „unschöne“ – und falsche – AG Ludwigshafen, Beschl. v. 03.03.2023 – 4a Ls 5227 Js 9474/22. Das AG hat zu der Frage Stellung genommen, welche Gebühren der nur für den „Hafttermin“ beigeordnete Pflichtverteidiger erhält. Das AG meint: Nur die Grundgebühr:

„Der Entscheidung zugrunde liegt folgender Sachverhalt:

Der mittlerweile verurteilte pp. wurde am 22.12.2021 vorläufig festgenommen und am 23.12.2021 dem Haftrichter des Amtsgerichts Mannheim vorgeführt, der Haftbefehl gegen den diesen erlassen hat. Laut Protokoll des Amtsgerichts Mannheim vom 23.12.2021 war Rechtsanwältin Pp1 „- als Vertreterin für RA pp2 anwesend. Der damals Beschuldigte erklärte im Termin laut Protokoll: „Ich möchte, dass mir RAin Pp1 nur für den Termin als Pflichtverteidigerin beigeordnet wird. RA pp2 soll mir für das gesamte Verfahren als Pflichtverteidiger beigeordnet werden“. Sodann wurde folgender Be-schluss erlassen:

„1. Dem Beschuldigten wird gemäß § 140 Abs. 1 Nr.4 StPO i.V.m. § 142 StPO Rechtsanwältin pp1 ausschließlich für die Haftbefehlseröffnung als Pflichtverteidigerin bestellt.

2. Dem Beschuldigten wird gemäß § 140 Abs. 1 Nr.4 StPO i.V.m. § 142 StPO Rechtsanwalt pp2 als Pflichtverteidiger für das gesamte Verfahren bestellt.“

Seit dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 ist die Vorführung des Beschuldigten nach §§ 115, 115a StPO zur Entscheidung über Haft ein Fall der notwendigen Verteidigung, mithin die Mitwirkung eines Verteidigers zwingend. Eine in diesem Rahmen erfolgende Beiordnung als Pflichtverteidiger ist grundsätzlich eine umfassende Beiordnung und nicht nur eine Beiordnung für den Termin, so dass regelmäßig auch davon auszugehen ist, dass die Grund- und Verfahrensgebühr mit der Beiordnung anfällt. Der Tatsache, dass entsprechende Vorführungen regelmäßig innerhalb kurzer Zeit nach vorläufiger Festnahme oder Ergreifung erfolgen müssen und der Betroffene damit nur kurze Zeit hat von seinem Wahlrecht Ge-brauch zu machen, trägt das Gesetz durch die Möglichkeit des Verteidigerwechsels nach § 143 a Abs.2 Nr.1 StPO Rechnung.

Im vorliegenden Verfahren hatte der Beschuldigte bereits im Vorfeld der Vorführung von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Gemäß der Beschuldigtenvernehmung des pp. vom 22.12.2021 (BI. 21 d.A.) hat dieser nach entsprechender Belehrung angegeben, anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen. Hierauf wurde Rechtsanwalt pp2 in Kenntnis gesetzt, der auch vor Ort erschien. Vermerkt ist weiter, dass sich Rechtsanwalt da er zum Termin beim Haftrichter nicht anwesend sein könne, um Ersatz kümmern werde. Es ist insofern davon auszugehen, dass Rechtsanwältin Pp1 durch Rechtsanwalt pp.2  gebeten wurde, den Termin beim Haftrichter für ihn wahrzunehmen. Damit handelte es sich, wie auch im Protokoll vom 23.12.2021 vermerkt und mit dem erfolgten Beiordnungsbeschluss dokumentiert, um eine Terminsvertretung durch Rechtsanwältin Pp1.

Die kostenrechtliche Folge einer solchen Terminsvertretung ist umstritten. Teilweise wird von einem doppelten Anfall der Grund- und Verfahrensgebühr ausgegangen, teilweise wird dies abgelehnt. Soweit hinsichtlich der jeweiligen Ansichten sowohl von der Erinnerungsführerin als auch der Bezirksrevisorin Entscheidungen zitiert wurden, treffen diese jeweils nicht den konkret hier vorliegenden Fall. Zwar wird bei einem einvernehmlichen Pflichtverteidigerwechsel im laufenden Verfahren regelmäßig ein entsprechender Verzicht auf die Geltendmachung der entsprechenden Gebühren durch einen Verteidiger erwartet, um mehrfache Gebührenentstehungen zu vermeiden, vorliegend ist jedoch aufgrund der entsprechenden gesetzlichen Regelung zwingend eine Verteidigung im Termin notwendig und aufgrund des Erfordernisses einer zeitnah nach der Festnahme zu erfolgenden Vorführung vor den Haftrichter eine Teilnahme des gewünschten Verteidigers häufig nicht möglich. Aufgrund dieser zeitlichen Komponente weicht der Fall auch von Terminsvertretungen im Rahmen von Hauptverhandlungen ab, bei denen sowohl Gericht als auch Verteidigung in der Regel einen weit größeren Spielraum haben, Termine zu finden, die vom (Pflicht-)verteidiger wahrgenommen werden können und eine Vertretung damit nicht erforderlich machen. Erfolgt eine Terminsvertretung gleichwohl wegen Terminskollisionen des Verteidigers mag es in so gelagerten Fällen sachgerecht sein, dass sich dies gebührenrechtlich zu Lasten der Verteidiger auswirkt. Weshalb die vom Gesetzgeber durch die Einführung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung getroffene Entscheidung zur Notwendigkeit der Verteidigung dagegen kostenrechtlich zu Lasten des die Verteidigung im Vorführungstermin übernehmenden Verteidigers oder des vom Betroffenen innerhalb der drei Wochenfrist gewählten Verteidigers erfolgen soll, ist nicht ersichtlich. Es ist auch nicht so, dass die Grundgebühr im Verfahren nur einmal anfallen kann, da diese personenbezogen (auf den Verteidiger) ist. Insoweit ist anzumerken, dass in der von der Bezirksrevisorin zum einverständliche Pflichtverteidigerwechsel angeführten Kommentierung (Anlage 6) wiederum nur Bezug genommen wird auf Entscheidungen, die vor der Einführung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, insbesondere der Regelung des § 143 a Abs. 2 Nr. 1 StPO, ergangen sind.

Regelmäßig werden Grund- und Verfahrensgebühr zusammen treffen, allerdings haben beide einen eigenen Abgeltungsbereich. Die Grundgebühr entsteht grundsätzlich bei Übernahme des Mandats und erfasst eine erstmalige Einarbeitung u.a. auch das erste Gespräch mit dem Mandanten. Diese ist damit auch im vorliegenden Fall entstanden.

Die Verfahrensgebühr entsteht dagegen mit der ersten Tätigkeit, die der Rechtsanwalt aufgrund des Auftrags, die Verteidigung im Ganzen zu übernehmen, erbringt. Eine solche Übernahme ist vorliegend jedoch gerade nicht erfolgt.“

Nun ja, gant falsch ist der Beschluss nicht. Denn richtig ist zumindest, dass nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG abgerechnet wird. Aber: Es entstehen auch in dem Fall alles Gebühren, also Grundgebühr, Verfahrensgebühr und Terminsgebühr. Warum das AG die Terminsgebühr nicht festgesetzt hat, erschließt sich mir nicht. Und wenn man die Grundgebühr bejaht, muss man auch die Verfahrensgebühr bewilligen. Denn Grundgebühr und Verfahrensgebühr entstehen immer (!!) nebeneinander. Das war gerade der Sinn der Neuregelung an der Stelle vor einigen Jahren.

Pflichti III: Bestellung in der Strafvollstreckung, oder: Bestellung im Bußgeldverfahren

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Und dann zum Schluss noch zwei Entscheidungen zu den Beiordungsgründen. Beide Entscheidungen betreffen nicht das „normale“ Erkenntnisverfahren, sondern einmal das Bußgeldverfahren und einmal die Strafvollstreckung, und zwar:

Liegt bei dem Verurteilten eine leichte Intelligenzminderung vor und ist ein Sachverständigengutachten zur Gefährlichkeit des Verurteilten erstattet, ist ihm im Strafvollstreckungsverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen.

Dem Betroffenen ist auch im Bußgeldverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn die konkreten Umstände des Einzelfalls das erfordern. Das ist ausnahmsweise dann der Fall, wenn bereits eine erste Verurteilung des Betroffenen ist auf seine Rechtsbeschwerde vom OLG hin aufgehoben worden ist und die durchzuführende Hauptverhandlung sich maßgeblich an den Ausführungen des OLG zu orientieren hat, wobei die insoweit gebotene Auseinandersetzung mit den optischen Fehlerquellen einer Messung namentlich unter Berücksichtigung der Sichtverhältnisse und die juristische Bewertung der Messmethode von einem juristischen Laien nicht erwartet werden kann.

 

Pflichti I: Beschuldigter nach Tatvorwurfseröffnung, oder: Manifestation des Verfolgungswillens

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Und dnan mal wieder etwas zur Plfichtverteidigung.

Den Opener macht der BGH, Beschl. v. 09.02.2023 – StB 3/23 – mit folgendem Sachverhalt:

Der GBA führt unter dem Aktenzeichen 2 BJs 450/20-2 gegen Unbekannt und weitere namentlich bekannte Personen ein Ermittlungsverfahren wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung gemäß § 129 StGB und anderer Straftaten. Beschuldigter in diesem Verfahren war neben anderen Personen auch der Beschwerdeführer (in dieser Sache). Mit Verfügung vom 07.05.2021 hat der GBA das gegen den Beschuldigten gerichtete Verfahren abgetrennt und diesen neben anderen unter dem Aktenzeichen 2 StE 7/21-2 vor dem OLG Dresden angeklagt. Die diesbezügliche Hauptverhandlung dauert an.

Unter dem 17.10.2022 hat der Beschwerdeführer in dem Verfahren 2 BJs 450/20-2 die Beiordnung von Rechtsanwalt M. aus L. als Pflichtverteidiger beantragt mit der Begründung, in der Hauptverhandlung vor dem OLG Dresden sei durch die Einführung von Schriftstücken bekannt geworden, dass das genannte Ermittlungsverfahren weiterhin auch gegen ihn betrieben werde. Der Beschwerdeführer werde dort auch über den Zeitpunkt der Abtrennung hinaus als Tatverdächtiger (Auswertung eines Gutachtens durch das Landeskriminalamt vom 07.06.2021, Anforderung einer kriminaltechnischen Vergleichsarbeit vom 04.082021) bzw. Beschuldigter (Vermerk des Landeskriminalamts vom 20.09.2021) bezeichnet.

Mit Schreiben vom 19.10.2022 hat der GBA dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass er weder formal noch materiell Beschuldigter des in Rede stehenden Ermittlungsverfahrens sei.

Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim BGH keinen Erfolg hatte.

„Die zulässige, insbesondere mit Blick auf § 311 Abs. 2 StPO fristgerechte sofortige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.

Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO wird bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen demjenigen Beschuldigten ein Pflichtverteidiger bestellt, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist. Hieran fehlt es vorliegend, und zwar unabhängig davon, ob unter der Eröffnung des Tatvorwurfs lediglich die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens (vgl. KK-StPO/Willnow, 9. Aufl., § 141 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 141 Rn. 3) oder darüber hinaus auch die Kenntniserlangung in sonstiger auf die Strafverfolgungsbehörde zurückgehender Weise (vgl. LG Magdeburg, Beschluss vom 24. Juli 2020 – 25 Qs 233 Js 9703/19 [65/20], StV 2021, 162; BeckOK StPO/Krawczyk, 45. Ed., § 141 Rn. 4; SSW-StPO/Beulke/Salat, 5. Aufl., § 141 Rn. 13; BT-Drucks. 19/13829 S. 36) zu verstehen ist. Im Einzelnen:

1. Regelmäßig wird der Verfolgungswille der Strafverfolgungsbehörde durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juni 2019 – StB 14/19, NStZ 2019, 539 Rn. 30; Urteil vom 23. Juli 1986 – 3 StR 164/86, BGHSt 34, 138, 140; Meyer/Goßner/Schmitt, aaO, Einl. Rn. 76, jeweils mwN). Eine derartige Vorgehensweise des Generalbundesanwalts nach Abtrennung des gegen den Beschwerdeführer gerichteten Verfahrensteils ist mit der Beschwerde nicht dargelegt worden und auch sonst nicht ersichtlich.

2. Aber auch die Bezeichnung des Beschwerdeführers als Tatverdächtigen oder Beschuldigten in den mit der Beschwerde angeführten Schriftstücken lässt eine zureichende Manifestation des erforderlichen Verfolgungswillens des Generalbundesanwalts nicht erkennen. Ob eine solche gegeben ist, beurteilt sich danach, wie sich das Verhalten des ermittelnden Beamten nach außen, insbesondere in der Wahrnehmung des davon Betroffenen darstellt (BGH, Beschluss vom 6. Juni 2019, aaO). Nach diesem Maßstab ist von Belang, dass die in Bezug genommenen Schriftstücke nur verhältnismäßig kurze Zeit nach der Verfahrensabtrennung entstanden sind, das dem Datum 4. August 2021 zugeordnete in Wahrheit bereits am 1. Juni 2021. Sie enthielten – wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift vom 7. November 2022 im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat – jeweils Ergebnismitteilungen zu nicht gegen den Beschwerdeführer gerichteten Ermittlungsaufträgen, die ihrerseits deutlich vor dem 7. Mai 2021 erteilt worden waren. Bei dieser Sachlage konnte der Beschwerdeführer ersichtlich nicht davon ausgehen, dass die Bezeichnung seiner Person mit den Begriffen Beschuldigter bzw. Tatverdächtiger als Manifestation eines ihn betreffenden Verfolgungswillens der Strafverfolgungsbehörden aufzufassen war; naheliegend war vielmehr eine auf Unkenntnis oder Nachlässigkeit des jeweiligen Verfassers zurückzuführende Unvollständigkeit der Bezeichnung, die darin lag, dass die Verwendung eines Zusatzes wie etwa „vormals“ unterblieb. Es kommt hinzu, dass der Generalbundesanwalt mit Schreiben vom 19. Oktober 2022 ausdrücklich klargestellt hat, den Beschwerdeführer in dem in Rede stehenden Ermittlungsverfahren nicht als Beschuldigten zu betrachten, so dass zumindest ab diesem Zeitpunkt von einer Manifestation eines Verfolgungswillens gegenüber dem Beschwerdeführer keine Rede mehr sein kann.

3. Anhaltspunkte dafür, dass der Generalbundesanwalt dem Beschwerdeführer eine verfahrensmäßige Stellung als Beschuldigter willkürlich vorenthielte (zum Maßstab der Willkür in diesem Zusammenhang vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juni 2019, aaO), bestehen nicht, wie auch der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs im Ergebnis zutreffend angenommen hat.“

Pflichti III: Auferlegung der Kosten nach Aussetzung, oder: Offen, ob auch wegen „Krawallverteidigung“?

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Und als letzte Entscheidung dann noch der OLG München, Beschl. v. 31.08.2022 – 4 Ws 13/21 -, also schon etwas älter. Den Beschluss habe ich leider immer wieder übersehen. Heute dann aber endlich.

Das OLG München hat in der Entscheidung über die Frage entschieden, ob einem Pflichtverteidiher die Kosten auferlegt werden können, nachdem die Hauptverhandlung ausgesetzt worden ist. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem es „hoch hergegangen“ ist. Wie hoch, das ist bitte dem verlinkten Volltext zu entnehmen; das Verfahren hat im Übrigen auch die überörtliche Presse „beschäftigt“. In dem Verfahren ist es richtig hin und her gegangen. Schließlich hat das LG das Verfahren ausgesetzt und einem der Verteidiger die Kosten auferlegt. Die konkrete Begründung teilt der OLG-Beschluss (leider) nicht mit. Jedenfalls scheint man aber wohl § 145 Abs. 4 StPO auf andere als die in § 145 Abs. 1 StPO genannten Fälle, insbesondere solche der Konflikt- und Krawallverteidigung, analog angewendet zu haben. Gegen den Beschluss das Rechtsmittel, das Erfolg hatte:

„1. Gegen die Auferlegung der Kosten des Verfahrens gemäß § 145 Abs. 4 StPO ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO die Beschwerde statthaft. Das als Antrag auf Aufhebung bezeichnete Schreiben des Beschwerdeführers vom 01.12.2020 zielt auf die Beseitigung des als rechtsfehlerhaft angesehenen Beschlusses ab und war daher als Beschwerde auszulegen.

Die Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere ist der Beschwerdewert (§ 304 Abs. 3 StPO) überschritten und die Schriftform (§ 306 Abs. 1 StPO) gewahrt.

2. Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg, weil ein schuldhaftes Verhalten des Beschwerdeführers iSv § 145 Abs. 1 StPO nicht festgestellt werden konnte.

a) Der Beschwerdeführer ist im Termin vom 19.10.2020 zwar ausgeblieben, weil er trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschien, jedoch war der Pflichtverteidiger Rechtsanwalt M. anwesend. Dieser war entgegen der im angefochtenen Beschluss vertretenen Ansicht auch zur Verteidigung bereit und in der Lage. Er machte von seinem Fragerecht im Rahmen der fortgesetzten Vernehmung der Zeugin A. K. Gebrauch und verhandelte über mehrere Stunden zur Sache. Da er an den vorhergehenden Verhandlungstagen, insbesondere zB. am 07.10.2020, ebenfalls zur Sache verhandelt und die Kammer den Angeklagten als ausreichend verteidigt angesehen hatte, musste der Beschwerdeführer auch nicht davon ausgehen, dass der Pflichtverteidiger die Verteidigung am 19.10.2020 nicht mehr sachgerecht würde wahrnehmen können. Ein Fall von § 145 Abs. 1 StPO lag daher am 19.10.2020 nicht vor (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage 2022, § 145 Rn 5).

Zum Termin 09.11.2020 war der Beschwerdeführer nach Aktenlage nicht ordnungsgemäß geladen, was bereits einem schuldhaften Ausbleiben entgegensteht. Ein solches war aber auch deshalb nicht möglich, weil der Termin bereits am 19.10.2020 auf Antrag des Pflichtverteidigers abgesetzt worden war. Dieser hatte für den 09.11. und 16.11. Verhinderung angezeigt und die Kammer eine Verhandlung mit dem Beschwerdeführer ausweislich des Aussetzungsbeschlusses nicht für angezeigt gehalten. Ein Ausbleiben in einem abgesetzten Termin ist schon begrifflich nicht möglich.

Die Kammer durfte auch nicht davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer den Hauptverhandlungsterminen im Falle deren Nichtabsetzung vom 09.11. und 16.11. fernbleiben würde, denn er hatte bereits am 27.08.2020 angezeigt, an diesen Tagen verfügbar zu sein und auch später keine Verhinderung mitgeteilt. Seine Mitteilung vom 14.09.2020, vor einer Klärung der angeblichen Vorkommnisse vom 18.08.2020, namentlich der verhaltensbedingten zwangsweisen Entfernung des Rechtsanwalts R. aus dem Sitzungssaal, nicht weiter an der Hauptverhandlung teilnehmen zu können oder zu wollen, war dadurch überholt, dass er am 06.10.2020 aufgrund einer krankheitsbedingten Verhinderung Verlegung des Hauptverhandlungstermins vom 07.10.2020 beantragte, woraus zu schließen ist, dass er an diesem Termin teilnehmen wollte, obwohl eine Klärung der fraglichen Ereignisse noch nicht erfolgt war. Die Kammer konnte daher jedenfalls nicht ohne entsprechende Nachfrage, ob der Beschwerdeführer bereit ist, am 09.11.2020 an der Hauptverhandlung teilzunehmen, davon ausgehen, dass dies nicht der Fall sein würde.

b) Der Beschwerdeführer hat sich auch nicht zur Unzeit aus der Hauptverhandlung entfernt. Unter einem unzeitigen Entfernen ist das vorzeitige Verlassen der Hauptverhandlung zu verstehen, obwohl wesentliche Teil noch bevorstehen. Ein solches fand nach Aktenlage nicht statt.

c) Schließlich hat der Beschwerdeführer auch nicht die Verteidigung verweigert. Eine solche Verweigerung wäre darin zu sehen, dass der Verteidiger untätig bleibt, obwohl er zu einer sachgerechten Verteidigung tätig werden müsste (vgl. Beulke in Satzger, Schluckebier, Widmaier, StPO, 3. Auflage, § 145 Rn. 8). Es kann vorliegend dahinstehen, ob die vom Beschwerdeführer entfalteten Tätigkeiten als sachgerechte Verteidigung angesehen werden können, denn er ist jedenfalls nicht untätig geblieben, wo er zu handeln verpflichtet gewesen wäre.

d) Der Senat konnte ferner offenlassen, ob § 145 Abs. 4 StPO – wie vom Landgericht angenommen – auf andere als die in § 145 Abs. 1 StPO genannten Fälle, insbesondere solche der Konflikt- und Krawallverteidigung, analog anwendbar ist (a.A. die wohl h.M., vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O, § 145 Rn 17; KKStPO/Willnow, 8. Aufl. 2019, StPO § 145 Rn. 12). Zwar kann das Verhalten des Rechtsanwalts R. angesichts der Vielzahl der persönlichen Angriffe auf die Richter und die Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, der unzähligen Beleidigungen dieser Personen, der demonstrativen Respektlosigkeit gegenüber der Justiz im Allgemeinen und der Kammer im Besonderen sowie seines in der Gesamtschau einem Organ der Rechtspflege unwürdigen Benehmens zwanglos als Krawallverteidigung qualifiziert werden. Auch hatte Rechtsanwalt R. bereits am ersten Verhandlungstag ausdrücklich mitgeteilt, dass das Verfahren lange und zwar mindestens bis zur Pensionierung der Vorsitzenden dauern werde und war jedenfalls sein Verteidigungsverhalten erkennbar darauf gerichtet, den Verfahrensfortgang zu behindern und eine Beendigung des Verfahrens vor dem Eintritt der Vorsitzenden in die Freistellung der Altersteilzeit zu verhindern. Dieses Verhalten von Rechtsanwalt R. kann dem Beschwerdeführer jedoch nicht ohne das Hinzutreten weiterer Umstände, die der Senat vorliegend nicht feststellen konnte, zugerechnet werden.

Die vorstehende Entscheidung erstreckt sich nicht auf Rechtsanwalt R. Dieser hat den Beschluss vom 18.11.2020 nicht angefochten. Die dort getroffene Kostenentscheidung ist grundsätzlich trennbar, sodass auch die Beschwerdeentscheidung keiner Erstreckung bedarf (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 26.01.1973 – 4 Ws 304/72, MDR 1973, 1042).

Eine analoge Anwendung des § 357 StPO scheidet aus (vgl. Franke in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 357).“

Pflichti II: Einiges zu den Beiordnungsgründen, oder: Steuersache, Jugendlicher, Unfähigkeit, OWi-Verfahren

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Im zweiten Posting zu Pflichtverteidigungsfragen heute dann Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen. Ich stelle allerdings aus Platzgründen nur die Leitsätze der Entscheidungen vor. Hier kommen:

Die Rechtslage ist schwierig im Sinn von § 140 Abs. 2 StPO, wenn dem Beschuldigten Steuerhinterziehung vorgeworfen wird, das es sich beim Steuerstrafrecht um Blankettstrafrecht handelt.

Im Jugendstrafverfahren gelten für die Beurteilung der Pflichtverteidigerbestellung dieselben Grundsätze wie im Strafverfahren gegen Erwachsene. Sind beide Mitangeklagte anwaltlich vertreten, ist bereits aus diesem Grund ein Fall der notwendigen Verteidigung bei einem Erwachsenen anzunehmen. Erst Recht ist daher unter Berücksichtigung einer extensiven Auslegung des § 140 StPO bei Jugendlichen und Heranwachsenden die Bestellung eines Pflichtverteidigers bei der Beschwerdeführerin geboten.

Die Bestellung nach 140 Abs. 2 StPO wegen Unfähigkeit zur Selbstverteidigung hat bereits dann zu erfolgen, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen.

Eine Pflichtverteidigerbestellung in Bußgeldverfahren ist nur in Ausnahmefällen geboten. Einem Analphabeten ist aber für die Hauptverhandlung ein Verteidiger zu bestellen, wenn eine sachgerechte Verteidigung Aktenkenntnis erfordert oder eine umfangreiche Beweisaufnahme dem Betroffenen Anlass gibt, sich Notizen über den Verhandlungsablauf und den Inhalt von Aussagen zu machen, weil er sie als Gedächtnisstütze benötigt. In diesem Fall liegt nach § 140 Abs. 2 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, weil ersichtlich ist, dass sich der Betroffene nicht selbst verteidigen kann.

Bei der Gelegenheit ein herzliches „Danke-schön“ an alle, die mir immer wieder Entscheidungen schicken und so mit dafür sorgen, dass die Entscheidungssammlung wächst und aktuell bleibt.