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Durchsuchung III: Lange Auswertung in KiPo-Sache, oder: Mehr als sechs Monate in der Regel zu lange

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Und dann habe ich noch den LG Bonn, Beschl. v. 30.09.2024 – 22 Qs 23/24. Da geht es auch um Zeit und Gültigkeit. Aber nicht um die Gültigkeit der Durchsuchungsanordnung für die Durchführung der Durchsuchung in einem KiPo-Verfahren, sondern um die Dauer der Auswertung des bei der Durchsuchung, die am 05.09.2023 durchgeführt wurde, beschlagnahmten Materials. Der Beschwerde hat dann am 27.08.2024  gegen die am 15.09.2023 angeordnete Beschlagnahme Beschwerde eingelegt und diese mit der überlangen Auswertedauer begründet. Die Aufbereitung und Auswertung der sichergestellten Daten dauert da nach Auskunft einer Polizeibeamtin aufgrund technischer Probleme und der Wartezeit auch bei priorisierten Auswertungen nach wie vor an.

Die Beschwerde  war begründet.

„Die Beschlagnahme der unter 1. bezeichneten Gegenstände ist nicht mehr verhältnismäßig und daher aufzuheben.

Die Beschlagnahme muss in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat und zur Stärke des Tatverdachts stehen und für die Ermittlungen notwendig sein (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 94, Rn. 18). Die Dauer der Auswertung beschlagnahmter Beweismittel bestimmt sich dabei nach den Umständen des Einzelfalls, feste Zeitgrenzen sind insofern nicht sachgerecht (anders LG Aachen, Beschluss vom 14.06.2000 – 65 Qs 60/00). Vielmehr sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Umstände des Einzelfalles maßgeblich. Hierbei ist das staatliche Interesse an der Strafverfolgung gegen die grundgesetzlich verbürgten Eigentumsrechte des Beschuldigten abzuwägen (LG Limburg, Beschluss vom 22. August 2005 – 5 Qs 96/05 -, Rn. 14, juris). Die Stärke des Tatverdachts, der Umfang und das Gewicht des Tatvorwurfs sowie der Ermittlungsstand sind dem aus der Beschlagnahme resultierenden Ausmaß der Beeinträchtigung für einen Betroffenen, dem Wert und Alter der Geräte, einem möglichen Wertverlust und gegebenenfalls vorhandenen Entschädigungsansprüchen gegenüberzustellen (LG Ravensburg, Beschluss vom 2.7.2014 – 2 Qs 19/14).

Gemessen daran wäre eine Aufrechterhaltung der Beschlagnahmeanordnung vorliegend unverhältnismäßig: Der Beschwerdeführer hat zwar die Nutzung des tatrelevanten Accounts eingeräumt, im Übrigen aber noch keine Einlassung abgegeben. Der Beschwerdeführer war zum Tatzeitpunkt 14 Jahre alt und demnach gerade strafmündiger Jugendlicher. Die Aufbereitung und Auswertung der beschlagnahmten Geräte ist über ein Jahr nach der Sicherstellung derselben noch nicht abgeschlossen, ohne dass dies auf dem besonderen Umfang der hier zu überprüfenden Datenmenge beruhen würde. Vielmehr hat sich die Auswertung aufgrund Überlastung der auswertenden Behörde, technischer Probleme und weiterer höher priorisierter Auswertungen erheblich verzögert. Eine derart verzögerte Bearbeitung durch unzureichend ausgestattete staatliche Organe vermag einen deutlich über sechs Monate hinwegdauernden Eingriff in Eigentumsrechte des Betroffenen nicht zu rechtfertigen (so auch LG Limburg, Beschluss vom 22. August 2005 – 5 Qs 96/05 -, Rn. 14, juris und LG Kiel StraFo 2004, 93). Dabei verkennt die Kammer nicht, dass es sich bei der in Rede stehenden Datei nicht um eine jugendtypische handelt, sondern um eine, die den schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes zeigt, die überdies noch nicht bekannt war. Dennoch stellt sich der Verdacht gegenüber dem Beschwerdeführer als vergleichsweise vage dar, weil der Beschwerdeführer sich bislang lediglich dazu eingelassen hat, den tatrelevanten Snapchat-Account in der Vergangenheit genutzt zu haben bis dieser – aus ihm unbekannten Gründen – gesperrt worden sei. Insbesondere hat der Beschwerdeführer nicht den Besitz weiterer kinder- oder jugendpornografischer Dateien eingeräumt, so dass weitere inkriminierte Dateien im Rahmen der Auswertung der Daten zwingend zu erwarten wären. Dabei hat die Kammer nicht unberücksichtigt gelassen, dass – sollte sich der Verdacht erhärten und die kinderpornografische Datei auf einem der Datenträger gespeichert sein – die Ermittlungsbehörden durch die Rückgabe der Gegenstände erneuten Besitz des Beschwerdeführers an der inkriminierten Datei begründen und damit eine erneute Strafbarkeit auslösen könnten. Die Tatsache, dass die Rückgabe der sichergestellten Gegenstände einerseits die Auswertung noch nicht gesicherter Dateien unmöglich machen könnte und andererseits eine erneute Strafbarkeit auslösen könnte, ist im Vergleich zu den nunmehr über ein Jahr andauernden Eingriff in die Eigentumsrechte des Beschwerdeführers ein hinzunehmender Nachteil.“

Durchsuchung I: Durchsuchung im Kipo-Verfahren, oder: 16-Jähriger bittet 13-Jährige um Nacktbilder

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Heute gibt es dann StPO-Entscheidungen. Alle drei haben mit Durchsuchung und/oder Beschlagnahme zu tun.

Ich fange „ganz oben“ an, nämlich beim BVerfG. Das hat sich im BVerfG, Beschl. v. 29.01.2025 – 1 BvR 1677/24 – in erster Linie zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde geäußert, aber dann auch in einem obiter dictum zur Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchung in einem KiPo-Verfahren und zur Auffindevermutung Stellung genommen

Der Entscheidudng liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Staatsanwaltschaft führte gegen den zum Tatzeitpunkt (§ 155 StPO) jugendlichen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Besitzes kinderpornographischer Inhalte. Ausgangspunkt war ein Chat des damals knapp 16-jährigen Beschuldigten mit einem 11-jährigen Mädchen, das sein Alter ihm gegenüber wahrheitswidrig mit 13 Jahren angegeben hatte. In dem sehr kurzen Chatverlauf erkundigte sich der Beschuldigte, ob das Mädchen ihm Nacktbilder schicken würde. Dies lehnte das Mädchen auch auf Nachfrage hin ab. Daraufhin endete der Chatverlauf.

Auf dieser Grundlage ordnete das AG die Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten an. Aus dem Chat ergebe sich ein offensichtliches Interesse an kinderpornographischem Material, weshalb auch der Verdacht bestehe, dass der Beschuldigte im Besitz anderer solcher Inhalte sei. Die Durchsuchung wurde vollzogen, wobei mehrere elektronische Geräte des Beschuldig-ten sichergestellt wurden.

Die vom Beschuldigten gegen den Durchsuchungsbeschluss eingelegte Beschwerde hat das LG als unbegründet verworfen. Dagegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde des Beschuldigten. Er sieht sich durch die gerichtlichen Entscheidungen unter anderem in seinem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG verletzt. Die Durchsuchung sei wegen des eher schwachen Anfangsverdachts, der aufgrund seines Alters geringen Tatschwere und der nur schwachen Auffindewahrscheinlichkeit unverhältnismäßig gewesen.

Das BVerfG hat die Verfassungsbe-schwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig sei.

Insoweit stelle ich nur (meine) Leitsätze zu der Entscheidung ein und verweise im Übrigen auf den verlinkten Volltext mit der „Bitte“ um Beachtung der Ausführungen des BVerfG:

1. Die allgemeine Begründungslast des § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG umfasst grds auch die – fristgerechte – Darlegung, dass die Frist des § 93 Abs 1 S 1 BVerfGG eingehalten ist, sofern sich dies nicht ohne Weiteres aus den Unterlagen ergibt.

2. Bei einer gegen eine strafprozessuale Zwangsmaßnahme gerichteten Verfassungsbeschwerde muss dafür mitgeteilt werden, wann die für die Fristberechnung maßgebliche Instanzentscheidung sowohl der Verteidigung als auch den Beschwerdeführenden bekannt gemacht wurde.

Es gibt dann aber auch noch ein obiter dictum des BVerfG, aus dem m.E. sehr deutlich wird, was das BVerfG von der Durchsuchungsmaßnahme hält, nämlich nichts:

„2. Aufgrund der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde kann offenbleiben, ob sich die Durchsuchungsanordnung und die Entscheidung über die Beschwerde in der Sache noch als verfassungsgemäß erweisen. Zweifel bestehen allerdings in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Anordnung.

a) Die Anordnung der Durchsuchung bedarf wegen des erheblichen Eingriffs in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Beschwerdeführers einer Rechtfertigung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGE 20, 162 <186 f.>; 96, 44 <51>). Die Durchsuchung muss insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 20, 162 <186 f.>; 59, 95 <97>; 96, 44 <51>). Hierbei sind auch die Bedeutung des potentiellen Beweismittels für das Strafverfahren sowie der Grad des auf die verfahrenserheblichen Informationen bezogenen Auffindeverdachts zu bewerten (vgl. BVerfGE 115, 166 <197>).

b) Danach begegnet die Angemessenheit der Durchsuchungsanordnung verfassungsrechtlichen Bedenken. Angesichts der schwer wirkenden Eingriffsintensität einer Durchsuchung ist zu besorgen, dass der aufgrund des kurzen Chats eher schwache Anfangsverdacht sowie die daher nur geringe Auffindevermutung nicht ausreichen, um die Durchsuchungsanordnung zu rechtfertigen. So weist der vorliegende Chatverlauf lediglich auf das Interesse des erst knapp 16 Jahre alten Beschwerdeführers am Besitz von Nacktbildern eines (vermutlich) 13-jährigen Mädchens hin. Anhaltspunkte dafür, dass dem Beschwerdeführer ein weitergehendes Interesse an dem Besitz anderer strafbarer Inhalte als an Nacktbildern pubertierender Mädchen vorzuwerfen sein könnte, sind aus den vorgelegte Unterlagen nicht ersichtlich.“

M.E. ist das mehr als deutlich. Denn danach wird man davon ausgehen können, dass die Verfassungsbeschwerde, wenn sie zulässig gewesen wäre, Erfolg gehabt hätte. Und das mit Recht. Denn man wird kaum daraus schließen können, dass ein (wahrscheinlich auch noch pubertierender) 16-Jähriger, der ein pubertierendes Mädchen von (vermeintlich) 13 Jahren nach Nacktbildern fragt, ein (weitergehendes) Interesse an dem Besitz kinderpornographischer Inhalte hat. Jedenfalls wird man davon nicht ohne weitere Anhaltspunkte ausgehen können (vgl. zur Durchsuchung im KiPo-Bereich BVerfG, Beschl. v. 21.10.2024 – 1 BvR 2215/24 und auch den schönen Beitrag des Kollegen Urbancyk in StRR 2/2025, 6). Mich hätte im Übrigen mal die Begründung des AG für die Anordnung der Durchsuchung und die Begründung des Beschwerdeentscheidung des LG interessiert. Viel kann da jedenfalls nicht an Begründung gestanden haben. Sonst wäre das BVerfG nicht doch so deutlich geworden.

Sichtung und Erhebung von Kipo-Datenmaterial, oder: Muss der Verurteilte die hohen SV-Kosten tragen?

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Ich hatte im Sommer den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 17.06.2024 – 12 Qs 19/24 – vorgestellt (vgl. hier: Grobsichtung von Datenträgern in Kipo-Verfahren, oder: Wer trägt die Kosten?). In der Entscheidung hatte sich das LG nach einem sog. KiPO-Verfahren in Zusammenhang mit den zu Lasten des Angeklagten angefallenen Kosten mit der abrechenbaren Sachverständigenleistung für die Grobsichtung von Datenträgern befasst.

In der Entscheidung, in der das LG eine Kostentragungspflicht des verurteilten Angeklagten verneint hatte, hatte es eine OLG-Entscheidung erwähnt und sich darauf bezogen. Außerdem hatte es beklagt, dass das OLG seine Entscheidung nicht veröffentlicht hatte. Das war für mich Anlass, mir den OLG Nürnberg, Beschl. v. 10.08.2018 – 1 Ws 605/17 – zu besorgen. Ihn stelle ich heute vor. Das OLG führt zur Abgrenzung der abrechenbaren von der nicht abrechenbaren Sachverständigenleistung aus:

„b) Zu den Kosten des Verfahrens gehören gem. § 464a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 StPO die Gebühren und Auslagen der Staatskasse, einschließlich derjenigen Kosten, die durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind. § 3 Abs. 2 GKG verweist wegen der Kosten auf die in der Anlage 1 (Kostenverzeichnis) aufgeführten Gebühren und Auslagen. Gemäß Nr. 9015 KV GKG gehören zu den Auslagen der Staatskasse auch die unter Ziffer 9000 bis 9014 bezeichneten Kosten, soweit sie durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind. Dies gilt demnach auch für die gemäß Nr. 9005 KV GKG nach dem Justizvergütungsgesetz (JVEG) zu zahlenden Beträge.

aa) Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat gem. § 110 Abs. 3 StPO die Durchsicht und Auswertung der übersandten Datenträger auf die X. übertragen. Dies ist zulässig, da die Verantwortung für die abschließende Durchsicht durch die Staatsanwaltschaft gem. § 152 GVG sichergestellt ist (vgl. Meyer-Goßner, Schmitt, 60. Auflage, § 110, Rdnr. 2a und Rdnr. 3, und Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 10.01.2017, 2 Ws 441/16, abgedruckt in Juris).

bb) Die Firma X. trat insoweit nicht nur als reine Hilfskraft für die ermittelnden Behörden auf, sondern hatte den Auftrag, unabhängig und eigenverantwortlich ein Sachverständigengutachten zu erstellen; dessen Kosten sind in vollem Umfang durch den Verurteilten zu tragen.

Ein Sachverständiger hat die Aufgabe, dem Staatsanwalt die Kenntnis von Erfahrungssätzen zu übermitteln und gegebenenfalls aufgrund solcher Erfahrungssätze Tatsachen zu ermitteln. Bei der Sichtung und Erhebung von Datenmaterial liegt eine Sachverständigenaufgabe vor, wenn der Betreffende nicht nur eine reine Sichtung beschlagnahmter Unterlagen vornimmt, sondern unter Einsatz geeigneter – nicht jedermann zur Verfügung stehender – Rechenprogramme und des Fachwissens die ermittlungsrelevanten Tatsachen fest – und zusammenstellt (OLG Koblenz, Beschluss vom 16.07.2010, 1 Ws 189/10, NStZ-RR 2010, 359).

Ein Teilbetrag der Rechnung beruht auf der Sichtbarmachung der kinderpornographischen Schriften und Dateien, bei der auch versteckte, wiederherstellbar gelöschte, archivierte und teilweise überschriebene Dateien in die Sichtung miteinbezogen wurden. Das Landgericht hat zutreffend die Auswertung der Datenträger und die technische Umsetzung beschrieben. Die beauftrage Firma hat – mit Hilfe spezieller Software – das PC-System ausgewertet und mittels Bilderfilter und spezieller Filmsoftware eine immense Menge an Bilddateien mit kinderpornographischem Inhalt und Videodateien festgestellt. Dies erfordert – entgegen der Einschätzung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in seiner Entscheidung vom 10.01.2017, Az. 2 Ws 441/16 (abgedruckt in NStZ-RR 2017, 127 f) – mehr Fachwissen als eine reine technische Unterstützung bei der Wiederherstellung von Dateien (vgl. BGH Beschluss vom 02.03.2011, 2 StR 275/10, StV 2011, 483).

Gleichzeitig war die Firma X.im Konkreten beauftragt, aus der Gesamtmenge der Dateien die Dateien, die kinder – bzw jugendpornographischen Inhalt haben, aufzufinden. Dafür musste eine Durchsicht sämtlicher, mittels des Bilderfilters festgestellter Bilder und hinsichtlich der Videos eine Ansicht jedes Videos erfolgen; für die Frage der Einordnung musste eine Voreinschätzung getroffen werden, die nur mit inhaltlichem Fachwissen realisiert werden kann. Insoweit war die Firma X. unabhängig und eigenverantwortlich tätig. Der dort tätige Gutachter hat deshalb erklärt, eine „auf seinen Erfahrungen im Bereich der Gutachtenserstellung zur Verbreitung bzw. Besitz von kinderpornographischen Schriften beruhende persönliche Einschätzung“ getroffen habe. Durch die Sichtbarmachung der Dateien hat die Firma X. dem Staatsanwalt die Möglichkeit verschafft, Tatsachen zu ermitteln und diese dann rechtlich selbst einzuordnen. Insoweit hat auch diese Dienstleistung die Qualität eines Sachverständigengutachtens, die darauf entfallenen Kosten sind ebenfalls vom Verurteilten zu tragen.

Eine Vergleichbarkeit zu dem der Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 10.01.2017 zugrunde liegenden Sachverhaltes besteht damit nicht; die im vorliegenden Fall eingesetzte Firma X. hat mehr als eine technische Sichtbarmachung von Datenmaterial und mehr als eine technisch bedingte Vorsortierung von Datenmaterial, welches dann von Polizei und Staatsanwalt gesichtet und bewertet wird, vorgenommen, sodass die entsprechenden Kosten hier eben nicht mit der Verfahrensgebühr nach dem GKG abgegolten sind.“

Pflichti I: Bestellung bei „drohender Gesamtstrafe“, oder: KiPo? Nein, kannst selbst Akteneinsicht nehmen.

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Heute kommen dann ein paar Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen, alle Entscheidungen stammen „aus der Instanz“.

Ich beginne mit zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und twar:

Von einem Fall notwendiger Verteidigung ist regelmäßig ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe auszugehen. Bei der Festsetzung der zu erwartenden Strafhöhe ist nicht auf Einzelstrafen, sondern auf die Gesamtstrafe abzustellen. Dies gilt auch für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung, soweit das anhängige Verfahren die Strafe nicht nur unwesentlich beeinflusst.

Das nur eingeschränkte Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten in bei der Akte befindliche Beweismittel mit kinderpornographischen Inhalten erfordert nicht die Bestellung eines Pflichtverteidigers, weil die Hauptakte auch für den Beschuldigten selbst einsehbar ist und die Beweismittelakte bei der Staatsanwaltschaft eingesehen werden kann.

Die Entscheidung des LG Frankfurt am Main ist zutreffend, sie entspricht der ständigen Rechtsprechung in der Frage.

Die Entscheidung des LG Hannover ist in meinen Augen falsch – und lebensfremd. Das LG setzt sich auch mit keinem Wort mit anders lautender Rechtsprechung zur Beiordnung in den KiPo-Fällen auseinander. Ich frage mich, wie das in der Praxis gehen soll. Der Beschuldigte erscheint bei der Geschäftsstelle der StA oder dem Gericht, um Einsicht in die Beweismittelakte zu nehmen. Er sitzt dann ggf. stundenlang dort herum, muss beaufsichtigt werden usw. Wenn er mit seinem Verteidiger kommt, müssen die beiden Gelegenheit haben, sich „unbelauscht“ zu den einzelnen Bildern austauschen zu können usw. Die Geschäftsstellen wird das freuen. Wie gesagt: Lebensfremd, aber „mia san mia“.

 

Pflichti I: 5 x etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: Höhe der Strafe, Berufung der StA, Betreuer, KiPo

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Und heute ist dann mal ein „Pflichti-Tag“ mit einigen Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen. Da hat sich in der letzten Zeit einiges angesammelt.

Ich starte hier mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar – wie gehabt – nur mit den Leitsätzen, da es sonst zu viel wird:

Die Erforderlichkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist in der Regel erst bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu bejahen.

Im Berufungsverfahren ist dem Angeklagten in der Regel ein Verteidiger beizuordnen, wenn die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil Berufung eingelegt hat und eine Verurteilung aufgrund abweichender Beweiswürdigung oder sonst unterschiedlicher Beurteilung der Sach- oder Rechtslage erstrebt.

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung, wenn dem Beschuldigten ein Betreuer bestellt ist.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge im Sinne des § 68 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Ausreichend ist, wenn einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, drohen.

1. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers in einem sog. KiPo-Verfahren.
2. Die Sachlage ist unter anderem dann im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO schwierig, wenn die Staatsanwaltschaft in Ermittlungsverfahren wegen Verdachts von Straftaten nach § 184b StGB ggf. externe Sachverständige mit der Auswertung und Begutachtung sichergestellter Datenträger beauftragt. Die zu erwartende Auseinandersetzung mit technischen Untersuchungsberichten begründet eine überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sachlage, für die auch nur dem Verteidiger zu gewährende Aktenkenntnis erforderlich ist.