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Pflichti I: 5 x etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: Höhe der Strafe, Berufung der StA, Betreuer, KiPo

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Und heute ist dann mal ein „Pflichti-Tag“ mit einigen Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen. Da hat sich in der letzten Zeit einiges angesammelt.

Ich starte hier mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar – wie gehabt – nur mit den Leitsätzen, da es sonst zu viel wird:

Die Erforderlichkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist in der Regel erst bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu bejahen.

Im Berufungsverfahren ist dem Angeklagten in der Regel ein Verteidiger beizuordnen, wenn die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil Berufung eingelegt hat und eine Verurteilung aufgrund abweichender Beweiswürdigung oder sonst unterschiedlicher Beurteilung der Sach- oder Rechtslage erstrebt.

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung, wenn dem Beschuldigten ein Betreuer bestellt ist.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge im Sinne des § 68 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Ausreichend ist, wenn einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, drohen.

1. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers in einem sog. KiPo-Verfahren.
2. Die Sachlage ist unter anderem dann im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO schwierig, wenn die Staatsanwaltschaft in Ermittlungsverfahren wegen Verdachts von Straftaten nach § 184b StGB ggf. externe Sachverständige mit der Auswertung und Begutachtung sichergestellter Datenträger beauftragt. Die zu erwartende Auseinandersetzung mit technischen Untersuchungsberichten begründet eine überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sachlage, für die auch nur dem Verteidiger zu gewährende Aktenkenntnis erforderlich ist.

BVerfG I: Richtervorlagen gegen harte „KiPo-Strafen“, oder: BVerfG weist als unzulässig zurück

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Ich eröffne die 16. KW. dann mit zwei Entscheidungen des BVerfG.

Ich beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 03.03.2023 -2 BvL 11/22 und 2 BvL 15/22 -, den ich der Volltsändigkeit halber hier auch vorstelle. Es handelt sich um die Entscheidung des BVerfG zu zwei amtsgerichtlichen Beschlüssen betreffend die Strafhöhe in den sog. KiPo-Verfahren, und zwar AG München, Beschl. v. 17.6.2022 – 853 Ls 467 Js 181486/21 und AG Wuppertal, Beschl. v. 17.10.2022 -12 Ls-40 Js 261/22-24/22.

Wer darauf gehofft hatte, dass das BVerfG zu den angesprochenen Fragen Stellung nehmen würde, dessen Hoffnung wird enttäuscht. Das BVerfG hat nämlich die Vorlagen an unzulässig angesehen:

„….I.

In einem Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG muss die Begründung der Vorlage angeben, inwiefern die Entscheidung des vorlegenden Gerichts von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar ist (§ 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Dabei muss der Vorlagebeschluss aus sich heraus verständlich sein, da der Begründungszwang des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG das Bundesverfassungsgericht entlasten soll (stRspr; vgl. BVerfGE 22, 175 <177>; 65, 265 <277>; 141, 1 <10 Rn. 22>; 153, 310 <333 Rn. 55>; 159, 149 <170 Rn. 58>). Folglich hat das vorlegende Gericht den zugrunde liegenden Sachverhalt, soweit er für die verfassungsrechtliche Beurteilung wesentlich ist, und die maßgeblichen rechtlichen Erwägungen im Vorlagebeschluss erschöpfend darzulegen und vollständig aufzuklären (vgl. BVerfGE 22, 175 <177>; 37, 328 <333 f.>; 65, 308 <314>; 66, 265 <268>; 68, 311 <316>). Es muss sich mit der einfachrechtlichen Rechtslage auseinandersetzen, seine einschlägige Rechtsprechung erschöpfend darlegen und die in Schrifttum und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten Rechtsvorschrift von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 136, 127 <142 Rn. 45, 145 ff. Rn. 53 ff.>; 138, 1 <13 Rn. 37>; 141, 1 <11 Rn. 22>).

II.

Ausgehend von diesen Maßstäben genügen die Vorlagebeschlüsse den Anforderungen nicht.

1. Die Vorlage des Amtsgerichts München ist schon deshalb unzulässig, weil der Vorlagebeschluss aus sich heraus nicht verständlich ist. Das Amtsgericht München lässt eine hinreichende Sachverhaltsdarstellung vermissen und führt in seinem Vorlagebeschluss lediglich zu fiktiven Beispielsfällen aus.

2. Die Vorlage des Amtsgerichts Wuppertal ist jedenfalls deshalb unzulässig, weil das Amtsgericht im Vorlagebeschluss nicht hinreichend darlegt, dass und warum das angeklagte Tatgeschehen dem Tatbestand des § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB unterfällt. Aus dem Vorlagebeschluss erschließt sich nicht, warum das Amtsgericht davon ausgehen zu können meint, dass es sich bei der vom Angeschuldigten verbreiteten Datei um einen „pornographischen Inhalt“ im Sinne des § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB handelt.

§ 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB setzt schon nach seinem Wortlaut voraus, dass es sich um „pornographischen Inhalt“ handelt. In Rechtsprechung und Schrifttum wird – auch wenn der Begriff der Pornographie des § 184 StGB insoweit nicht vollständig übertragen wird – für die Verwirklichung des Tatbestandes verlangt, dass die Vermittlung sexueller Inhalte ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung sexueller Reize beim Betrachter ausgerichtet ist (vgl. BGHSt 59, 177 <178 Rn. 43, 179 Rn. 49>; BTDrucks 18/3202, S. 27; Hörnle, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 184b Rn. 14; Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, § 184b Rn. 5; Ziegler, in: BeckOK StGB, 54. Edition Stand 1.8.2022, § 184b Rn. 3).

Das ist hier zweifelhaft, da das Amtsgericht selbst annimmt, dass die Bilddatei nicht auf die Befriedigung sexueller Bedürfnisse ihrer Betrachter ausgelegt ist, sondern im Internet als „Spaßvideo“ kursiert. Das Bundesverfassungsgericht ist zwar an die einfachrechtliche Einordnung des vorlegenden Gerichts grundsätzlich gebunden (vgl. BVerfGE 2, 181 <190 f.>; 105, 61 <67>; 133, 1 <10 f. Rn. 35>). Das enthebt das vorlegende Gericht indes nicht der Aufgabe, sich mit den in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen auseinanderzusetzen, die dazu führen könnten, dass es auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Norm nicht mehr ankommt, weil deren tatbestandliche Voraussetzungen schon nicht erfüllt sind. Das ist hier nicht geschehen.

Daher bedarf es keiner weiteren Erörterung, ob das Amtsgericht seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB hinreichend begründet hat.“

Tja, schade. Kein weiteres Wort – nicht einmal ein kleines obiter dictum. Aber vielleicht hat das AG Buchen mit seiner Volage im AG Buchen, Beschl. v. 01.02.2023 – 1 Ls 1 Js 6298/21 – mehr Glück.

Pflichti II: 3 x interessante Beiordnungsgründe (?), oder: KiPo, Maskenpflicht, verfassungswidriger BtM-Besitz

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Im zweiten Posting dann drei Entscheidungen zu den Beiorndungsgründem, also § 140 StPO, allerdings nur die jweiligen Leitsätze, und zwar:

In Verfahren mit dem Verfahrensgegenstand „Verbreitung von Kinderpornografie“ ergibt sich die Schwierigkeit der Sachlage i.S. des § 140 Abs. 2 StPO aus dem Umstand, dass der Beschuldigte sein sich aus § 147 Abs. 4 StPO ergebendes Akteneinsichtsrecht nicht ohne Verteidiger in vollem Umfang wahrnehmen kann.

Anmerkung: Die Entscheidung ist noch zum „alten Recht“ ergangen.

Der einem Betroffene zur Last gelegte Verstoß gegen die Maskenpflicht (CoronaVO) führt nicht zur Erforderlichkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen Schwierigkeit der Rechtslage.

Anmerkung: Das kann man m.E. mit guten Gründen auch anders sehen.

Zur bejahten Bestellung eines Pflichtverteidigers in einem BtM-Verfahren, in dem den Angeklagten zwar nur Besitz unter dem Grenzwert der nicht geringen Menge vorgeworfen wird, der Verteidiger jedoch. die Verfassungswidrigkeit des § 29 BtMG gerügt hat.

Anmerkung: Zur Nachahmung empfohlen 🙂 .

Durchsuchung I: Durchsuchung im „KiPO-Verfahren“, oder: Kein Anfangsverdacht, nicht verhältnismäßig

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Und dann auf in die neue Woche. Ich starte hier mit Entscheidungen zur Durchsuchung (§§ 102 ff.).

Zunächst stelle ich den LG Detmold, Beschl. v. 11.04.2022 – 23 Qs 27 / 22 – vor, den mir der Kollege Schulze aus Bielefeld geschickt hat. Es geht um die Frage der Rechtswidrigkeit in einem KiPo-Verfahren. Der Sachverhalt ergibt sich aus den Gründen der Entscheidung. Also dann hier:

„Die Staatsanwaltschaft Detmold führt gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Besitzes kinder- und jugendpornographischer Schriften (§ 184b Abs. 3 StGB in der ab dem 13.03.2020 geltenden Fassung, § 184c Abs. 3 StGB in der ab dem 17.01.2015 geltenden Fassung).

Am 19. April 2021 teilte das National Center For Missing und Exploited Children (NCMEC) dem BKA mit, dass ein bislang unbekannter Nutzer des Internetdienstes „Dropbox“ unter Nutzung der E-Mailadresse pp. am 31. Oktober 2020 um 14:35 Uhr MEZ nach der Bewertung des NCMEC kinder- und jugendpornographische Inhalte ins Internet hochgeladen habe.

Eine Bestandsanfrage zu dieser E-Mailadresse ergab folgende Daten:
Name: pp. – Recovery E-Mail: pp. -Rufnummer: pp.

Eine Bestandsabfrage für die Rufnummer pp. wurde wie folgt beantwortet:
Vorname: pp. – Nachname: pp. – Geb-Datum: pp. – Straße/Nr.: pp. – PLZ/Ort: pp.

Nach Auskunft des LKA NRW aus polizeilichen Informationssystemen konnten die Angaben wie folgt bestätigt und ergänzt werden:
Vorname: pp. – Nachname: pp. – Geb-Datum: pp. – Geb-Ort: pp. – Straße/Nr,: pp. – PLZ/Ort: pp.

Nach weiteren Ermittlungen konnte festgestellt werden, dass unter der Wohnanschrift des Beschuldigten vier weitere Personen gemeldet sind.

Nach der Einschätzung des LKA NRW vom 11. November 2021 handelte es sich bei den in Rede stehenden Inhalten bei vier von fünf Dateien um Kinder- und Jugendpornographie gemäß §§ 184b, c StGB. Es bestehe nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen der Verdacht, dass der Beschuldigte am 31. Oktober 2020 um 14:35 Uhr (MEZ) Kinder- und Jugendpornographie besessen und verbreitet habe.

Am 08. Dezember 2021 ordnete das Amtsgericht Detmold auf Antrag der Staatsanwaltschaft Detmold gemäß §§ 102, 105 StPO die Durchsuchung der Person des Beschuldigten, der Wohnung und der sonstigen Räume einschließlich der dazugehörigen Sachen und Behältnisse, Nebengelasse, Kraftfahrzeuge und Garagen des Beschuldigten zur Auffindung von Beweismitteln an. Die Durchsuchung habe insbesondere den Zweck, für die Ermittlung erforderliche Beweismittel (Computer, Laptops, Mobiltelefone, Tablets und Speichermedien aller Art) aufzufinden. Zugleich wurde die Beschlagnahme der Beweismittel angeordnet. Zur Begründung führte das Amtsgericht im Wesentlichen aus, dass der Beschuldigte einer Straftat nach § 184b Abs. 3 StGB, §§ 1, 105 JGG hinreichend tatverdächtig sei. Der Anfangsverdacht gegen den Beschuldigten ergebe sich aus den bisherigen polizeilichen Ermittlungen.

Die angeordnete Durchsuchung wurde am 27. Januar 2022 vollzogen.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 28. Januar 2022 hat der Beschuldigte gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 08. Dezember 2021 Beschwerde eingelegt und beantragt, festzustellen, dass der angefochtene Beschluss unrechtmäßig ergangen ist und die Durchführung der Durchsuchung den Beschuldigten in seinen Rechten verletzt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass kein Anfangsverdacht gegen den Beschuldigten vorgelegen habe. Die in den Berichten des BKA und des LKA für den Tatverdacht angeführten Tatsachen würden einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Das BKA unterhalte Verträge mit der NCMEC, nutze aktiv deren Datenbanken über eine Schnittstelle und betreibe somit ein aktives Outscourcing illegaler Ermittlungsmethoden zur Generierung eines Anfangsverdachtes.

Das Amtsgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 01. März 2022 nicht abgeholfen und die Sache dem Landgericht Detmold zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die gemäß § 304 StPO grundsätzlich statthafte Beschwerde ist nach erfolgter Vollziehung der Durchsuchung mit dem Begehren, die Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung festzustellen, zulässig. Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Denn die Durchsuchung war nach der zur Zeit der Anordnung gegebenen Sach- und Rechtslage rechtswidrig,

1. Gemäß § 102 StPO kann eine Durchsuchung bei dem einer Straftat Verdächtigen auf Antrag der Staatsanwaltschaft u.a. angeordnet werden, wenn zu vermuten ist, dass die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismitteln führen wird. Aufgrund der verfassungsrechtlich geschützten Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) sind daran jedoch strenge Maßstäbe geknüpft. Erforderlich ist der Anfangsverdacht einer bereits begangenen Straftat, d.h. zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Verdächtige eine bestimmte Straftat begangen hat (Meyer-Goßner/Schmitt/ Köhler, StPO, 62. Auflage, § 102 Rn. 2 m.w.N.). Neben dem Tatverdacht erfordert der erhebliche Eingriff der Durchsuchung in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffen eine besondere Rechtfertigung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2004 – 2 BvR 1873/04).

Die Maßnahme muss geeignet im Hinblick auf den verfolgten Zweck sein, sie muss erforderlich in dem Sinne sein, dass weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen, und schließlich muss sie in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 2013 – 2 BvR 389/13).

Gemessen an diesen Grundsätzen bestehen nach Auffassung der Kammer bereits Bedenken, ob zum Zeitpunkt der Beschlussfassung ein hinreichender Anfangsverdacht gegen den Beschuldigten vorlag. Aufgrund der polizeilichen Ermittlungen konnte lediglich festgestellt werden, dass die Dateien über die E-Mailadresse pp. hochgeladen wurden. Die zu dieser Adresse hinterlegte Rufnummer pp. wurde allerdings der Mutter des Beschuldigten zugeordnet. Hinzu kommt, dass unter der ermittelten Wohnanschrift neben dem Beschuldigten noch vier weitere Personen amtlich gemeldet sind, von denen zumindest zwei aufgrund ihres Geschlechts und Alters potentiell als Tatverdächtige in Betracht kommen.

Mit Rücksicht auf den damit nur geringen Tatverdacht ist die beantragte Durchsuchung nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall jedenfalls nicht mehr als verhältnismäßig anzusehen. Die Kammer geht zunächst davon aus, dass eine Durchsuchung nicht (mehr) zum Auffinden von Beweismitteln führen würde. Dafür spricht bereits der erhebliche Zeitablauf. Die maßgeblichen Videodateien wurden am 31. Oktober 2020 hochgeladen, mithin vor mehr als einem Jahr. Dafür, dass der Beschuldigte noch weiteres kinder- und/oder jugendpornographisches Material besessen hat, gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte. Dagegen spricht, dass nach dem 31. Oktober 2020 keine weiteren Auffälligkeiten des bislang auch nicht vorbestrafen Beschuldigten dokumentiert sind. Warum aus dem Umstand, dass ein Anfangsverdacht gegen den Beschuldigten bestehe und aufgrund der in der ihm vorgeworfenen Tat zum Vorschein gekommenen Neigungen die hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehe, dass der Beschuldigte noch über die inkriminierte Datei und auch über weiteres kinderpornographisches Material verfüge, erschließt sich der Kammer nicht. Bei einer Gesamtwürdigung erachtet die Kammer die Durchsuchungsanordnung daher trotz der Schwere der Straftat insbesondere mit Rücksicht auf den Zeitablauf als nicht mehr verhältnismäßig.“

StPO I: Anfangsverdacht für eine Durchsuchung, oder: Mitgliedschaft in Chats „Giiiirls“/”Teen Nudes“ reicht

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Heute dann der Start in das „normale“ Wochenprogramm, Corona am Montag ist immer „Vorprogramm“. Und ich beginne die Berichterstattung mit Entscheidungen zur StPO, und zwar aus dem Ermittlungsverfahren.

An der Spitze ein Beschluss betreffend die Anordnung einer Durchsuchung. Den LG Konstanz, Beschl. vom 14.12.2021 – 4 Qs 111/21 – haben mir die Rechtsanwälte Laudon/Schneider aus Hamburg geschickt, Verteidiger war der Kollege Eggers. In der Entscheidung geht es um die Frage des Anfangsverdachts in einer KiPo-Sache.

Das AG hatte die Durchsuchung der Person, der Wohnung mit Nebenräumen und der Fahrzeuge des Beschuldigten nach diversen digitalen Speichermedien pp. , sowie deren Beschlagnahme angeordnet. Der Tatvorwurf lautete auf Erwerb bzw. Besitz kinder- und jugendpornographischer Schriften/Inhalte. So soll der Beschuldigte in zwei WhatsApp-Chats („Giiiirls“ bzw. ”Teen Nudes“) am 15.09.2021 und am 11.08.2019 jeweils kinder- bzw. jugendpornographische Bild- und Videodateien in seinem Ac-count empfangen, wahrgenommen und möglicherweise auch – bis zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses – in Besitz genommen haben.

Dagegen hat der Beschuldigte Beschwerde eingelegt und die Feststellung der Rechtswidrigkeit der durchgeführten Durchsuchung beantragt. Begründung: Allein die Mitgliedschaft in den beiden Chats, deren Namensgebung nicht vermuten lasse, dass entsprechendes inkriminiertes Bild- und Videomaterial ausgetauscht werde, sei nicht strafbar. Mit solch einem Austausch müsse man auch nicht rechnen.Das LG hat die Beschwerde verworfen:

„Grundlage der Strafbarkeit sind vorliegend die §§ 184b Abs. 3 und 184c Abs. 3 StGB in der zwischen 01.07.2017 und 12.03.2020 gültigen Fassung, die mutmaßlichen Tatreiten sind der 15.07.2019 und der 11.08.2019. Demnach muss(te) der Täter es unternehmen, sich den Besitz an einer kinder- oder jugendpornographischer Schrift, die ein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen wiedergibt, verschaffen, oder eine solche Schrift besitzen. Fest stand nach Aktenlage bei Beschlusserlass, dass der Beschuldigte Mitglied der beiden o.g. WhatsApp-Chats war, in denen – zumindest auch – inkriminierte Schriften i.S. der §§ 184b und c StGB a.F. ein- und ausgingen. Zu den Schriften im vorgenannten Sinne gehörten gem. § 11 Abs. 3 StGB auch Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen, mithin auch die im angefochtenen Beschluss aufgezählten Dateien. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, mithin die Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer den Straftatbestand der §§ 184b und c StGB a.F. verwirklicht haben könnte, lagen vorliegend vor (Anfangsverdacht). Beiden vorgenannten Tatbeständen handelt es sich um Unternehmensdelikte, so dass auch bereits Versuchshandlungen strafbar sind (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB). Die Mitgliedschaft in einem Chat wie den vorliegend zu beurteilenden ist bei der sich im Zeitpunkt der Beschlussfassung bietenden objektiven Sachlage gerade auch bei Zugrundelegung kriminalistischer Erfahrungen ein gewichtiger Hinweis darauf, dass sich die Chat-Mitglieder am Austausch der inkriminierten Dateien beteiligen, sei es durch aktives Einstellen entsprechender Dateien oder aber – wofür vorliegend jedenfalls eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestand und besteht -durch den „Konsum“ in Form des An-schauens und auch Archivierens zumindest für eine bestimmte Dauer, was den Besitztatbestand verwirklichen würde. Ein entsprechender Vorsatz – jedenfalls in bedingter. Form – liegt bei solchen Sachverhalten ebenfalls nahe. Es geht im aktuellen Verfahrensstadium nicht um die Frage nach einer Verurteilungswahrscheinlichkeit im Sinne eines hinreichenden Tatverdachts, sondern um einen einfachen Anfangsverdacht. Wie stets wird all dies im weiteren Verlauf der Ermittlungen noch näher abzuklären sein.

Die Anordnung der Durchsuchung zur Beschlagnahme der im angefochtenen Beschluss angeführten Beweismittel war zur Verifizierung oder Falsifizierung des Tatverdachtes auch erforderlich. Letztlich kann – je nach dem Ergebnis der Auswertung – die Durchsuchung ja auch zur Entkräftung des Tatvorwurfs beitragen. Mildere Mittel sind nicht ersichtlich. Die Anordnung stand auch in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Verdachts und der Bedeutung der Sache und war insgesamt verhältnismäßig.“