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Pflichti I: Unfähigkeit der/zur Selbstverteidigung, oder: Betreuung und individuelle Schutzbedürftigkeit

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Heute ein Pflichti-Tag.

Den beginne ich mit Entscheidungen zum Beiordnungsgrund. Alle drei Entscheidungen betreffen die Beiordnung wegen Unfähigkeit zur Selbstverteidigung, und zwar zwar in einem sog. „Betreuungsfall“. Da habe ich:

Wurde einem Beschuldigten ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt, liegen in der Regel zugleich die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vor.

Die Unfähigkeit zur Selbstverteidigung im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist insbesondere gegeben, wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht und zum Aufgabenkreis des Betreuers die Vertretung vor Behörden zählt.

Das hatte das AG Saarbrücken im AG Saarbrücken, Beschl. v. 17.02.2025 – 9 Ds 82 Js 245/24 (500/24) – anders gesehen.

Die Beurteilung der Fähigkeit zur Selbstverteidigung richtet sich vor allem nach der individuellen Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten, wobei stets eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist. Auch wenn ggf. im Hinblick auf die seelischen Erkrankungen des Angeklagten Zweifel an der Fähigkeit zur effektiven Selbstverteidigung bestehen können, ist mangels individueller Schutzbedürftigkeit eine Pflichtverteidigerbestellung nicht angezeigt, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung zugleich eine Entstellung des Verfahrens nach § 154 StPO angeregt worden ist.

Verhältnis Verbindung und Erstreckung – Topp, oder: Verhältnis Grundgebühr und Verfahrensgebühr – Flop

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Und dann am Gebührenfreitag zunächst etwas zum Ärgern/Kopfschütteln, nämlich den LG Magdeburg, Beschl. v. 07.02.2025 – 29 Qs 4/25, der zumindest teilweise falsch ist, und zwar hinsichtlich der Ausführungen der LG zum Verhältnis Grundgebühr und Verfahrensgebühr. Richtig ist das, was das LG nochmals Erstreckung ausgeführt hat.

Folgender Sachverhalt: Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen den Angeklagten in zunächst zwei verschiedenen Verfahren wegen des Tatverdachts des Besitzes und Verbreitens von kinderpornografischen Inhalten. In dem Verfahren V 1 legitimierte sich der Verteidiger als Rechtsanwalt mit Schriftsatz vom 20.03.2023 für den Angeklagten und beantragte die Beiordnung als Pflichtverteidiger. Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 17.04.2023 wurde das Verfahren V 1 zum führenden Verfahren V 2 verbunden und mit Beschluss vom 6.09.2023 ordnete das AG den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger bei.

Das AG verurteilte den Angeklagten dann am 28.11.2024 wegen Besitzes von kinder- und jugendpornografischen Schriften zu einer Freiheitsstrafe. Mit Schriftsatz vom 03.12.2024 beantragte der Verteidiger die Festsetzung der Verteidigervergütung in Höhe von 1.478,43 EUR. Der Antrag beinhaltete u.a. eine Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG sowie eine Vorverfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG sowie eine Postpauschale Nr. 7002 VV RVG jeweils auch für das Verfahren V 1. Das AG teilte dem Verteidiger mit, dass eine Beiordnung im Verfahren V 1 nicht erfolgt sei und deshalb für dieses Verfahren keine Pflichtverteidigergebühren geltend gemacht werden könnten. Eine Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung auf das genannte Verfahren sei nicht erfolgt. Hierzu nahm der Verteidiger Stellung und trug vor, dass er in dem damaligen eigenständigen Ermittlungsverfahren V 1 tätig geworden sei und die entsprechenden Gebühren gemäß Nr. 4100 und 4104 VV RVG entstanden seien. Einmal entstandene Gebühren würden nicht aufgrund der Verfahrensverbindung untergehen.

Das AG hat dann die Pflichtverteidigervergütung nur in Höhe von 1.083,35 EUR festgesetzt und den Kostenfestsetzungsantrag im Übrigen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es darauf verwiesen, dass die Kosten des Ermittlungsverfahrens V 1 nicht erstattungsfähig seien, denn es fehle an einer Beiordnung in diesem Verfahren. Es werde zwar nicht bestritten, dass durch die Verbindung der Ermittlungsverfahren die Gebühren nicht untergehen. Dies führe jedoch nicht zu einer Erstattungsfähigkeit als Pflichtverteidigergebühren aus der Landeskasse (OLG Celle, Beschl. v. 4.9.2019 – 2 Ws 253/19).

Hiergegen wendete sich der Verteidiger mit seiner sofortigen Beschwerde. Die hatte nur teilweise Erfolg. Das LG hat die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und die Postentgeltpauschale Nr. 7002 VV RVG auch für das Verfahren V 1 festgesetzt. Die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG ist für das Verfahren V 1 hingegen nicht festgesetzt worden:

„Die allgemeine Vergütung des Verteidigers und die Vergütung im vorbereitenden Verfahren richtet sich nach Nr. 4100 bis 4105 VV RVG. Ausgangspunkt bildet dabei stets die in Nr. 4100 VV RVG geregelte Grundgebühr. Gemäß Anmerkung 1 zu Nr. 4100 W RVG erhält der Rechtsanwalt eine Grundgebühr für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall. Der Rechtsfall wird dabei bestimmt vom strafrechtlichen Vorwurf, der dem Auftraggeber gemacht wird und wie er von den Strafverfolgungsbehörden verfahrensmäßig behandelt wird. Grundsätzlich ist jedes von den Strafverfolgungsbehörden betriebene Ermittlungsverfahren ein eigenständiger Rechtsfall im Sinne von Nr. 4100 W RVG, solange die Verfahren nicht miteinander verbunden sind. Eine spätere Verfahrensverbindung hat auf bis zu diesem Zeitpunkt bereits entstandene Gebühren keinen Einfluss (OLG Celle, Beschluss vom 26.01.2022 – 2 Ws 19/22, BeckRS 2022, 6165 m. w. N.).

Nach diesen Grundsätzen bildete das Verfahren 459 Js 46414/22 bis zur Verbindung einen eigenständigen Rechtsfall. Grundlage waren jeweils einzelne Straftaten des Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft hat beide Verfahren nach Übernahme separat in ihr Verfahrensregister eingetragen und ein eigenes Aktenzeichen hierfür vergeben. Die Verbindung der Verfahren erfolgte erst zu einem späteren Zeitpunkt, d.h. als die Grundgebühr bereits entstanden war.

Im Rahmen des § 48 Abs. 6 RVG war lange umstritten, ob ein anwaltlicher Vergütungsanspruch für frühere Tätigkeiten in Verfahren, die vor der Beiordnung hinzuverbunden wurden, bereits aus Abs. 6 S. 1 folgt und ob der Anwendungsbereich des Abs. 6 S. 3 entsprechend auf Fälle beschränkt ist, in denen nach einer Beiordnung noch weitere Verfahren hinzuverbunden werden (vgl. hierzu K. Sommerfeldt/M. Sommerfeldt in: BeckOK RVG, 66. Ed. 1.12.2024, RVG § 48 Rn. 130). Werden Verfahren zunächst verbunden und erfolgt erst danach die anwaltliche Bestellung oder Beiordnung in dem nunmehr verbundenen Verfahren, gilt Abs. 6 S.1 unmittelbar. Es sind keine Gründe ersichtlich, warum das Gericht nach Abs. 6 S. 3 die Erstreckungswirkung ausdrücklich anordnen sollte (vgl. auch LG Osnabrück AGS 2024, 113).

Die zum 1.1.2021 erfolgte Ergänzung von Abs. 6 S. 3 mit dem KostRAG vom 21.12.2020 (BGBl. 13229) stellt dies klar und beschränkt den Anwendungsbereich des Abs. 6 S. 3 auf die Fälle der nach der Beiordnung oder Bestellung erfolgten Verfahrensverbindungen. Damit ist auch klargestellt, dass die Anordnung einer Erstreckungswirkung bei einer anwaltlichen Bestellung oder Beiordnung nach der Verbindung nicht erforderlich ist, weil Abs. 6 S. 1 unmittelbar gilt (K. Sommerfeldt/M. Sommerfeldt in: BeckOK RVG, 66. Ed. 1.12.2024, RVG § 48 Rn. 129; Kotz/Voigt in: Müller/Schlothauer/Knauer, Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 3. Auflage 2022, § 42 Vergütung nach dem RVG und Vergütungs-vereinbarung, Rn. 35).

Der Höhe nach ist für die Tätigkeit des Verteidigers in dem Verfahren 459 Js 46414/22 die Grundgebühr gemäß Nr. 4100 VV RVG und die Post- und Telekommunikationspauschale entstanden. Einen Anspruch auf Festsetzung der vom Verteidiger daneben jeweils abgerechneten Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG besteht dagegen nicht.

Die Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG entsteht nach Übernahme des Mandats und soll den Aufwand für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall abgelten. Die Verfahrensgebühr im vorbereitenden Verfahren nach Nr. 4104 VV RVG soll dagegen nach der Vorbemerkung 4 Abs. 2 VV RVG das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information abgelten. Die Verfahrensgebühr entsteht zwar nach Anmerkung 1 zu Nr. 4100 W RVG neben der Grundgebühr. Abgegolten werden mit ihr im vorbereitenden Verfahren allerdings nur Tätigkeiten nach der Erstinformation des Rechtsanwalts, d.h. alle Tätigkeiten nach erstem Mandantengespräch und erster Akteneinsicht (Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 25. Aufl. 2021, Vorbem. 4 Rn. 14). Die erste Akteneinsicht ist dagegen bereits von der Grundgebühr umfasst (ThürOLG, Beschluss vom 11. Januar 2005 – ARs 185/04; Mayer/Kroiß, RVG, 8. Aufl. 2021, VV 4100 Rn. 22). Wird das Verfahren nach erfolgter Erstinformation zu einem anderen Verfahren verbunden, besteht für die Annahme einer neben der Grundgebühr stets entstehenden Verfahrensgebühr (Nr. 4104) kein Raum.

Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 03.04.2023 wurde dem Verteidiger erstmals Akteneinsicht in dem Verfahren 459 Js 46414/22 gewährt. Weitere, über die erste Einarbeitung in den jeweiligen Fall hinausgehende Tätigkeiten bis zur kurze Zeit später erfolgten Verfahrensverbindung hat der Verteidiger nicht vorgetragen und waren nach Lage der Dinge unter Berücksichtigung des Verfahrensstadiums auch nicht zu erwarten.

Da es sich bei den Ermittlungsverfahren um einzelne Rechtsfälle handelt, ist neben der Grundgebühr die ebenfalls vom Verteidiger in seiner Kostenrechnung abgerechnete Pauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen (Nr. 7002 VVRVG) festzusetzen. Entsprechend des Antrags des Verteidigers betrug die Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG für den gerichtlich bestellten Rechtsanwalt 175,00 Euro, die Post- und Telekommunikationspauschale 20,00 Euro.“

Wie gesagt: Den Ausführungen des LG zur Verbindung und Erstreckung ist nichts hinzuzufügen. Sie sind zutreffend. Mit dem KostRÄndG v. 21.12.2020 hat sich ab 1.1.2021 der frühere Streit um die Anwendung und Auslegung von § 48 Abs. 6 S. 1 RVG erledigt. Der Verteidiger/Rechtsanwalt muss daher darauf achten, dass zunächst verbunden wird und dann die Bestellung zum Pflichtverteidiger erfolgt. Dann ist ein besonderer Erstreckungsantrag nicht erforderlich. Etwas anderes gilt in den Fällen, in denen nach der Bestellung erst (hinzu)verbunden wird.

Vehement zu widersprechen ist allerdings den Ausführungen des LG zum Entstehen der Verfahrensgebühr 4104 VV RVG. Insoweit ist die Entscheidung fehlerhaft, und zwar ebenso wie eine des LG Siegen (LG Siegen, Beschl. v. 19.2.2024 – 10 Qs 4/24 und eine des LG Koblenz (LG Koblenz, Beschl. v. 18.11.2024 – 3 Qs 45/24. Ebenso wie diese LG verkennen hier AG und auch das LG das Zusammenspiel von Grundgebühr und Verfahrensgebühr. Das ist um so bedauerlicher (und unverständlicher), weil die Fragen an sich durch das 2. KostRMoG seit 2013 geklärt sind. Von daher ist mir unverständlich, warum auf einmal die Gerichte von der m.E. eindeutigen Regelung abweichen. Einzelheiten zu der Frage erspare ich mich. Dazu ist m.E. genug geschrieben, aber es scheint die LG in ihrer „Mia san mia-Mentalität“ nicht zu interessieren.

Erstreckung und Verhältnis Grund-/Verfahrensgebühr, oder: Gönnt man dem Verteidiger nicht alle Gebühren?

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Und dann der angekündigte – zumindest teilweise – „unschöne“ LG, Beschluss, und zwar der LG Magdeburg, Beschl. v. 07.02.2025 – 29 Qs 4/25, der sich nochmals zur Erstreckung und zum Verhältnis Grundgebühr und Verfahrensgebühr äußert. Leider teilweise falsch.

Folgender Sachverhalt: Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen den Angeklagten in zunächst zwei verschiedenen Verfahren wegen des Tatverdachts des Besitzes und Verbreitens von kinderpornografischen Inhalten. In dem Verfahren V 1 legitimierte sich der Verteidiger als Rechtsanwalt mit Schriftsatz vom 20.03.2023 für den Angeklagten und beantragte die Beiordnung als Pflichtverteidiger. Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 17.04.2023 wurde das Verfahren V 1 zum führenden Verfahren V 2 verbunden und mit Beschluss vom 06.09.2023 ordnete das AG den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger bei.

Das AG verurteilte den Angeklagten dann am 28.11.2024 wegen Besitzes von kinder- und jugendpornografischen Schriften zu einer Freiheitsstrafe. Mit Schriftsatz vom 03.12.2024 beantragte der Verteidiger die Festsetzung der Verteidigervergütung in Höhe von 1.478,43 EUR. Der Antrag beinhaltete u.a. eine Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG sowie eine Vorverfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG sowie eine Postpauschale Nr. 7002 VV RVG jeweils auch für das Verfahren V 1.

Mit Schriftsatz vom 27.12.2024 teilte das AG dem Verteidiger mit, dass eine Beiordnung im Verfahren V 1 nicht erfolgt sei und deshalb für dieses Verfahren keine Pflichtverteidigergebühren geltend gemacht werden könnten. Eine Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung auf das genannte Verfahren sei nicht erfolgt. Hierzu nahm der Verteidiger Stellung und trug vor, dass er in dem damaligen eigenständigen Ermittlungsverfahren V 1 tätig geworden sei und die entsprechenden Gebühren gemäß Nr. 4100 und 4104 VV RVG entstanden seien. Einmal entstandene Gebühren würden nicht aufgrund der Verfahrensverbindung untergehen. Das AG hat dann die Pflichtverteidigervergütung nur in Höhe von 1.083,35 EUR festgesetzt und den Kostenfestsetzungsantrag im Übrigen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es darauf verwiesen, dass die Kosten des Ermittlungsverfahrens V 1 nicht erstattungsfähig seien, denn es fehle an einer Beiordnung in diesem Verfahren. Es werde zwar nicht bestritten, dass durch die Verbindung der Ermittlungsverfahren die Gebühren nicht untergehen. Dies führe jedoch nicht zu einer Erstattungsfähigkeit als Pflichtverteidigergebühren aus der Landeskasse (OLG Celle, Beschl. v. 4.9.2019 – 2 Ws 253/19).  Hiergegen wendete sich der Verteidiger mit seiner sofortigen Beschwerde.

Die hatte nur teilweise Erfolg. Das LG hat die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und die Postentgeltpauschale Nr. 7002 VV RVG auch für das Verfahren V 1 festgesetzt. Die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG ist für das Verfahren V 1 hingegen nicht festgesetzt worden.

Da ich zu den Fragen schon einige Entscheidungen vorgestellt habe, beschränke ich mich hier auf die Leitsätze.

1. Werden Verfahren zunächst verbunden und erfolgt erst danach die anwaltliche Bestellung oder Beiordnung in dem nunmehr verbundenen Verfahren, gilt § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG unmit-telbar.

2. Wird das Verfahren nach erfolgter Erstinformation zu einem anderen Verfahren verbunden, besteht für die Annahme einer neben der Grundgebühr stets entstehenden Verfahrensgebühr kein Raum.

Anzumerken ist:

Den Ausführungen des LG zur Verbindung und Erstreckung – Leitsatz 1 – ist nichts hinzuzufügen. Sie sind zutreffend.

Vehement zu widersprechen ist allerdings den Ausführungen des LG zum Entstehen der Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG und damit dem Leitsatz 2. Insoweit ist die Entscheidung fehlerhaft, und zwar ebenso wie eine des LG Siegen (LG Siegen, Beschl. v. 19.2.2024 – 10 Qs 4/24, AGS 2024, 211) und eine des LG Koblenz (LG Koblenz, Beschl. v. 18.11.2024 – 3 Qs 45/24). Beide hatte ich hier auch vorgestellt. Ebenso wie diese LG verkennen hier AG und auch das LG das Zusammenspiel von Grundgebühr und Verfahrensgebühr. Das ist um so bedauerlicher (und unverständlicher), weil die Fragen an sich durch das 2. KostRMoG seit 2013 geklärt sind. da ich bereits mehrfach etwas dazu gesagt habe, spare ich mir weitere Anmerkungen.

Allerdings. Ich habe bei diesen Entscheidungen, die das Verhältnis falsch sehen, zunehmend den Eindruck, als ob die häufig auch in der Richtung Stellung nehmenden Vertreter der Staatskasse aber auch AG/LG den Verteidigern die Verfahrensgebühren nicht „gönnen“ und deshalb das Verhältnis Grundgebühr/Verfahrensgebühr so falsch sehen und die Gesetzesänderung „reparieren“ wollen. Dass der Verteidiger in diesen Fällen ggf. für eine sehr geringe Tätigkeit eine Verfahrensgebühr erhält, ist aber nun mal Folge der gesetzlichen Regelung und eben auch der Pauschalgebührencharakters der Pflichtverteidigervergütung. Das kann und darf man so nicht korrigieren. Zumal man damit das gesetzgeberische Anliegen, das 2013 zu den Änderungen in der Nr. 4100 VV RVG durch das KostRMoG geführt hat konterkariert. Denn man kommt dann wieder in die Diskussion um das Verhältnis und den Abgeltungsbereích der Grundgebühr/Verfahrensgebühr, die der Gesetzgeber mit der Änderungen gerade beenden wollte.

StPO III: „Vorweihnachtliches Pflichti-Potpourri“, oder: Haftentlassung, Gesamtstrafe und Rückwirkung

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Und zum Tagesschluss dann noch die Pflichtverteidigungsentscheidungen, die sich seit dem letzten Pflichti-Tag angesammelt haben. Es sind (nur) vier Stück, das reicht also nicht für einen ganzen Tag. Daher habe ich sie in diesem Posting zusammengefasst, stelle aber jeweils nur die Leitsätze vor.

Zunächst kommen hier zwei Entscheidungen zur Aufhebung der Bestellung des Pflichtverteidigers für den inhaftierter Mandanten nach dessen Haftentlassung, also ein Fall des § 140 Satz 1 Nr. 5 StPO. Das AG Siegen hatte im AG Siegen, Beschl. v. 24.10.2024 – 401 Ds-69 Js 794/24-745/24 – aufgehoben. Das hat das LG Siegen dann im Beschwerdeverfahren „gehalten“. Der LG Siegen, Beschl. v. 14.11.2024 – 10 Qs-69 Js 794/24-94/24 – hat folgenden Leitsatz:

1. Eine nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO erfolgte Pflichtverteidigerbestellung ist aufzuheben, wenn der Beschuldigte aus der Haft entlassen worden ist und die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorliegen. Es ist aber zu prüfen, ob nicht aus anderen Gründen ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist.

2. Zur Unfähigkeit der Selbstverteidigung.

Und dann hier der LG Magdeburg, Beschl. v. 21.11.2024 – 21 Qs 80/24 -, der sich noch einmal zur „Schwere der Tat“ äußert und auch zum Bestellungsverfahren – ohne Antrag – und zum Bestellungszeitpunkt, nämlich:

1. Drohen einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig.

2. Gemäß § 141 Abs. 2 Nr. 4 StPO ist dem Angeklagten, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, auch ohne Antrag ein Pflichtverteidiger sofort beizuordnen. Daher hindert die Rechtskraft eines Beschlusses mit dem eine Bestellungsantrag des Beschuldigten (zunächst) abgewiesen worden ist, nicht die spätere Beiordnung auf Antrag eines (Wahl)Verteidigers.

Und natürlich der Dauerbrenner „Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung“ mit zwei Entscheidungen, nämlich dem LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 26.11.2024 – 5/06 Qs 51/24  – und dem LG Meiningen, Beschl. v. 09.10.2024 – 6 Qs 141/24. Das LG Frankfurt am Main hat es richtig gemacht und hat die rückwirkende Bestellung als zulässig angesehen, das LG Meinigen hat sich hingegen bei den „ewig Gestrigen“ eingereiht, die von Unzulässigkeit der rückwirkenden Bestellung ausgehen. Die Leitsätze schenke ich mir hier, die sind bekannt 🙂 .

Pflicht II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: LG Magdeburg topp, LG Arnsberg ein Flopp

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Und im zweiten Posting dann zwei weitere Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, eine topp und eine hopp, und  zwar:

1. Nach dem endgültigen Abschluss eines Strafverfahrens kommt die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers grundsätzlich nicht mehr in Betracht. Allerdings ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung vieler Landgerichte eine rückwirkende Bestellung – unabhängig davon, ob eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 154 Abs. 1 StPO, § 170 Abs. 2 StPO oder der Eintritt der Rechtskraft eines Urteils oder Strafbefehls eine Verfahrensbeendigung herbeigeführt hat – ausnahmsweise dann zulässig, wenn ein entsprechender Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung vorgelegen haben und die Entscheidung durch justizinterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.

2. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung.

Eine rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers, zumal für einen begrenzten Zeitraum, kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn auf Wunsch des Angeschuldigten die Beiordnung eines anderen Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger tatsächlich inzwischen erfolgt ist.

Nun, der Entscheidung des LG Magdeburg ist nichts hinzuzügen. Sie ist zutreffend.

Die des LG Arnsberg ist unzutreffend und eröffnet – wie überhaupt die Rechtsprechung zur Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung – der Einflussnahme des Richters auf die konkrete Person des Verteidigers Tür und Tor. Zum Hintergrund muss man wissen – so hat es mir der Kollege, der mir den Beschluss geschickt hat, mitgeteilt: Gegen den Mandanten war ein europäischer Haftbefehl erlassen und er in den Niederlanden beim Ermittlungsrichter vorgeführt worden. Der Kollege hatte sich unter Vollmachtsvorlage im Januar 2023 für den bereits früher von ihm vertretenen Mandanten (ebenfalls früher beigeordnet) bestellt und seine Beiordnung beantragt. Ein Fall der notwendigen Verteidigung lag erkennbar vor. Das AG Arnsberg ließ seinen Antrag, ebenso wie zwei seiner Erinnerungen schlicht unbeachtet.

Nachdem der Kollege die Akte von der Staatsanwaltschaft ohne Angabe von Gründen ebenfalls einen Monat nicht erhalten hat, hat der Mandant offenbar das Vertrauen verloren und beauftragte, ohne den Kollegen, zu informieren eine andere Kollegin, die ihre Beiordnung beantragte und beigeordnet wurde. Erst hiernach erhielt der Kollege eine Zuschrift vom Ermittlungsrichter, ob er nach der nunmehr vom Mandanten beauftragten Anwältin noch an meinem Antrag festhalten würde. Der Kollege hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass er einer Umbeiordnung nicht entgegen treten werde. da inzwischen (wenige Tage zuvor) das Mandat beendet worden sei, dass er jedoch auf seiner Beiordnung bisher bestehe, da es keinen Grund gab, ihn nicht beizuordnen. Die o.a. Entscheidung ist das Resultat. Sie ist – im Grunde – eine Frechheit: Da passiert offenbar monatelang nichts – die StPO spricht von „unverzüglich“ – und dann wird eine anderer Rechtsanwalt beigeordnet und dem Antragsteller, den man schlicht – warum? Faulheit? Keine Lust? – ignoriert hat, wird dann gesagt: Nee, Rückwirkung gibt es nicht. Armselig.