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Wenn ein vorausfahrender Traktor nach links blinkt, oder: Unklare Verkehrslage für den Überholenden

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Heute im „Kessel Buntes“ seit längerem mal wieder zwei verkehrszivilrechtliche Entscheidungen, und zwar Unfallregulierung.

Ich mache den Opener mit dem OLG Schleswig, Beschl. v. 26.07.2023 – 7 U 42/23 – zur Haftung und zur Haftungsquote bei einem Linksabbiegerunfall. Der Beschluss hat folgenden Sachverhalt:

Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Verkehrsunfall. Am 10.06.2021 kam es im Bereich einer Hofeinfahrt an der K.xx in T. zur Kollision zwischen dem Kläger mit seinem Motorroller Piaggio Vespa und dem vom Beklagten zu 2) geführten Traktorgespann Fendt 818 Vario mit Gülleanhänger. Der Kläger befuhr die K.xx in Richtung H.. Vor ihm fuhr der Beklagte zu 2) mit dem Traktorgespann in gleiche Richtung. Zur Kollision kam es, als der Kläger das Traktorgespann überholte und das Traktorgespann nach links in eine Hofeinfahrt abbog. Der Kläger stieß auf der Gegenfahrbahn gegen das linke Vorderrad des Traktors.

Streitig ist insbesondere, ob der Beklagte zu 2) vor dem Abbiegen am Traktor den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hat.

Das Landgericht hat der Klage auf Grundlage einer Mithaftungsquote von 50 % teilweise stattgegeben. Dem Beklagten zu 2) sei ein Verstoß gegen § 9 Abs. 1, Abs. 5 StVO vorzuwerfen, weil er seiner doppelten Rückschaupflicht nicht hinreichend nachgekommen sei. Den hierfür streitenden Anscheinsbeweis hätten die Beklagten nicht erschüttert. Allerdings stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Beklagte zu 2) rechtzeitig vor dem Abbiegen nach links geblinkt habe. Den Kläger treffe der Vorwurf aus § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO, in einer unklaren Verkehrslage überholt zu haben. Ausgehend davon, dass das Traktorgespann nach links blinkte, hätte der – zumal ortskundige – Kläger nicht überholen dürfen. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens sei ungeeignet. Bei der nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG gebotenen Abwägung ergäbe sich unter Berücksichtigung der wechselseitigen Mitverursachungsbeiträge und der unterschiedlichen Gewichtung der von den unfallbeteiligten Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr eine hälftige Schadensteilung.

Dagegen die Berufung des Klägers. Die hat – so das OLG in seinem nach § 522 Abs. 2 ZPO ergangenen Beschluss:

„Die Berufung des Klägers hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Der Kläger hat gegen die Beklagten einen Anspruch in dem vom Landgericht zugesprochenen Umfang aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 2, 18 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 StVG, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG auf Grundlage einer Mithaftungsquote von 50 %.

1. Gemäß § 513 ZPO kann eine Berufung nur auf eine Rechtsverletzung oder darauf gestützt werden, dass die gemäß § 529 ZPO zu berücksichtigenden Feststellungen ein anderes als das landgerichtliche Ergebnis rechtfertigen. Beides liegt für die Berufung der Beklagten nicht vor. Das Landgericht hat zutreffend in der gebotenen Abwägung gemäß §§ 17 Abs. 1, 2, 18 Abs. 3 StVG eine Haftungsquote des Klägers und der Beklagten von jeweils 50 % angenommen. Aufgrund der Beweisaufnahme ist es nachvollziehbar zu der Überzeugung gelangt, dass am Traktorgespann vor dem Abbiegen nach links in die Hofeinfahrt der linke Fahrtrichtungsanzeiger eingeschaltet war.

Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) berechtigt das Gericht, die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich nach seiner individuellen Einschätzung zu bewerten, wobei der Richter lediglich an die Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze gebunden ist (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 34. Auflage 2022, § 286, Rn. 13). Ein Verstoß gegen diese Grundsätze ist nicht erkennbar. Im Übrigen steht die Wiederholung der Beweisaufnahme außerdem gemäß §§ 529, 531 ZPO nicht im reinen Ermessen des Berufungsgerichts. Sie ist im Sinne eines gebundenen Ermessens vielmehr nur dann zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen begründen und eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall einer Beweiserhebung die erstinstanzlichen Feststellungen keinen Bestand mehr haben werden, sich also ihre Unrichtigkeit herausstellt (Zöller/Heßler, a.a.O., § 529, Rn. 3). Solche konkreten Anhaltspunkte sind vorliegend nicht ersichtlich.

Das Landgericht hat zunächst den gegen den Beklagten zu 2) als Linksabbieger sprechenden Anscheinsbeweis für einen Verstoß gegen die doppelte Rückschaupflicht aus § 9 Abs. 1 S. 4 StVO korrekt angewendet und sodann die zur Verfügung stehenden, geeigneten Erkenntnisquellen ausgeschöpft. Es hat den Kläger persönlich angehört, den Beklagten zu 2) persönlich angehört und als Partei nach § 448 ZPO vernommen sowie den Zeugen I. vernommen. Es hat die Angaben umfassend und frei von Rechtsfehlern gewürdigt. Die Überzeugungsbildung ist nachvollziehbar und verstößt nicht gegen Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen bestehen danach nicht. Der Kläger will mit seiner Berufungsbegründung letztlich nur seine eigene Beweiswürdigung an die Stelle des Landgerichts setzen. Ein Widerspruch zum Inhalt der Ermittlungsakte besteht nicht. Dass auf den dortigen Lichtbildern der Fahrtrichtungsanzeiger nicht im aufleuchtenden Zustand zu sehen ist, mag daran liegen, dass die Lichter eben nur zeitweilig aufleuchten und die Fotos nicht genau in diesem Moment aufgenommen wurden. Zudem haben die Fotos, die erst geraume Zeit nach dem Unfall gefertigt wurden, ohnehin nur eine sehr eingeschränkte Aussagekraft hinsichtlich der Frage, ob der linke Fahrtrichtungsanzeigers im Zeitpunkt des Unfalls eingeschaltet war oder nicht. Hinsichtlich der Aussage des Zeugen I.l hat das Landgericht berücksichtigt, dass dieser den Unfall selbst nicht beobachtet hat. Die Würdigung der Zeugenaussage durch das Landgericht als (weiteres) Indiz für die Richtigkeit der Angaben des Beklagten zu 2) ist nicht zu beanstanden. Ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten war nicht einzuholen. Zutreffend hat das Landgericht dies als unerheblich und ungeeignet abgelehnt. Durch ein Sachverständigengutachten ließen sich zwar möglicherweise die Ausgangsgeschwindigkeiten und die Kollisionsstellung ermitteln. Beide Faktoren sind indes nicht entscheidungserheblich. Nicht durch ein Sachverständigengutachten ermitteln ließe sich hingegen, wer zuerst gebremst hat und mit welchem Abstand zum Traktorgespann der Kläger bis zum Überholen gefahren ist. Nach seinen eigenen Angaben sollen es nur ca. 5 m gewesen sein. Ein Sachverständiger könnte ex post auch nicht klären, ob am Traktorgespann zum Unfallzeitpunkt der linke Fahrtrichtungsanzeiger tatsächlich eingeschaltet war oder nicht.

2. Unter der Maßgabe, dass am Traktorgespann der linke Fahrtrichtungsanzeiger eingeschaltet war, hat das Landgericht zu Recht ein Überholen des Klägers bei unklarer Verkehrslage nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO angenommen. Blinkt ein Traktor nach links, ist stets damit zu rechnen, dass dieser kurzfristig abbiegt, und zwar ggf. auch ohne vorheriges Einordnen nach links (was wegen der Fahrzeugbreite häufig schon nicht möglich ist). Der Kläger hätte auch damit rechnen müssen, dass das Traktorgespann nach links in eine schwer erkennbare Hof- oder Feldeinfahrt einbiegen will. Bei dieser Verkehrslage war das Überholen unzulässig.

Die Bewertung der Verursachungsbeiträge durch das Landgericht ist ebenfalls nicht zu beanstanden.

Im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 StVG ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dabei eine Abwägung und Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge vorzunehmen, wobei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist (BGH, Urteil vom 28.02.2012, VI ZR 10/11, Juris Rn. 6; OLG Frankfurt, Urteil vom 31.03.2020, 13 U 226/15, Juris Rn. 43). Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urteil vom 27.06.2000, VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.07.2018, 1 U 117/17, Juris Rn. 5). Die jeweils ausschließlich unstreitigen oder nachgewiesenen Tatbeiträge müssen sich zudem auf den Unfall ausgewirkt haben. Der Beweis obliegt demjenigen, welcher sich auf einen in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkt beruft (BGH, Urteil vom 13.02.1996, VI ZR 126/95, NZV 1996, 231, 232; OLG Dresden, Urteil vom 25.02.2020, 4 U 1914/19, Juris Rn. 4 m.w.N.).

Unter Beachtung dieser Grundsätze hat das Landgericht das Verschulden des Beklagten zu 2) wegen eines Verstoßes gemäß § 9 Abs. 1 S. 4, Abs. 5 StVO gegen das Verschulden des Klägers wegen eines Verstoßes gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO unter Berücksichtigung der jeweiligen unterschiedlichen Betriebsgefahren der unfallbeteiligten Fahrzeuge gegeneinander abgewogen und die jeweiligen Verursachungsbeiträge im Ergebnis gleich hoch gewichtet. Dies findet die Billigung des Senats.“

OWi III: Die Wirksamkeit einer Ersatzzustellung, oder: Einlegen in den Briefkasten

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Und als dritte Entscheidung dann noch etwas vom BayObLG. Der BayObLG, Beschl. v. 31.07.2023 – 102 AR 128/23 e – ist zwar im Zivilverfahren in Zusammenhang mit einem Zuständigkeitsstreit ergangen. Er behandelt aber eine Zustellungsfrage, die auch im OWi-Verfahren von Bedeutung sein kann – ich sage doch: Die OWi-Lage ist mau 😉 . Es geht nämlich um die Wirksamkeit einer Ersatzzustellung dazu führt das BayObLG aus:

„Die Voraussetzungen einer wirksamen Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten ergeben sich aus § 180 ZPO. Gemäß § 180 Satz 1 ZPO kann, wenn der Zustellungsadressat in seiner Wohnung nicht angetroffen wird und die Ersatzzustellung durch Übergabe in der Wohnung an einen erwachsenen Familienangehörigen, eine in der Familie beschäftigte Person oder einen erwachsenen ständigen Mitbewohner (§ 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) nicht ausführbar ist, das Schriftstück in einen zu der Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden. Mit der Einlegung gilt das Schriftstück als zugestellt, § 180 Satz 2 ZPO. Gemäß § 180 Satz 3 ZPO hat der Zusteller auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung zu vermerken. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass gesetzliche Regelungen über das Zustellungsverfahren verletzt worden wären.

Die über den Zustellungsvorgang zu erstellende Urkunde dient lediglich dem Nachweis der Zustellung, § 182 Abs. 1 Satz 1 ZPO (vgl. BGH, Urt. v. 15. März 2023, VIII ZR 99/22, NJW-RR 2023, 766 Rn. 20). Ihr notwendiger Inhalt ergibt sich aus § 182 Abs. 2 ZPO. Anders als die Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften im Sinne von § 189 Alt. 2 ZPO, etwa der in § 180 Satz 3 ZPO statuierten Verpflichtung (vgl. BGH NJWRR 2023, 766 Rn. 18), führen Fehler oder Lücken in der Zustellungsurkunde nicht ohne Weiteres zu einer Unwirksamkeit der Zustellung, die nur durch tatsächlichen Zugang gemäß § 189 ZPO geheilt werden könnte. Allenfalls bei Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Mangels kann die Unwirksamkeit der Zustellung in Betracht kommen (vgl. Vogt-Beheim in Anders/Gehle, ZPO, 81. Aufl. 2023, § 182 Rn. 21; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 44. Aufl. 2023, § 187 Rn. 7; Eyink, MDR 2008, 1255 [1257]; noch zu § 191 ZPO in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung: BGH, Urt. v. 29. Juni 1989, III ZR 92/87, NJW 1990, 176 [juris Rn. 13]; OLG München, Beschl. v. 11. Dezember 2001, 21 W 2569/01, MDR 2002, 414 [juris Rn. 7 ff.]). Sonstige Mängel wirken sich lediglich auf die Beweiskraft der Urkunde aus, § 419 ZPO (vgl. BGH, Beschl. v. 11. Juli 2018, XII ZB 138/18, NJW 2018, 2802 Rn. 5 und 8; Urt. v. 19. Juli 2007, I ZR 136/05, NJW-RR 2008, 218 Rn. 26; Dörndorfer in BeckOK ZPO, 49. Ed. Stand 1. Juli 2023, § 182 Rn. 14; Wittschier in Musielak/Voit, ZPO, 20. Aufl. 2023, § 182 Rn. 1 und 3; Häublein/Müller in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 182 Rn. 3 und 19; Siebert in Saenger, ZPO, 9. Aufl. 2021, § 182 Rn. 13; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2016, § 182 Rn. 17; BT-Drucks. 14/4554 S. 15 [re. Sp.], 22 [re. Sp.]). Ob fehlende, unklare oder unstimmige Angaben die Beweiskraft der Zustellungsurkunde mindern oder sogar aufheben, ist nach freier Überzeugung (§ 286 Abs. 1 ZPO) zu beurteilen. Gegebenenfalls bedarf es ergänzender Beweismittel (vgl. Roth in Stein/Jonas, ZPO, § 182 Rn. 17).

Gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 ZPO hat die Zustellungsurkunde die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde nach § 418 ZPO. Sie erstreckt sich auf sämtliche in der Urkunde bezeugten Tatsachen, mithin auf Zustellungsart, -zeit und -ort sowie bei Ersatzzustellung darauf, dass der Zusteller unter der angegebenen Anschrift weder den Adressaten persönlich noch eine zur Entgegennahme des Schriftstücks in Betracht kommende Person angetroffen und er das Schriftstück in den Briefkasten oder eine entsprechende Einrichtung eingelegt hat (Schultzky in Zöller, ZPO, § 182 Rn. 14 m. w. N.). Einschränkungen der Beweiskraft ergeben sich aus widersprüchlichen oder unklaren Angaben in einer ansonsten formal ordnungsgemäßen Zustellungsurkunde (Rohe in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl. 2022, § 182 Rn. 15).

Die vorliegende Urkunde enthält insofern eine Unstimmigkeit, als in ihr die Zustellanschrift und dementsprechend der Ort der Zustellung, § 182 Abs. 2 Nr. 7 ZPO, mit „A. G., 9xxxx München“ angegeben sind. Dass die Bezeichnung des Zustellorts mit „München“ eine auf einem Schreibversehen beruhende Unrichtigkeit ist, ergibt sich ohne weiteres aus der Kombination mit der Postleitzahl „9xxxx“. Diese Postleitzahl ist nicht München, sondern E. zugeordnet. Hinzu kommt, dass es eine Straße „A. G.“ in München nicht gibt, sehr wohl aber in E. Der Ort des beurkundeten Zustellungsvorgangs kann der Urkunde trotz des darin enthaltenen Fehlers ohne verbleibende Restzweifel durch Auslegung entnommen werden. Die Wirksamkeit der Zustellung wird durch die fehlerbehaftete Ortsangabe in der Urkunde nicht berührt.“

FE-Entziehung II: Bindungswirkung an Strafurteil, oder: Wenn das Strafgericht (nur) ein Fahrverbot verhängt

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Bei der zweiten „Entziehungsentscheidung“ handelt es sich um den OVG Saarland, Beschl. v. 09.08.2023 – 1 B 75/23 – zur Bindungswirkung eines strafgerichtlichen Urteils hinsichtlich der Kraftfahreignung (§ 3 Abs. 4 Satz 1 StVG).

Folgender Sachverhalt: Der Antragsgegner hat dem Antragsteller mit für sofort vollziehbar erklärter Verfügung vom 21.11.2022 die Fahrerlaubnis unter Verweis auf § 3 Abs. 1 StVG, §§ 11 Abs. 8 und 46 FeV entzogen (Ziffer 1) und ihn unter Androhung der Ersatzvornahme aufgefordert, seinen Führerschein abzugeben (Ziffer 2). Der Antragsteller sei mit Urteil des Amtsgerichts S vom 10.09.20091 wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr (2,31 ‰) verurteilt worden. Die Tat sei verwertbar. Die Tilgungsfrist sei noch nicht abgelaufen (§ 29 Abs. 5 StVG). Zwar sei dem Antragsteller im Dezember 2012 nach „bestandener“ medizinisch-psychologischer Untersuchung2 die Fahrerlaubnis wieder erteilt worden. Jedoch ergebe sich aus dem Urteil des Amtsgerichts V vom 17.06.20213 (Tat vom 08.10.2019), dass er erneut unter Alkoholeinfluss (0,59 ‰) am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen habe. Das Gericht habe ihn wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt und ihm zugleich die Fahrerlaubnis nach § 69 StGB entzogen. Das Urteil sei nach Maßgabe des Urteils des Landgerichts S vom 17.11.20214 (das den Schuldspruch bestätigt, das amtsgerichtliche Urteil jedoch dahingehend geändert hat, dass anstelle der Entziehung der Fahrerlaubnis nebst Sperrfrist ein Fahrverbot für drei Monate nach § 44 StGB verhängt wurde) rechtskräftig. Aufgrund dieser wiederholten Auffälligkeiten habe die Fahrerlaubnisbehörde erhebliche Zweifel an der Kraftfahreignung des Antragstellers gehegt und ihn daher mit Schreiben vom 10.02.2022 unter Verweis auf § 13 Satz 1 Nr. 2 lit. b FeV aufgefordert, sich einer medizinisch-psychologischen Fahrtauglichkeitsprüfung zu unterziehen. Da der Antragsteller dieser Aufforderung nach Verlängerung der Vorlagefrist nicht nachgekommen sei, sei der Schluss nach § 11 Abs. 8 FeV auf die fehlende Kraftfahreignung angezeigt. Nachdem er zudem mit Urteil vom 09.08.20225 wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort verurteilt worden sei, weise „sein“ Fahrerlaubnisregister drei verkehrsbezogene Straftaten (und – Stand: 23.09.2022 – fünf Punkte) auf. Es werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Anknüpfungspunkt der Fahrerlaubnisentziehung nicht der Vorfall vom 8.10.2019 sei, sondern die Entscheidung nach § 11 Abs. 8 FeV. Da der Antragsteller als Berufskraftfahrer in größerem Umfang als ein üblicher Fahrzeugführer am Straßenverkehr teilnehme, bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse an einer zeitnahen Durchsetzung der Entscheidung.

Der Atragsteller hat Widerspruch eingelegt und Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt. Der hatte beim VG keinen Erfolg, beim OVG dann aber doch. Das OVG führt zur „Bindungswirkung“ aus (Achtung: Das OVG arbeitet mit Fußnoten; die sind nur im Volltext enthalten):

„4. Denn zu Recht macht die Beschwerde geltend, dass das Landgericht S die Kraftfahreignung des Antragstellers in dem wegen der Tat vom 8.10.2019 geführten Strafverfahren mit Urteil vom 17.11.2021 geprüft (und bejaht) hat. Die Bindungswirkung dieser strafgerichtlichen Beurteilung (§ 3 Abs. 4 Satz 1 StVG) schließt es fallbezogen aus, dass die Fahrerlaubnisbehörde den Vorfall vom 8.10.2019 als Anlass für die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Fahreignungsbegutachtung nach § 13 Satz 1 Nr. 2 lit. b) FeV nimmt.

Nach § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG gilt: Will die Fahrerlaubnisbehörde in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigen, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, so kann sie zu dessen Nachteil vom Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen, als es sich (unter anderem) auf die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht.

a) Mit dieser Vorschrift soll die sowohl dem Strafgericht (§ 69 StGB) als auch der Verwaltungsbehörde (§ 3 Abs. 1 StVG) eingeräumte Befugnis, bei fehlender Kraftfahreignung die Fahrerlaubnis zu entziehen, so aufeinander abgestimmt werden, dass Doppelprüfungen unterbleiben und die Gefahr widersprechender Entscheidungen ausgeschaltet wird. Der Vorrang der strafrichterlichen vor der behördlichen Entscheidung findet seine Rechtfertigung darin, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis durch das Strafgericht als Maßregel der Besserung und Sicherung keine Nebenstrafe, sondern eine in die Zukunft gerichtete, aufgrund der Sachlage zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu treffende Entscheidung über die Gefährlichkeit des Kraftfahrers für den öffentlichen Straßenverkehr ist. Insofern deckt sich die dem Strafgericht übertragene Befugnis mit der Ordnungsaufgabe der Fahrerlaubnisbehörde.

Allerdings ist die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruht und wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als das Strafgericht auszugehen hat. Die Bindungswirkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn die Fahrerlaubnisbehörde den schriftlichen Urteilsgründen sicher entnehmen kann, dass überhaupt und mit welchem Ergebnis das Strafgericht die Fahreignung beurteilt hat (vgl. § 267 Abs. 6 Satz 2 StPO). Deshalb entfällt die Bindungswirkung, wenn das Strafurteil überhaupt keine Ausführungen zur Kraftfahreignung enthält oder wenn jedenfalls in den schriftlichen Urteilsgründen unklar bleibt, ob das Strafgericht die Fahreignung eigenständig beurteilt hat. In diesen Fällen wäre es mit der Ordnungsaufgabe, die der Fahrerlaubnisbehörde im Interesse der Verkehrssicherheit übertragen wurde, nicht zu vereinbaren, ihr die Möglichkeit zu nehmen, Klarheit über die zweifelhaft gebliebene Eignung des verurteilten Kraftfahrers zu schaffen. § 3 Abs. 4 StVG darf im Ergebnis nicht dazu führen, dass in keinem der beiden Verfahren die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ordnungsgemäß überprüft und beurteilt wird.12

b) Nach diesem Maßstab entfaltet das landgerichtliche Berufungsurteil vom 17.11.2021 entgegen der erstinstanzlichen Einschätzung Bindungswirkung zugunsten der Kraftfahreignung des Antragstellers.

Zwar ist die Tatsache, dass ein Strafgericht anstelle einer in Betracht kommenden Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) ein Fahrverbot (§ 44 StGB) verhängt, regelmäßig nicht schon für sich genommen Ausdruck einer stillschweigenden Prüfung (und Bejahung) der Fahreignung, so dass nicht bereits deswegen eine Bindungswirkung entsteht.13 Es fragt sich aber, ob hier etwas anderes zu gelten hat. Denn wie sich aus den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils zweifelsfrei ergibt, war Ziel des Berufungsverfahrens – und Schwerpunkt der landgerichtlichen Prüfung – gerade die „Abwehr“ der erstinstanzlich verhängten Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 69 StGB. Vor diesem Hintergrund könnte einiges dafürsprechen, dass (ausnahmsweise) schon die Entscheidungsformel – Änderung der in erster Instanz ausgesprochenen Fahrerlaubnisentziehung in eine Entscheidung nach § 44 StGB – Ausdruck einer im Sinne des § 3 Abs. 4 StVG hinreichenden Prüfung der Kraftfahreignung des Antragstellers sein könnte, zumal Fahrverbot und Fahrerlaubnisentziehung sich gegenseitig grundsätzlich ausschließen,14 § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB die Entziehung der Fahrerlaubnis seinem Wortlaut nach zwingend15 vorschreibt, sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen – unter anderem die fehlende Kraftfahreignung – gegeben sind16, und eine allzu „kleinteilige“ Betrachtung das Ziel des § 3 Abs. 4 StVG, Doppelprüfungen zu vermeiden, konterkarieren könnte.

Diese Frage kann aber auf sich beruhen. Denn aus der niedergelegten Begründung des Berufungsurteils vom 17.11.2021 wird hinreichend klar, dass das Landgericht die Kraftfahreignung des Antragstellers auf Grundlage der im Strafverfahren getroffenen Feststellungen eigenständig geprüft (und bejaht) hat.

Die Berufungskammer hält auf S. 3 des Urteils zunächst fest, sie habe „im Wesentlichen dieselben Feststellungen [wie das Amtsgericht] getroffen“ und führt auf dieser Grundlage aus, es sei nicht festzustellen, dass der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei. Die Tat, die kein Regelbeispiel des § 69 Abs. 2 StGB erfülle, sei bereits im Oktober 2019 geschehen, ohne dass es zu einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis gekommen wäre. Seither habe der Antragsteller sich in psychologischer Beratung befunden und ohne Auffälligkeiten am Straßenverkehr teilgenommen. Unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Antragstellers sei, so das Landgericht weiter, anstelle einer Entziehung der Fahrerlaubnis ein Fahrverbot ausreichend.

Damit hat das Strafgericht die gefahrenabwehrrechtliche Dimension des § 69 StGB erkannt und – wenngleich knapp – die Kraftfahreignung des Antragstellers aufgrund der in den Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beurteilt.

Die Urteilsgründe lassen demgegenüber keinen Raum für die Annahme, das Landgericht habe die Eignungsfrage nicht hinreichend beurteilt oder gar offengelassen. Die Überlegungen, die das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang angestellt hat, überzeugen letztlich nicht. Abgesehen davon, dass das Vorliegen einer Eignungsbeurteilung und damit der Eintritt der Bindungswirkung nicht durch das isolierte „Abarbeiten“ einzelner Begründungselemente erfolgen darf, sondern vielmehr nach dem Gesamtzusammenhang der Gründe des Strafurteils festgestellt werden muss,17 greifen die Erwägungen des Erstgerichts auch in der Sache nicht durch.

Dass der angefochtene Beschluss (weitere) „Ausführungen zur körperlichen und geistigen Verfassung des Antragstellers“ vermisst, überspannt fallbezogen die Anforderungen des § 3 Abs. 4 StGB. Dass das Strafurteil die Feststellung enthält, der Antragsteller leide „psychisch sehr unter dem Vorfall“, ändert nichts an der ausdrücklich positiven Beurteilung der Kraftfahreignung durch die Berufungskammer. Unzutreffend ist es ferner, wenn das Verwaltungsgericht festhält, das Landgericht habe „maßgeblich“ auf das Nichtvorliegen eines Regelbeispiels des § 69 Abs. 2 StGB abgestellt. Richtig ist vielmehr, dass die Berufungskammer diesen Aspekt als einen unter mehreren in ihre Eignungsbeurteilung hat einfließen lassen. Das dürfte im Übrigen nicht zu beanstanden sein, nachdem Straftaten, die (wie hier) nicht zu den Indiztaten des § 69 Abs. 2 StGB gehören, nach der Vorstellung des Gesetzgebers nicht schon typisierend auf einen „ungeeigneten“ Kraftfahrer deuten, sondern – was das Landgericht geleistet hat – eine Gesamtwürdigung von Tat und der in der Tat hervorgetretenen Täterpersönlichkeit erforderlich machen.18

Der Senat vermag sich ferner nicht der Einschätzung des Verwaltungsgerichts anzuschließen, der Hinweis im Urteil des Landgerichts vom 17.11.2021 auf eine unauffällige Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr seit der Tat vom 8.10.2019 mache deutlich, dass das Strafgericht gerade keine eigenständige Bewertung der Kraftfahreignung vorgenommen habe. Die als Beleg für diese Ansicht angeführten Entscheidungen19 zeichnen sich dadurch aus, dass die dort auf eine Bindungswirkung zu prüfenden strafgerichtlichen Entscheidungen den Zeitablauf als einziges oder doch zumindest schlagendes Argument für das Absehen von einer Entziehung der Fahrerlaubnis anführten.20 Eine solche Anwendung des § 69 Abs. 1 StGB wird den Anforderungen an eine im Lichte des § 3 Abs. 4 StVG hinreichende, die Bindungswirkung auslösende, Eignungsbeurteilung sicher nicht gerecht. So liegt der Fall hier aber nicht, nachdem das Landgericht (wie dargelegt) weitere Umstände in seine Beurteilung hat einfließen lassen. Im Übrigen hat das Landgericht mit seinem Hinweis auf eine unterbliebene vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis fallbezogen die Erkenntnis zum Ausdruck gebracht, dass die in früheren Stadien des Ermittlungs- bzw. Strafverfahrens dazu berufenen Stellen (vgl. § 162 StPO) offenbar (ebenfalls) zumindest keine „dringenden“ Gründe für die Annahme sahen, dem Antragsteller fehle die Kraftfahreignung (§ 111a Abs. 1 Satz 1 StPO, § 69 StGB).

Lediglich ergänzend sei erwähnt, dass der Umstand, dass nach dem Wortlaut des Berufungsurteils (bloß) die fehlende Eignung des Antragstellers nicht habe festgestellt werden können, keine andere Einschätzung gebietet. Eine Unterscheidung zwischen positiver Feststellung der Eignung und Verneinung der Ungeeignetheit ist jedenfalls im Entziehungsverfahren rechtlich ohne Belang. Ist die Ungeeignetheit nicht gegeben, muss der Kraftfahrer im Rechtssinn als (weiterhin) geeignet angesehen werden.21 Im Übrigen korrespondiert die Begründung, die das Landgericht für seine Entscheidung gegeben hat, mit dem Prüfauftrag, den § 69 StGB dem Strafgericht aufgibt. Tatbestandliche Voraussetzung für ein Vorgehen nach dieser Vorschrift ist nämlich (unter anderem), dass sich aus der Tat ergibt, dass der Angeklagte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Die Feststellung der Eignung ist der Norm hingegen fremd.

c) Anders als das Verwaltungsgericht meint, entfällt die Bindungswirkung nicht deswegen, weil der Antragsgegner fallbezogen einen umfassenderen Sachverhalt zu beurteilen hätte. Im Ansatz zu Recht geht das Gericht zwar davon aus, dass eine strafgerichtliche Eignungsbeurteilung die Fahrerlaubnisbehörde nach § 3 Abs. 4 StVG nicht bindet, wenn die strafrechtliche Untersuchung nur einen Teil des Vorgangs abdeckt, der verwaltungsrechtlich zu beurteilen ist.22 Der Hinweis, das Landgericht habe in Bezug auf die „Alkoholproblematik“ des Antragstellers als Eignungsmangel keine hinreichenden Feststellungen getroffen, geht hier indes fehl. Wie sich aus den Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils ergibt, die das Landgericht „im Wesentlichen“ gleichlautend getroffen hat, war die Alkoholisierung des Antragstellers am Tattag Gegenstand des Strafverfahrens. Zudem spricht ausweislich des Verweises auf das amtsgerichtliche Urteil nichts dafür, dass das Landgericht die frühere „Alkoholtat“ des Antragstellers – Urteil des Amtsgerichts S vom 10.9.2009 wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr (2,31 ‰) – unberücksichtigt gelassen hätte.23

Nach alledem ist nach den Entscheidungsgründen des Urteils vom 17.11.2021 davon auszugehen, dass die Berufungskammer in Ansehung all dieser Umstände und als Ausdruck einer hinreichenden eigenen Prüfung die Kraftfahreignung des Antragstellers bejaht hat. Darüber, ob man diese Einschätzung für „richtig“ oder „falsch“ hält, mag man streiten. Für die Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 StVG ist das freilich ohne Relevanz.“

FE-Entziehung I: Inhalt der Begutachtungsanordnung, oder: „Hinweise“ auf gelegentlichen Cannabiskonsum

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Und zum Wochenschluss heute dann mal wieder zwei Entscheidungen in Zusammenhang mit der Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem StVG.

Ich starte mit dem OVG Münster, Beschl. v. 04.05.2023 – 16 B 1271/22 – zur Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Ungeeignetheit bei gelegentlichem Cannabiskonsum und Verkehrsteilnahme.  Gestritten wird um die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis. Die Fahrerlaubnisbehörde hatte aus der Nichtbeibringung eines angeforderten Gutachtens auf die Ungeeignetheit des Inhabers der FE geschlossen. Der hatte u.a. auch geltend gemacht, dass die Gutachtenanforderungen nicht rechtmäßig, weil nicht ausreichend begründet, war. Ohne Erfolg:

„Die mit Bescheid vom 27. September 2022 erfolgte Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers erweist sich als offensichtlich rechtmäßig. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Für diese Entscheidung, die nicht im Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde steht, muss die Fahrungeeignetheit des Betroffenen feststehen. Dieses Erfordernis war im maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entziehungsentscheidung, dem Zeitpunkt ihres Erlasses,

vgl.  BVerwG, Urteile vom 11. Dezember 2008 – 3 C 26.07 -, juris, Rn. 16, vom 11. April 2019 – 3 C 14.17 -, juris, Rn. 11, und vom 7. April 2022 – 3 C 9.21 -, juris, Rn. 13; OVG NRW, Beschluss vom 16. Februar 2021 – 16 B 1496/20 -, juris, Rn. 3,

gegeben. Die Beschwerdebegründung weist zu Recht darauf hin, dass der Antragsgegner wegen der Nichtbeibringung des unter dem 16. Mai 2022 angeforderten Gutachtens gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen durfte.

Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 3, § 2 Abs. 8 StVG kann die Fahrerlaubnisbehörde, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, die Beibringung eines Gutachtens u. a. einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung anordnen. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf sie bei ihrer Entscheidung nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung des Betroffenen schließen. Der Schluss auf die Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ist zulässig, wenn die Anordnung der Untersuchung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig, war.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 9. Juni 2005 – 3 C 21.04 -, juris, Rn. 20 ff. m. w. N., und vom 17. November 2016 – 3 C 20.15 -, juris, Rn. 16 ff.; zu § 15b Abs. 2 StVZO a. F. siehe BVerwG, Urteil vom 5. Juli 2001 – 3 C 13.01 -, juris, Rn. 20; OVG NRW, Beschluss vom 17. März 2021 – 16 B 22/21 -, juris, Rn. 5 m. w. N.; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 11 FeV Rn. 55.

Diesen Anforderungen genügt die Begutachtungsanordnung vom 16. Mai 2022. Sie wahrt die an sie zu stellenden formellen Anforderungen; insbesondere bestehen – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts – keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken an der hierin mitgeteilten und für das alsdann zu erstellende Gutachten maßgeblichen Fragestellung.

Da eine Gutachtenanordnung nicht selbständig anfechtbar ist, sondern nur im Rahmen eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen eine daran anknüpfende Fahrerlaubnisentziehung oder sonstige in Rechte des Betroffenen eingreifende Maßnahme der Fahrerlaubnisbehörde inzident auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden kann, ist es ein Gebot effektiven Rechtsschutzes, strenge Anforderungen zu stellen. Die Begutachtungsanordnung muss im Wesentlichen aus sich heraus verständlich sein. Für den Betroffenen muss ausgehend von der für die jeweilige Fallgestaltung in Betracht kommenden Befugnisnorm in der Fahrerlaubnis-Verordnung erkennbar sein, was der Anlass für die angeordnete Untersuchung ist und ob die in ihr verlautbarten Gründe die behördlichen Bedenken an der Kraftfahreignung zu rechtfertigen vermögen. Denn nur auf der Grundlage dieser Information kann er sachgerecht einschätzen, ob er sich trotz der mit einer Untersuchung verbundenen Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts und der Kostenbelastung der Begutachtung stellen oder die mit der Verweigerung der Begutachtung verbundenen Risiken eingehen möchte.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Februar 2015 – 3 B 16.14 -, juris, Rn. 8, und Urteil vom 17. November 2016 – 3 C 20.15 -, juris, Rn. 17 ff.; OVG NRW, Beschlüsse vom 7. Februar 2013 – 16 E 1257/12 -, juris, Rn. 4 f. m. w. N., vom 10. September 2014 – 16 B 912/14 -, juris, Rn. 6 f. m. w. N., und vom 9. November 2020 – 16 B 1697/19 -, juris, Rn. 8.

Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die erste Frage der Gutachtenanordnung vom 16. Mai 2022 („Kann der zu Untersuchende trotz der Hinweise auf einen gelegentlichen Cannabiskonsum sowie der bekannten Verkehrsteilnahme unter Cannabis ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 sicher führen?“) gehe über das erforderliche Maß hinaus, da mit Blick auf diese Frage unklar bleibe, warum der Antragsgegner einerseits von einem gelegentlichen Cannabiskonsum des Antragstellers ausgehe, in der Frage hingegen lediglich diesbezügliche „Hinweise“ erwähne, teilt der Senat nicht.

Vgl. bereits OVG NRW, Beschluss vom 4. Juni 2020 – 16 B 672/20 -, juris, Rn. 10.

Dass der Antragsgegner in der Gutachtenfrage den Begriff „Hinweise“ verwendete, mag eine unnötige Ungenauigkeit in der Formulierung der Frage darstellen, führt jedoch nicht bereits zur Rechtswidrigkeit der Begutachtungsanordnung. Denn diese ist nicht allein anhand der Fragestellung, sondern in der Zusammenschau mit den hierin verlautbarten Gründen für die Begutachtung zu beurteilen.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. November 2020 – 16 B 1697/19 -, juris, Rn. 7.

Aus diesen ergibt sich – worauf der Antragsgegner in seiner Beschwerdebegründung zutreffend hinweist – sowohl für den Antragsteller als auch für die die angeordnete medizinisch-psychologische Untersuchung durchführenden Gutachter eindeutig, dass ein gelegentlicher Cannabiskonsum des Antragstellers aus Sicht der Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners feststeht („Es wird auch im vorliegenden Fall von einem gelegentlichen Konsum ausgegangen.“).

Das von dem Verwaltungsgericht und nachfolgend auch dem Antragsteller unterstellte Risiko, dass sich die Gutachter veranlasst fühlen könnten, das Konsummuster des Antragstellers zu überprüfen, sieht der Senat nicht. Nach dem Vorstehenden ist der Begründung der Anordnung vom 16. Mai 2022, die den Umfang der Begutachtung bestimmt und begrenzt, ausdrücklich zu entnehmen, dass von einem gelegentlichen Konsum von Cannabis durch den Antragsteller ausgegangen wurde. Eine Aufweichung der Grenze zu § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FeV, wie sie der Antragsteller rügt, ist dergestalt nicht erkennbar.

Der Einwand des Antragstellers, die Fragestellung sei unverhältnismäßig, soweit auch nach einem sicheren Führen von Kraftfahrzeugen gefragt werde, greift nicht durch. Bei der Beurteilung der (auch hier abzuklärenden) Fahreignung wird davon ausgegangen, dass ein Betroffener ein Kraftfahrzeug nur dann nicht sicher führen kann, wenn aufgrund des individuellen körperlich-geistigen (psychischen) Zustandes beim Führen eines Kraftfahrzeugs eine Verkehrsgefährdung zu erwarten ist.

Vgl. Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 in der Fassung vom 17. Februar 2021, S. 7.

Anknüpfungspunkt für die Zweifel am sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs sind vorliegend der gelegentliche Cannabiskonsum und die Verkehrsteilnahme des Antragstellers am 7. Oktober 2021. Hierdurch bestanden Bedenken an seiner Fahreignung, so dass seine Fähigkeit bzw. Bereitschaft, den gelegentlichen Konsum von Cannabis und das Führen von Kraftfahrzeugen zu trennen (Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV), zu überprüfen waren. Die hierauf explizit abstellende zweite Frage der Begutachtungsanordnung ist insoweit eine Präzisierung der ersten Frage („Ist insbesondere nicht zu erwarten, dass er auch künftig ein Kraftfahrzeug unter Einfluss von Cannabis oder dessen Nachwirkungen führen wird [Fähigkeit zum Trennen von Konsum und Verkehrsteilnahme]?“, Hervorhebung durch den Senat). Beide Fragen sind miteinander verknüpft, was indes in den von dem Antragsteller in Bezug genommenen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Oldenburg (Beschluss vom 26. Februar 2020 – 7 B 392/20 -, juris) und Schleswig-Holstein (Beschluss vom 28. Februar 2022 – 3 B 11/22 -) – soweit überhaupt eine identische oder doch zumindest vergleichbare Fragestellung vorliegen sollte – keine Berücksichtigung gefunden hat. Die Bedenken an einer Fragestellung, wie sie hier in Rede steht, werden auch durch das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein nicht geteilt.

Vgl. Beschluss vom 26. Oktober 2022 – 5 MB 22/22 -, juris, Rn. 24 ff.

Der gegen die erste Frage in der Gutachtenanordnung gerichtete Einwand des Antragstellers, ein wissenschaftlich belegter Erfahrungssatz, dass Cannabiskonsumenten per se ein Kraftfahrzeug nicht sicher führen könnten, sei nicht bekannt und auch vom Antragsgegner nicht dargelegt worden, übersieht in diesem Zusammenhang, dass ein sicheres Führen eines Kraftfahrzeugs grundsätzlich nicht angenommen werden kann, wenn keine Geeignetheit i. S. v. Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV vorliegt. Entgegen dem Verständnis des Antragstellers ist insofern nicht vorauszusetzen, dass der betreffende Fahrerlaubnisinhaber wegen einer unsicheren Fahrweise aufgefallen ist.

Auch im Übrigen sind die formellen Anforderungen an eine Begutachtungsanordnung erfüllt. Dem Erfordernis zur Angabe der für die Untersuchung in Betracht kommenden Stelle oder Stellen ist ebenso Genüge getan wie den Hinweispflichten auf die Kostentragungspflicht des Antragstellers, auf sein Akteneinsichtsrecht sowie auf die Folgen einer nicht oder nicht fristgerechten Vorlage des Gutachtens (§ 11 Abs. 6 Satz 2, Abs. 8 Satz 2 FeV). Darüber hinaus enthält die Anordnung vom 16. Mai 2022 die Festlegung einer Frist, innerhalb derer die Untersuchung zu erfolgen hatte; die vorliegend gesetzte Frist von drei Monaten war angemessen bestimmt.

Des Weiteren lagen auch die materiellen Voraussetzungen nach § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV für die dem Antragsteller abverlangte Begutachtung vor. Die der Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners bekannt gewordenen Tatsachen begründeten Zweifel an der Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen, welche die Behörde zum Erlass der Begutachtungsanordnung berechtigten.

Nach Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV – für eine ärztlich verordnete Einnahme von Cannabis i. S. d. Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV fehlt es bereits an Nachweisen – ist zum Führen von Kraftfahrzeugen grundsätzlich u. a. ungeeignet, wer gelegentlich, also mehr als nur einmalig, in voneinander getrennten Konsumakten, die in hinreichendem zeitlichen Zusammenhang stehen, Cannabis konsumiert und nicht zwischen der Einnahme und dem Führen eines Kraftfahrzeugs trennt. Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV kann die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden, wenn gelegentliche Einnahme von Cannabis vorliegt und weitere Tatsachen Zweifel an der Eignung begründen.

Von einem gelegentlichen, also mehr als einmaligen Konsum von Cannabis durch den Antragsteller ist auszugehen. Zum einen stellt der Antragsteller den gelegentlichen Cannabiskonsum nicht ausdrücklich in Abrede. Zum anderen ist aufgrund der Angaben des Antragstellers im Rahmen der Polizeikontrolle und dem in seinem Blut festgestellten THC-Wert auf einen gelegentlichen Konsum zu schließen. Durch das Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums L.    vom 10. November 2021 ist ein Konsumakt belegt, da in den dem Antragsteller am 7. Oktober 2021 entnommenen Blutproben THC in einer Konzentration von 5,5 µg/l nachgewiesen wurde. Der Antragsteller räumte gegenüber dem die Polizeikontrolle am selben Tag durchführenden Polizeibeamten ein, zuletzt am vergangenen Wochenende einen Joint geraucht zu haben. Da THC nach einem Einzelkonsum im Blutserum nur für etwa sechs bis zwölf Stunden, jedoch bei einem regelmäßigen bzw. mehrfach täglichen Konsum auch über 24 Stunden im Blutserum nachweisbar ist,

vgl. Graw/Brenner-Hartmann/Haffner/Musshoff, in: Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Kommentar, 3. Auflage 2018, S. 322,

kann der Nachweis von THC in den am Donnerstag, den 7. Oktober 2021, entnommenen Blutproben gerade nicht auf den eingeräumten Konsum von Cannabis am Wochenende zuvor zurückgeführt werden.

Darüber hinaus liegt in der Fahrt vom 7. Oktober 2021 unter Cannabiseinfluss (5,5 µg/l) ein Verstoß gegen das Trennungsgebot nach Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV, der Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers begründete (§ 46 Abs. 3 i. V. m. § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV).

Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. April 2019 – 3 C 13.17 -, juris, Rn. 15 ff.

Der demnach berechtigten Anordnung der Beibringung eines Fahreignungsgutachtens ist der Antragsteller nicht nachgekommen. Tragfähige Gründe für die Nichtvorlage hat er nicht geltend gemacht…..“

Klima II: Erkennungsdienstliche Behandlung zulässig?, oder: Verwerflichkeit und Wiederholungsgefahr

entnommen wikimedia.org
Urheber Fotografie: Frank C. Müller, Baden-Baden

Und im zweiten „Klima-Posting“ dann mal etwas Verfahrensrechtliches, und zwar geht es um die eine Klimaaktivisten betreffende erkennungsdienstliche Behandlung. Zu deren Zulässigkeit hat das VG Trier, Urt. v. 07.08.2023 – 8 K 1253/23.TR – Stellung genommen.

Gegen die Klägerin sind in der Vergangenheit wegen der Teilnahme an Versammlungen mehrfach Ermittlungsverfahren geführt worden. Gegen sie wird dann nach einer Blockadeaktion im Juni 2021 wegen des Verdachts der Nötigung und des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte ermittelt. Im Zuge dieser Ermittlungen ist die erkennungsdienstliche Behandlung der Klägerin angeordnet worden (§ 81b Abs. 1 2. Alt StPO) angeordnet und es sind Finger- und Handflächenabdrücke und Lichtbilder gemacht worden. Außerdem hat man äußere körperliche Merkmale genommen sowie Messungen durchgeführt.

Dagegen richtet sich die Klage, die beim VG keinen Erfolg hatte. Ich verweise wegen der Einzelheiten auf die umfangreiche Begründung des VG-Urteils. Hier stelle ich nur die Ausführungen des VG zur Verwerflichkeit und zur Wiederholungsgefahr ein:

„……

Vor diesem Hintergrund besteht jedenfalls ein hinreichender Tatverdacht wegen der der Klägerin vorgeworfenen Nötigung, was auch durch die Anklageerhebung selbst bestätigt wird (vgl. § 170 Abs. 1 StPO). Das Verhalten der Klägerin ist auch als verwerflich im Sinne von § 240 Abs. 2 Strafgesetzbuch – StGB – anzusehen. Denn bereits eine gewaltsame, gezielte Blockade von Verkehrsteilnehmern mit dem Zweck mediale Aufmerksamkeit zu erlangen, kann genügen, um ein Verhalten im Rahmen der Zweck-Mittel-Relation als verwerflich einzustufen – der Inhalt des politischen Ziels, wie etwa der in Art. 20a GG verankerte Klimaschutz, spielt dabei grundsätzlich keine Rolle (vgl. LG Berlin, Urteil vom 18. Januar 2023 – [518] 237 Js 518/22 Ns [31/22] –, juris). Im hier vorliegenden Fall kommt erschwerend hinzu, dass das Verhalten der Klägerin jedenfalls deshalb in besonderem Maße als verwerflich zu bewerten ist, weil sie wissentlich ein im Einsatz befindliches Rettungsfahrzeug an der Weiterfahrt gehindert und damit bewusst die Gefährdung von Gesundheit und Leben unbeteiligter Dritter in Kauf genommen hat, um ihre eigenen (politischen) Interessen durchzusetzen.

Das Verhalten der Klägerin ist auch nicht durch die in Art. 8 Abs. 1 GG verankerte Versammlungsfreiheit gedeckt. Denn diese schützt zwar die Teilhabe an der Willensbildung, nicht aber die zwangsweise oder sonst wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen. Die mit der Ausübung des Versammlungsrechts unvermeidbaren nötigenden Wirkungen in Gestalt von Behinderungen Dritter und Zwangswirkungen sind demnach nur dann durch Art. 8 GG gerechtfertigt, soweit sie als sozial-adäquate Nebenfolgen mit rechtmäßigen Demonstrationen verbunden sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90 –, juris, Rn. 44, 54). Dies war hier jedoch – wie dargestellt – offenkundig nicht der Fall.

Auch handelt es sich bei der Anlasstat nicht um eine einmalige Jugendverfehlung, die als Ausdruck jugendlichen Leichtsinns oder jugendlicher Unreife gewertet werden kann. Straßenblockaden zum Zwecke der Durchsetzung politischer Ziele sind im Allgemeinen nicht typischerweise nur auf Jugendliche beschränkt. Vielmehr werden sie generationsübergreifend von Menschen verschiedener Altersklassen begangen. Unbeschadet dessen hätte – selbst wenn man der Klägerin infolge eines jugendlichen Reiferückstand ein fehlendes Bewusstsein für die Folgen des eigenen Handelns unterstellte – jedenfalls nach Ansprache und Bewusstwerdens eines medizinischen Notfalls ein Umdenken stattfinden müssen, was hier jedoch unterblieb. Vielmehr hat sie sich bewusst dazu entschieden, die Blockadeaktion in Kenntnis dieser Tatsache ohne Rücksicht auf die Gesundheit und das Leben unbeteiligter Personen fortzusetzen.

Dass es sich hier auch nicht um bloß einmaliges Fehlverhalten handelt, wird im Übrigen auch durch die weiteren in der Vergangenheit gegen sie geführten Ermittlungsverfahren und die damit zutage getretene Persönlichkeitsstruktur der Klägerin bestätigt. Die Klägerin ist in Zusammenhang mit der Teilnahme an Versammlungen seit 2019 immer wieder in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aufgefallen, wobei jeweils Delikte wie etwa Nötigung (§ 240 StGB), Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) und Verstöße gegen das Versammlungsgesetz (§ 21 Versammlungsgesetz – VersammlG –, § 25 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 15 Abs. 1 VersammlG, § 26 VersammlG) im Raum standen. Auch wenn die Klägerin in Bezug auf das Verfahren *** freigesprochen und die übrigen Ermittlungsverfahren eingestellt wurden, zeigen diese eindrücklich, dass sich die Klägerin bereits in der Vergangenheit stets an der Grenze zur Strafbarkeit bewegte, die sie jedenfalls mit dem ihr im Anlassermittlungsverfahren zur Last gelegten Verhalten überschritt. Damit hat sie ihre Vorgehensweise in Bezug auf die von ihr verfolgten politischen Anliegen über die Jahre verfestigt und in den gewählten Mitteln zunehmend dergestalt radikalisiert, dass sie zu strafbewehrtem Verhalten übergegangen ist.

Die Prognose des Beklagten hinsichtlich der Wiederholungsgefahr erweist sich auch als sachgerecht und vertretbar. Trotz des zunehmenden zeitlichen Abstands – die Anlasstat liegt mittlerweile mehr als zwei Jahre zurück – bestehen im konkreten Fall der Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiterhin genügende Anhaltspunkte für die Annahme, sie werde künftig wieder Verdächtige noch aufzuklärender strafbarer Handlungen werden. Insbesondere die aus den Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften Trier und D*** *** und *** gewonnenen Erkenntnisse und die Persönlichkeitsstruktur der Klägerin lassen auf eine drohende Wiederholung schließen.

……“