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Haft III: Freiwerden der Kaution mit HB-Aufhebung, oder: Verrechnung der Kaution mit Verfahrenskosten?

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Und dann noch der OLG Celle, Beschl. v. 11.01.2024 – 2 Ws 7/24. Ja, das Datum ist richtig. Der Beschluss ist erst vor kurzem veröffentlich worden.

In der Sache geht es in einem BtM-Verfahren um die Freigabe von Sicherheitsleistung gem. § 116 Abs. 1 Nr. 4 StPO. Das AG hatte gegen den Angeklagten am 04.02.2023 einen Haftbefehl erlassen, der auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt war. Mit Beschluss vom 22.05.2023 hat das LG den Haftbefehl des AG gem. § 116 Abs. 1 Nr. 4 StPO u.a. mit der Maßgabe außer Vollzug gesetzt, dass der Angeklagte innerhalb von 48 Stunden einen Betrag von 30.000 EUR an die Hinterlegungsstelle des  übergibt oder dorthin überweist. Im Rahmen der dieser Entscheidung zugrundeliegenden mündlichen Haftprüfung hatte sich der Angeklagte mit einer Verrechnung der von ihm gestellten Kaution auf die Kosten des Verfahrens und auf eine etwaige Einziehung einverstanden erklärt, soweit er nicht freigesprochen werden sollte.

Am 3. Hauptverhandlungstag, dem 04.10.2023, hat die Strafkammer den Haftbefehl aufgehoben.

Mit Schriftsatz seiner Verfahrensbevollmächtigten vom 27.10.2023 beantragte dann der Drittbetroffene gegenüber der Hinterlegungsstelle die Freigabe der auf die Auflage gem. § 116 Abs. 1 Nr. 4 StPO geleisteten Hinterlegungssumme und machte unter Beifügung einer Abtretungserklärung geltend, der Angeklagte abe ihm den Rückzahlungsanspruch auf die Kaution abgetreten. Ferner bat er mit weiterem Schriftsatz seiner Verfahrensbevollmächtigten vom selben Tage gegenüber dem LG um Freigabe der Kaution.

Das LG hat den Antrag des Drittbetroffenen auf „Auszahlung der Kaution“ abgelehnt, da zum damaligen Zeitpunkt in dem Strafverfahren gegen den Angeklagten noch kein Urteil ergangen war und dieser sich ausdrücklich mit einer Anrechnung der Sicherheitsleistung auf etwaig anfallende Verfahrenskosten und mögliche Einziehungsentscheidungen einverstanden erklärt habe. Hiergegen wendet sich der Drittbetroffene mit seiner Beschwerde, der das Landgericht  nicht abgeholfen hat.

Mit nicht rechtskräftigem Urteil vom 14.11.2023 wurde der Angeklagte wegen versuchter Erpressung sowie Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt und die Einziehung des Wertes des Taterlangten in Höhe von 700 EUR angeordnet. Zugleich wurden dem Angeklagten die ihn betreffenden Kosten des Verfahrens auferlegt.

Das Rechtsmittel hatte Erfolg. Das OLG hat den LG-beschluss und den Nichtabhilfebeschluss vom 14.11.2023 aufgehoben. Es hat zudem festgestellt, dass die in der Hinterlegung eines Geldbetrages von 30.000 EUR bestehende Sicherheit des Angeklagten im Zeitpunkt der Aufhebung des gegen ihn erlassenen Haftbefehls durch Beschluss des LG Lüneburg vom 04.10.2023 kraft Gesetzes frei geworden ist:

„1. Eine Sicherheit i.S.v. §§ 116, 116a StPO verfällt der Staatskasse gem. § 124 Abs. 1 StPO nur dann, wenn der Beschuldigte sich der Untersuchung oder dem Antritt der erkannten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung entzieht. Dabei kann eine wirksam bestellte Sicherheit ohnehin nur verfallen, wenn sie nicht zuvor gem. § 123 StPO frei geworden ist (BeckOK StPO/Krauß, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 124 Rn. 1). Der Grund für den Verfall ist nicht der Ungehorsam des Beschuldigten; die verfahrensrechtliche Folge des Verfalls beruht vielmehr auf dem Verstoß gegen den Sicherungszweck (Lind in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 124 Verfall der geleisteten Sicherheit, Rn. 1). Vorliegend ist ein derartiger Verstoß gegen den Sicherungszweck nicht zu konstatieren, so dass ein Verfall der Sicherheitsleistung ausscheidet.

2. Nach der gesetzlichen Regelung in § 123 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO wurde vielmehr mit Aufhebung des Haftbefehls gegen H. E.-Z. die geleistete, noch nicht verfallene Sicherheit frei.

3. Fraglich erscheint indes, ob die im Haftprüfungstermin vom 22. Mai 2023 vom Angeklagten H. E.-Z. abgegebene Erklärung, mit einer Verrechnung der Kaution auf etwaige, ihm auferlegte Verfahrenskosten sowie gegen ihn ergehende Einziehungsentscheidungen einverstanden zu sein, eine andere Beurteilung rechtfertigt.

Dies ist zur Überzeugung des Senates jedoch nicht der Fall, weil sich die Einverständniserklärung als unwirksam erweist.

Im Einzelnen:

a) Die Gestellung einer Kaution soll zum einen die Teilnahme des Beschuldigten am Strafverfahren, zum anderen auch den Antritt einer erkannten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung sicherstellen (KK-StPO/Graf, 9. Aufl. 2023, StPO § 116 Rn. 18; Lind in: Löwe-Rosenberg, a.a.O.; § 116 Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls, Rn. 17). Weitere Zwecke werden mit der Sicherheitsleistung nicht verfolgt (BGH, Urteil vom 17.3.2016 – IX ZR 303/14, NStZ 2016, 620; Lind in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 116a Aussetzung gegen Sicherheitsleistung, Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Auflage 2023, § 116, Rn. 4).

b) Vor diesem Hintergrund ist in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass eine Aufrechnung der in einem Strafverfahren zu Lasten des Angeklagten angefallenen Gerichtskosten gegen seinen Herausgabeanspruch bezüglich einer von ihm geleisteten Kaution unzulässig ist, weil eine Erfüllung des Rückzahlungsanspruchs durch Aufrechnung mit nicht im Hinterlegungsverhältnis wurzelnden Zahlungsansprüchen gegen Treu und Glauben verstößt (OLG Frankfurt, Beschluss vom 3. Februar 2000 – 20 W 409/99 –, juris; BGH, Urteil vom 24. Juni 1985 – III ZR 219/83 –, BGHZ 95, 109-117). Denn gerade im Fall der Anordnung einer Sicherheitsleistung gem. §§ 116, 116a StPO wird deutlich, dass die Zulassung einer uneingeschränkten Aufrechnungsbefugnis mit dem dargelegten Zweck der Hinterlegung unvereinbar ist (OLG Frankfurt a.a.O.; BGH a.a.O.).

c) In der strafgerichtlichen Rechtsprechung ist bislang obergerichtlich nicht geklärt, ob eine von dem Angeklagten im Haftprüfungsverfahren freiwillig abgegebene Erklärung mit einer Verrechnung der Kaution auf etwaige, ihm auferlegte Verfahrenskosten sowie gegen ihn ergehende Einziehungsentscheidungen einverstanden zu sein, wirksam ist.

Insoweit wird in der Rechtsprechung allerdings für den Fall, dass dem Angeklagten ohne sein ausdrücklich erklärtes Einverständnis die Auflage erteilt wird, eine Kaution zu hinterlegen und sich mit der Verrechnung der Kaution auf eine mögliche Geldstrafe und die Verfahrenskosten einverstanden zu erklären, angenommen, dass eine derartige Verrechnungserklärung keinen Bestand haben kann (LG München II, Beschluss vom 3. August 1998 – 5 Qs 5/98, StV 1998, 554; LG München II, Beschluss vom 8. November 2002, Az.: 4 Qs 25/02, StraFo 2003, 92).

d) Nichts anderes kann unter Berücksichtigung des bereits dargelegten Zwecks einer Sicherheitsleistung sowie der gesetzlichen Systematik in der hier gegebenen Konstellation gelten.

Denn das Gesetz sieht die Sicherung der Vollstreckung einer Geldstrafe und der Kosten des Verfahrens nur in abschließend geregelten Fällen vor. Lediglich gem. § 127a Abs. 1 Nr. 2 StPO kann von der Anordnung oder Aufrechterhaltung der vorläufigen Festnahme abgesehen werden, wenn der Beschuldigte eine angemessene Sicherheit für die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens leistet. Zudem kann gem. § 111e Abs. 1 StPO, um die Vollstreckung einer Einziehung von Wertersatz zu sichern, ein Vermögensarrest in das bewegliche und unbewegliche Vermögen des Betroffenen angeordnet werden. Das Gesetz sieht ferner die Möglichkeit eines Vermögensarrestes gem. § 111e Abs. 2 StPO auch zur Sicherung der Vollstreckung einer Geldstrafe und der voraussichtlichen Kosten des Strafverfahrens vor, wenn gegen den Beschuldigten ein Urteil ergangen oder ein Strafbefehl erlassen worden ist.

Auf diese gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten ist die Sicherung der Vollstreckung der Kosten und des Einziehungsbetrages hier jedoch nicht gestützt worden.

Eine analoge Heranziehung des diesen Vorschriften zugrundeliegenden Rechtsgedankens auf die vorliegend zu beurteilende Konstellation scheidet bereits mit Blick auf den aufgezeigten Zweck der Sicherheitsleistung aus. Es widerspricht gerade dem Sicherungszweck, die Rückgewährung der Kaution durch Verrechnung mit Kosten und Einziehungsbeträgen einzuschränken, weil für den Beschuldigten dadurch der Anreiz gerade verringert wird, sich dem Verfahren zu stellen.

e) Der Antrag auf Freigabe der Kaution stellt sich schließlich auch nicht als rechtsmissbräuchlich dar.

Unabhängig davon, dass der Drittbetroffene selbst keine Einverständniserklärung abgegeben und sich daher auch nicht arglistig verhalten hat, besteht – wie bereits dargelegt – ein Aufrechnungsverbot hinsichtlich der in einem Strafverfahren zu Lasten des Angeklagten angefallenen Gerichtskosten gegen seinen Herausgabeanspruch auf die geleistete Kaution, weil eine Erfüllung des Rückzahlungsanspruchs durch Aufrechnung mit nicht im Hinterlegungsverhältnis wurzelnden Zahlungsansprüchen gegen Treu und Glauben verstößt (OLG Frankfurt a.a.O.; BGH a.a.O). Vor diesem Hintergrund kann sich das Begehr auf Freigabe der mit Aufhebung des Haftbefehls nach dem Gesetz grundsätzlich frei gewordenen Sicherheitsleistung nicht als rechtsmissbräuchlich darstellen.

Dies gilt auch und vor allem unter Berücksichtigung der Situation, in der der Angeklagte seine Einverständniserklärung abgegeben hat. Denn dieser befand sich bei Abgabe der Erklärung im Vollzug der Untersuchungshaft und begehrte die Haftverschonung. Zwar ist die Aussetzung obligatorisch, wenn die Voraussetzungen von § 116 Abs. 1 StPO vorliegen; im Rahmen der gebotenen Prognose, ob der Haftgrund infolge von Sicherungsauflagen entfällt, sind jedoch die für den Vollzug des Haftbefehls sprechenden Umstände gegen die – den Haftgrund entkräftenden oder abschwächenden – Wirkungen der Ersatzmaßnahmen durch das Gericht abzuwägen (KK-StPO/Graf, a.a.O., § 116 Rn. 10). Es liegt auf der Hand, dass der Angeklagte jedenfalls subjektiv befürchten muss, dass das Gericht im Rahmen der Abwägung bei Verweigerung des begehrten Einverständnisses zur Verrechnung der Kaution zu einem Überwiegen der für den Vollzug des Haftbefehls sprechenden Umstände gelangen könnte.

Nach alledem waren die Beschlüsse des Landgerichts Lüneburg vom 6. und 14. November 2023 aufzuheben. Da die Wirkung des § 123 Abs. 2 StPO kraft Gesetzes eintritt (vgl. hierzu: Lind in: Löwe-Rosenberg, a.a.O.; § 123 Aufhebung der Vollzugsaussetzung dienender Maßnahmen, Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Auflage 2023, § 123, Rn. 5), hatte der Senat lediglich deklaratorisch festzustellen, dass die Sicherheitsleistung mit Aufhebung des Haftbefehls frei geworden ist.“

Haft II: Beschleunigungsgrundsatz bei Überhaft, oder: Schleppendes Ermittlungs- und Zwischenverfahren

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Die zweite Haftentscheidung befasst sich mit dem Beschleunigungsgrundsatz.

Ergangen ist die Entscheidung in einem Totschlagsverfahren. Mit Schreiben vom 31.03.2023, eingegangen bei der Staatsanwaltschaft am 05.04.2023, hatte der Geschädigte J. angezeigt, dass er am 25.03.2023 von zwei Personen in seinem Haftraum in der JVA angegriffen worden sei, weil er sich geweigert habe, Drogen in die JVA zu schmuggeln. Diese hätten zunächst versucht, ihn zu töten, indem einer der Angreifer ihn mit zwei Stiften in den Hals gestochen habe. Nachdem dies dadurch gescheitert sei, dass die Stifte jeweils zerbrochen seien, sei er mit Schlägen gegen den Kopf attackiert worden, so dass er einen Nasenbeinbruch erlitten habe. Sodann hätten die Angreifer ihm seinen Tabak weggenommen und versucht, ihn zu vergewaltigen.

Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin Ermittlungen wegen versuchten Totschlags ein. Diese ergaben, dass es sich bei den Angreifern um den Angeschuldigten O. und den Mitangeschuldigten L. und bei dem Auftraggeber des Angriffs um den Mitangeschuldigten Y. handeln soll. Als wesentliche Ermittlungshandlungen wurde der Geschädigte am 04.07.2023 und seine Ehefrau am 14.09.2023 vernommen. Ferner wurde am 29.01.2024 (auf Anregung der Staatsanwaltschaft vom 19.01.2024) die Einholung eines DNA-Gutachtens betreffend die sichergestellten Stifte beauftragt, erstellt durch das Landeskriminalamt am 08.04.2024, und am 15.04.2024 die Krankenunterlagen des Geschädigten angefordert.

Am 19.04.2024 erließ das AG auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom gleichen Tag gegen den Angeschuldigten O. Haftbefehl wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und versuchter Vergewaltigung (§§ 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Nr. 2, Abs. 8, 212 Abs. 1, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4, Nr. 5, 22, 23, 52 StGB). Der Haftbefehl ist auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gestützt (§ 112 Abs. 3 i.V.m. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und dem Angeschuldigten am 03.05.2024 verkündet worden. Da der Angeschuldigte O. sich bis zum 26.02.2025 in Strafhaft befindet, ist insoweit Überhaft notiert.

Unter dem 16.07.2024 erhob die Staatsanwaltschaft gegen den Angeschuldigten sowie die Mitangeschuldigten L., Y. und wegen einer weiteren Tat gegen den Angeschuldigten K. Anklage vor dem Schwurgericht des Landgerichts . Dem Angeschuldigten O. legte sie nunmehr versuchten Mord aus niedrigen Beweggründen in Tateinheit mit gefährlicher Köperverletzung, versuchter Vergewaltigung und besonders schwerem Raub zur Last.

Mit Verfügung vom 30.07.2024 setzte der Vorsitzende des Schwurgerichts eine Stellungnahmefrist zur Anklage von vier Wochen und fragte unter dem 24.09.2024 die terminliche Verfügbarkeit der Verteidiger im Zeitraum Februar bis Mai 2025 sowie die Bereitschaft zur psychiatrischen Exploration der Angeschuldigten ab. Nach entsprechenden Rückmeldungen der Verteidiger reservierte der Vorsitzende für den Fall der Eröffnung Termine ab dem 05.02.2025.

Am 14.01.2025 beantragte der Angeschuldigte O. mündliche Haftprüfung. Das LG erließ daraufhin am 21.01.2025 einen neuen Haftbefehl, welcher den ursprünglichen Haftbefehl ersetzte und der Anklageschrift angepasst auf die Vorwürfe des versuchten Mordes und des besonders schweren Raubes erweitert worden war. Dieser wurde dem Angeschuldigten im Haftprüfungstermin verkündet. Hiergegen richtet sich die (Haft-)Beschwerde des Angeschuldigten O. vom 21.01.2025. Gerügt wird insbesondere, dass von einem Rücktritt vom versuchten Tötungsdelikt auszugehen sei. Die Strafkammer hat der Beschwerde am 27.01.2025 nicht abgeholfen und mit Verfügung vom gleichen Tag mitgeteilt, dass die ursprünglich avisierten Termine nicht eingehalten werden können, da die Strafkammer in den Monaten Februar bis April 2025 insbesondere mindestens sechs Schwurgerichtssachen zu verhandeln habe, bei denen überwiegend der Ablauf der Sechs-Monats-Frist bevorstehe. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

Das OLG Hamm hat mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 20.02.2025 – 5 Ws 77/25 – die Haftbeschwerde als begründet angesehen. Das OLG verneint einen dringenden Tatverdacht gegen den Angeschuldigten O. im Hinblick auf ein versuchtes Tötungsdelikt, da nicht mit der erforderlichen Sicherheit ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24 Abs. 1 StGB ausgeschlossen werden könne. In dem Zusammenhang rügt es, dass die Ermittlungen trotz des gravierenden Tatvorwurfs äußerst oberflächlich und nachlässig geführt worden seien.

Im Übrigen führt es aus:

„2. Im Hinblick auf die verbleibenden weiteren, immer noch sehr gravierenden Tatvorwürfe – gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung und besonders schwerem Raub – kann die Anordnung der Untersuchungshaft jedenfalls aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht aufrechterhalten bleiben, da das Verfahren gegen den Angeschuldigten O. nicht in ausreichendem Maße gefördert wurde.

a) Der sogenannte Beschleunigungsgrundsatz gilt zwar in besonderem Maße für Haftsachen, findet als Ausdruck der allgemeinen Fürsorgepflicht der Strafjustiz aber auch allgemein, wenn auch in abgeschwächter Form Anwendung im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren (Fischer, in: Karlsruher Kommentar, 9. Aufl. 2023, Einleitung Rn. 29). Anerkannt ist in diesem Zusammenhang insbesondere, dass sich Gerichte bei Haftvollzug in anderer Sache dem besonderen Beschleunigungsgebot nicht dadurch entziehen können, dass sie die Entscheidung über den Haftbefehlsantrag hinausschieben (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 04.04.2006 – 2 BvR 523/06 -, BVerfGK 8, 1-9, Rn. 27; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Dezember 2018 – 1 Ws 341/18 -, Rn. 35 – 36, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – 1 Ws 569/10 -, juris). Gleiches muss nach Auffassung des Senats auch für die Staatsanwaltschaften in Bezug auf die Stellung des Haftbefehlsantrags gelten. Soweit sich der Staatanwaltschaft aufdrängen muss, dass gegen den Beschuldigten Antrag auf Erlass eines (Über-)Haftbefehls zu stellen ist, kann sie sich dem in Haftsachen in besonderem Maße geltenden Beschleunigungsgebot nicht dadurch entziehen, dass sie die Beantragung eines „Überhaft“-Haftbefehls ohne sachlichen Grund hinauszögert.

b) Dies ist indes vorliegend geschehen. Das Ermittlungsverfahren ist in besonderem Maße schleppend betrieben worden. Obgleich das Ermittlungsverfahren bereits mit Verfügung vom 13.04.2023 der staatsanwaltschaftlichen Abteilung für Kapitalsachen vorgelegt und sodann wegen Totschlagsversuchs geführt wurde (vgl. Schreiben der Staatsanwaltschaft Essen vom 11.05.2023; Bl. 32 d.A.), ist der Geschädigte, der aufgrund seiner Inhaftierung jederzeit zur Vernehmung zur Verfügung stand, erst am 04.07.2024 und damit nach 2 ½ Monaten als Zeuge vernommen worden. Auch im Folgenden sind die Ermittlungen äußerst zögerlich geführt worden. Die Ehefrau des Geschädigten wurde am 14.09.2023 (5 Monate nach Eingang der Strafanzeige) vernommen, war aber nicht bereit auszusagen. Die DNA-Auswertung der Asservate wurde – ohne dass hierfür ein sachlicher Grund ersichtlich wäre – erst im Januar 2024 (9 Monate nach Eingang der Strafanzeige) beauftragt, nahm 2 ½ Monate in Anspruch und die Krankenunterlagen wurden im April 2024 (12 Monate nach Eingang der Strafanzeige) angefordert. Wesentliche weitere Ermittlungshandlungen – etwa die Einholung eines rechtsmedizinischen Gutachtens oder von Gutachten zur Schuldfähigkeit – sind nicht in die Wege geleitet worden. Zudem führten die Vernehmung der Ehefrau sowie die DNA-Auswertung zu keiner Verdichtung des Tatverdachts. Vielmehr musste sich der Staatanwaltschaft – selbst wenn man das versuchte Tötungsdelikt unberücksichtigt lässt – spätestens im Juli 2023 aufdrängen, dass aufgrund der gravierenden Tatvorwürfe gegen den Angeschuldigten Haftbefehl zu beantragen ist. Gleichwohl stellte sie den Haftbefehlsantrag erst unter dem 19.04.2024 und verfasste die Anklageschrift – obgleich in den weiteren drei Monaten keine wesentlichen Ermittlungshandlungen mehr vorgenommen wurden – erst unter dem 16.07.2024. Selbst unter Berücksichtigung des Umstands, dass das Beschleunigungsgebot in Haftsachen während der Überhaft eine Abschwächung erfährt (vgl. hierzu: Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 11.02.2020 – 1 Ws 20/20 -, juris), ist dieser ungenutzte Zeitraum von ca. einem Jahr als außerordentliche Verfahrensverzögerung zu werten. Denn auch Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, sind zu nutzen, um das Verfahren nachhaltig zu fördern und es so schnell wie möglich abzuschließen (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2012 – III-3 Ws 37/12 -, juris; KG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2006 – 5 Ws 569/06 -, Rn. 2, juris).

c) Die im Ermittlungsverfahren zu verzeichnenden, wesentlichen Verfahrensverzögerungen sind im Zwischenverfahren jedenfalls nicht kompensiert worden. Obgleich die zur Anklageschrift gesetzten Stellungnahmefristen Ende August 2024 abgelaufen sind, ist nicht zeitnah über die Eröffnung entschieden worden, sondern es sind lediglich Termine für den Beginn der Hauptverhandlung ab dem Februar 2025 und damit fünf Monate später reserviert worden.

Der Senat kann in diesem Zusammenhang offenlassen, ob die jetzige Terminsfreigabe der Februartermine im Hinblick auf die außerordentlich hohe Belastung der Strafkammer mit Schwurgerichtsverfahren in den Monaten Februar bis April sachgerecht war. Hinzuweisen ist darauf, dass nur kurzfristige und vorübergehende Überlastungen des Spruchkörpers solche Terminsverschiebungen rechtfertigen können (vgl. Böhm, in: MünchKomm, 2. Aufl. 2023, § 121 StPO Rn. 87, beck-online). Denn in der vorzunehmenden Gesamtschau stellen sich die bereits eingetretenen erheblichen Verfahrensverzögerungen in Ermittlungs- und Zwischenverfahren von über einem Jahr auch unter Berücksichtigung des erheblichen Strafverfolgungsinteresses als so wesentlich dar, dass die Anordnung der Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig ist.“

Haft I: Rechtsmittel gegen Haftfortdauerbeschluss?, oder: Irgendwann ist Schluss

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Ich stelle heute drei Haftentscheidungen vor.

Die erste kommt mit dem BGH, Beschl. v. 08.04.2025 – AK 18/25 – vom BGH. Es geht um ein Rechtsmittel gegen eine Haftfortdauerentscheidung des BGH. Dagegen hatte sich der Angeschuldigte u.a. mit einem Schreiben an den BGH gewendet, mit dem er „sofortige Beschwerde“ gegen den Haftfortdauerbeschluss erhoben hat und auf eine Aufhebung des BGH-Beschlusses gezielt hat. Der BGH sagt: Geht nicht:

1. Die sofortige Beschwerde ist nicht statthaft.

§ 304 Abs. 4 Satz 1 StPO bestimmt, dass gegen Beschlüsse und Verfügungen des Bundesgerichtshofs keine Beschwerde zulässig ist. Auch die speziellen Regelungen über die Anordnung der Haftfortdauer sehen kein Rechtsmittel gegen eine Haftfortdauerentscheidung vor.

2. Soweit die „sofortige Beschwerde“ als Gegenvorstellung gegen den Haftfortdauerbeschluss auszulegen sein könnte, wäre auch diese unzulässig und hätte daneben in der Sache keinen Erfolg.

a) Der Senatsbeschluss ist – wie zuvor ausgeführt – unanfechtbar (§ 304 Abs. 4 Satz 1 StPO). Die Abänderung einer gerichtlichen Entscheidung, die mit einem Rechtsmittel nicht angefochten werden kann, ist daher auch im Wege der Gegenvorstellung grundsätzlich nicht möglich (vgl. , juris Rn. 2 ff.). Eng begrenzte Ausnahmen gelten nur zur Beseitigung anders nicht heilbarer unerträglicher Rechtsmängel oder besonders gravierender Verfahrensfehler (vgl. BeckOK-StPO/Cirener, 54. Ed., § 296 Rn. 4; KK-StPO/Paul, 9. Aufl., Vor § 296 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., Vor § 296 Rn. 24 f.). Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.

b) Die Gegenvorstellung wäre auch unbegründet.

Der Angeschuldigte bestreitet – wie schon in seiner Vernehmung am durch das Bundeskriminalamt – eine mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland ebenso wie eine Spionagetätigkeit. So macht er etwa hinsichtlich einer ZDF-Reportage geltend, dass die Szenen in dem Beitrag inszeniert gewesen seien und die Mitarbeiter des ZDF ihn als Übersetzer engagiert hätten. Diese Angaben vermögen angesichts der den Angeschuldigten belastenden Gesichtspunkte an dem derzeitigen Bestehen eines dringenden Tatverdachts nichts zu ändern. Im Übrigen ist die Beurteilung des Tätigwerdens des Angeklagten in der Ostukraine der abschließenden Würdigung nach einer in der Hauptverhandlung durchzuführenden Beweisaufnahme vorbehalten.

Soweit der Angeschuldigte sich gegen das Bestehen einer Fluchtgefahr wendet, verbleibt es bei den Ausführungen des Senats in den Beschlüssen vom und .

Absprache II: Haftbefehl als Gegenstand der Absprache, oder: Bindung an zugesagte Außervollzusetzung

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Und im zweiten Posting habe ich dann hier eine m.E. ganz interessante Entscheidung aus Saarbrücken zur Bedeutung/den Auswirkungen einer Absprache im Rahmen von Haftentscheidungen.

Dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 25.02.2025 – 1 Ws 26/25 – liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Das AG hat gegen den Angeklagten  einen auf die Haftgründe der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO), im Falle seiner Ergreifung der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO), der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. Nr. 3 StPO) sowie subsidiär der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO) gestützten Haftbefehl erlassen, in dem ihm zwei Fälle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Last gelegt werden.

Aufgrund erfolgter SIS-Ausschreibung wurde der Angeklagte am 26.04.2024 auf Lesbos festgenommen, befand sich seitdem bis zu seiner am 25.07.2024 erfolgten Überstellung von Griechenland nach Deutschland in Auslieferungshaft und im Anschluss hieran aufgrund des Haftbefehls in Untersuchungshaft.

Nach Erhebung der Anklage wegen der haftbefehlsgegenständlichen Taten kam es im Hauptverhandlungstermin vor dem LG Saarbrücken am 17.01.2025 zu einer Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten gemäß § 257c StPO, wonach die Kammer im Falle eines Geständnisses im Sinne der Anklage keine geringere Strafe als drei Jahre und zwei Monate und keine höhere Strafe als drei Jahre und sechs Monate verhängen und den Haftbefehl „bei einer Meldeauflage 3 Mal wöchentlich“ außer Vollzug setzen wird. Nach geständiger Einlassung des Angeklagten und Durchführung der Beweisaufnahme beantragte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten sowie die Außervollzugsetzung des Haftbefehls. Sodann wurde der Angeklagte wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt und die Anrechnung der Auslieferungshaft vom 26.04.2024 bis zum 25.07.2024 im Verhältnis 1:2 bestimmt. Im Anschluss hieran setzte die Kammer den Haftbefehl des AG vom 08.01.2024 außer Vollzug und wies den Angeklagten an, nach seiner Entlassung aus der Haft festen Wohnsitz an seiner Meldeanschrift zu nehmen sowie sich dreimal pro Woche, und zwar montags, mittwochs und freitags, bei der Polizeiinspektion Neunkirchen zu melden. Der Angeklagte wurde am selben Tag aus der Untersuchungshaft entlassen. Gegen das Urteil haben der Verteidiger des Angeklagten am 23.01.2025 und die Staatsanwaltschaft am 24.01.2025 Revision eingelegt.

Ebenfalls am 24.01.2025 hat die Staatsanwaltschaft durch den zuständigen Dezernenten gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls Beschwerde eingelegt. Sie meint, die Außervollzugsetzung des Haftfehls sei auf dem Boden der Aussage eines Zeugen, aufgrund derer sich die Kammer zwingend von der Verständigung hätte lösen müssen, unverständlich, unvertretbar und willkürlich, weil die Meldeauflage nicht geeignet sei, die Haftgründe der Flucht- und Wiederholungsgefahr auszuräumen.

Die Haftbeschwerde hatte keinen Erfolg:

„1. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthaft (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 116 Rn. 31) und auch im Übrigen zulässig (§ 306 Abs. 1 StPO). Dass auch die Außervollzugsetzung eines Untersuchungshaftbefehls als zum Urteil dazugehöriger Beschluss im Sinne des § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO (vgl. § 268b StPO) grundsätzlich zulässiger Inhalt einer Verständigung im Strafverfahren sein kann (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2013 – 2 StR 410/13, juris Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 15c) und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft selbst die Außervollzugsetzung des Haftbefehls vom 8. Januar 2024 beantragt hat, steht der Zulässigkeit der von der Staatsanwaltschaft gleichwohl gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls eingelegten Beschwerde nicht entgegen. Vielmehr darf die Staatsanwaltschaft trotz vorangegangener Verständigung und auch dann, wenn die angefochtene Entscheidung ihrem ausdrücklichen Antrag entspricht, uneingeschränkt alle statthaften Rechtsmittel einlegen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. Oktober 2010 – III-4 RVs 60/10, juris Rn. 10 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 32, Vor § 296 Rn. 16, Vor § 312 Rn. 1e).

2. Die Beschwerde ist aber bereits deshalb unbegründet, weil die durch den angefochtenen Beschluss erfolgte Außervollzugsetzung des Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 8. Januar 2024 unter der Anweisung einer Meldepflicht von dreimal pro Woche zulässiger Gegenstand der Verständigung im Strafverfahren war und der Senat als Beschwerdegericht hieran gebunden ist. Maßgeblich hierfür sind folgende Erwägungen:

a) Gemäß § 257c Abs. 4 StPO ist das Tatgericht – abgesehen von den in § 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO geregelten Ausnahmefällen – an eine Verständigung, die vor ihm stattgefunden hat, gebunden (vgl. BVerfG NStZ 2016, 422, 424; BGH NStZ 2017, 373, 374; OLG Nürnberg, Beschluss vom 29. Februar 2012 – 1 St OLG Ss 292/11, juris Rn. 12; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 257c Rn. 25, 63; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 25a). Die dem Gericht eingeräumte Befugnis, sich unter den § 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO geregelten Voraussetzungen von der Bindung durch die Verständigung zu lösen, tritt nicht kraft Gesetzes von selbst ein, sondern erfordert eine dahingehende gerichtliche Entscheidung (vgl. BGH, Urteil vom 21. Juni 2012 – 4 StR 463/11, juris Rn. 14). Die Entscheidung über das Abweichen von der Verständigung ist nach § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO unverzüglich mitzuteilen, um dem Angeklagten und den weiteren Verfahrensbeteiligten – insbesondere mit Blick auf das mit dem Entfallen der Bindung des Gerichts an die Verständigung gemäß § 257c Abs. 4 Satz 3 verknüpfte Verwertungsverbot für ein im Zuge der Verständigung abgelegtes Geständnis des Angeklagten – die Möglichkeit zu geben, ihr Prozessverhalten auf die neue Verfahrenslage einzurichten (vgl. Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, BT-Drucks. 16/12310 S. 15; BGH, a.a.O.).

b) Da das Landgericht sich im vorliegenden Fall nicht von der Bindung durch die Verständigung gelöst hat und die Außervollzugsetzung des Haftbefehls Teil und zulässiger Gegenstand der Verständigung war, war das Landgericht bereits aufgrund seiner Bindung an die Verständigung nicht befugt, im Rahmen der ihm nach § 306 Abs. 2 StPO obliegenden Entscheidung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft abzuhelfen. Die Entscheidungsbefugnis des Senats, der als Beschwerdegericht im Umfang des Rechtsmittels grundsätzlich an Stelle des Erstgerichts selbst entscheidet (vgl. Löwe-Rosenberg/Matt, StPO, 26. Aufl., § 309 Rn. 7), geht nicht über diejenige des Landgerichts hinaus, so dass auch er an die Verständigung gebunden ist.

aa) Der Senat verkennt nicht, dass nach ganz überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur nur das Tatgericht, bei dem die Verständigung erfolgte, nicht aber die Rechtsmittelgerichte und das Gericht, an das die Sache nach § 354 Abs. 2, Abs. 3 StPO zurückverwiesen wurde, an die Verständigung gebunden sind (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 373; NStZ 2017, 373, 374; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 257cRn. 63 f.; MüKoStPO/Jahn, 2. Aufl., § 257c Rn. 148; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 25a; a.A.: SK-StPO/Velten, 5. Aufl., § 257c Rn. 29: Bindung für das gesamte Erkenntnisverfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss). In der Gesetzesbegründung zu § 257c Abs. 4 StPO heißt es insoweit lediglich, dass weder Berufungsgericht und Revisionsgericht noch das Gericht nach Zurückverweisung an die Verständigung gebunden sind (vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 15). Ebenso wie § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO in allen Fällen, in denen die Bindung des Tatgerichts entfällt, als Ausfluss des Rechts des Angeklagten auf ein faires Verfahren (Art. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) ein Verbot des vom Angeklagten in Vorleistung abgelegten Geständnisses zu Beweiszwecken anordnet (vgl. MüKoStPO/Jahn, a.a.O., § 257c Rn. 172), nehmen Rechtsprechung und Literatur als Kehrseite des Fehlens der Bindungswirkung des Rechtsmittelgerichts an die in der Vorinstanz erfolgte Verständigung allerdings hinsichtlich des Geständnisses des Angeklagten ein Beweisverwertungsverbot an. Dementsprechend hält es die überwiegende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur in den Fällen einer – jedenfalls auch – zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Berufung oder Revision der Staatsanwaltschaft mit Blick auf den Grundsatz des fairen Verfahrens für geboten, hinsichtlich des Geständnisses des Angeklagten ein Verwertungsverbot jedenfalls dann anzunehmen, wenn das neue Tatgericht (Berufungsgericht oder nach Zurückverweisung zur Entscheidung berufenes Tatgericht) über die vom ersten Tatgericht, bei dem die Verständigung stattgefunden hat, zugesagte Strafrahmenobergrenze hinausgehen will (vgl. BGH NStZ 2017, 373, 375; NStZ 2023, 310, 312 f.; vgl. auch BGH StraFo 2024, 67, 68 für den Fall der Revision der Nebenklage; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. Oktober 2010 – III-4 RVs 60/10, juris Rn. 11 ff.; OLG Karlsruhe NStZ 2014, 294, 295; MüKoStPO/Jahn, a.a.O., § 257c Rn. 177 ff.; KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, 9. Aufl., § 257c Rn. 41 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 29b).

bb) Die Frage einer Bindungswirkung der Verständigung für das Beschwerdegericht findet hingegen weder in der Gesetzesbegründung Erwähnung noch haben sich – soweit ersichtlich – Rechtsprechung und Literatur mit dieser Frage bislang befasst. Insbesondere ist die vorliegende Fallgestaltung, in welcher die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls in dem gemäß § 268b StPO ergangenen Beschluss Teil der vorausgegangenen Verständigung nach § 257c StPO gewesen ist und die Staatsanwaltschaft gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt hat, bisher – soweit ersichtlich – nicht Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung gewesen. Diese Fallkonstellation unterscheidet sich von den vorstehend geschilderten Fallgestaltungen dadurch, dass sich der Angeklagte auch im Falle der Verneinung einer Bindungswirkung der Verständigung für das Beschwerdegericht an seinem im Vertrauen auf die Bindungswirkung der Verständigung (§ 257c Abs. 4 StPO) abgegebenen Geständnis festhalten lassen müsste. Denn der dringende Tatverdacht, der vom Beschwerdegericht auch im Falle einer von der Staatsanwaltschaft gegen die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls eingelegten Beschwerde zu prüfen ist (vgl. KG, Beschluss vom 18. November 2022 – 3 Ws 300/22, juris Rn. 10 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 116 Rn. 31), ist im Falle einer – wie hier – nach abgeschlossener Beweisaufnahme erfolgten erstinstanzlichen Verurteilung in aller Regel bereits durch das verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt und die Nachprüfung durch das Beschwerdegericht hat sich darauf zu beschränken, ob die Entscheidung auf die in der Hauptverhandlung gewonnenen wesentlichen Tatsachen gestützt ist und auf einer vertretbaren Bewertung des Beweisergebnisses beruht (vgl. KG, a.a.O., juris Rn. 12; Senatsbeschluss vom 6. November 2024 – 1 Ws 216/24 –). Die Möglichkeit, den Bruch des Vertrauens des Angeklagten auf die Bindungswirkung der Verständigung durch die Annahme der Unverwertbarkeit seines auf der Verständigung beruhenden Geständnisses auszugleichen, hat der Senat als Beschwerdegericht daher nicht. Im Übrigen würde die Annahme der Unverwertbarkeit des Geständnisses des Angeklagten durch das Beschwerdegericht die Gefahr von Wertungswidersprüchen mit der noch ausstehenden Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs begründen. Daher gebietet es der Grundsatz des fairen Verfahrens für den Fall, dass – wie hier – die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls Bestandteil einer Verständigung zwischen dem erkennenden Gericht und den Verfahrensbeteiligten nach § 257c StPO ist und die Staatsanwaltschaft gegen die aufgrund der Verständigung erfolgte Außervollzugsetzung des Haftbefehls Beschwerde einlegt, eine Bindungswirkung nicht nur des erkennenden Gerichts, sondern auch des Beschwerdegerichts an die Verständigung und damit auch an die Außervollzugsetzung des Haftbefehls als Bestandteil der Verständigung anzunehmen.“

News zum KostBRÄG und den RVG-Änderungen, oder: Rechtsausschuss des BR empfiehlt Zustimmung im BT

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Dann noch einmal zwischendurch etwas Neues zum KostBRÄG 2025, also zur Erhöhung der Anwaltsvergütung/der Änderung des RVG, die ja als Art. 11 in dem Gesetz enthalten ist.

 

Dieses Mal gibt es etwas Neues. Denn am vergangenen Freitag hat der Rechtsausschuss des Bundesrates über das vom Bundestag am 31.01.2025 beschlossene Gesetz beraten. Dieses ist ja inzwischen zustimmungspflichtig.

Es hat dann bis heute gedauert, bis man über das Ergebnis der Ausschusssitzung berichten kann. Denn erst seit heute liegt die BR-Drucksache 89/1/2025 vor. In der wird dem Bundesrat empfohlen, „dem vom Deutschen Bundestag am 31. Januar 2025 verabschiedeten Gesetz
gemäß Artikel 104a Absatz 4 des Grundgesetzes zuzustimmen.“

Damit ist dann alles auf einem hoffentlich erfolgreichen Weg. Denn das KostBRÄGG ist als Tagesordnungspunkt 3 auf der Tagesordnung der nächsten Bundesratssitzung am 21.03.2025 enthalten (vgl. hier). Man kann nur hoffen, dass die erforderliche Mehrheit erreicht wird und nicht ein oder mehrere Länder ausscheren.

Wird die Zustimmung erteilt, können die Änderungen dann entweder schon zum 01.05.2025 – wenn noch im März im BGBl verkündet wird – oder sonst erst zum 01.06.2025.

Ich bleibe weiter am Ball und will versuchen, weiter zu berichten. Kann aber etwas schwieriger werden, da ich am 21.03.2025 wahrscheinlich in Seoul/Südkorea bin. Schauen wir mal.