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Verfahrensrüge III: Stoßrichtung von mehreren Rügen, oder: Man muss schon sagen, was man will

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Und dann habe ich hier noch einmal etwas vom OLG Frankfurt am Main, nämlich den OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 16.10.2023 – 3 ORs 22/23 – zur Abgrenzung und zur jeweiligen Stoßrichtung der Rüge eines Verstoßes gegen die richterliche Aufklärungspflicht gem. § 244 Abs. 2 StPO einerseits und der Inbegriffsrüge gem. § 261 StPO andererseits betreffend Feststellungen zum Nettoeinkommen des Angeklagten.

Das AG hat die Angeklagte wegen Körperverletzung in einem minder schweren Fall in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in einem besonders schweren Fall und Beleidigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 50,00 EUR verurteilt. Auf ihre Berufung hin hat das LG die Angeklagte am 23.03.2023 zu einer Gesamtgeldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 100,00 EUR verurteilt. Dagegen u.a. die Revision, die keinen Erfolg hatte:

„1. Soweit der Angeklagte das Verfahren beanstandet, wird eine den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügende Rüge nicht ausgeführt.

a) Die Revision vermag mit der Rüge eines Verstoßes gegen die richterliche Aufklärungspflicht gem. § 244 Abs. 2 StPO bzw. mit einer Inbegriffsrüge gem. § 261 StPO nicht durchzudringen, denn sie entspricht nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Kommt nach den vorgetragenen Tatsachen mehr als ein Verfahrensmangel in Betracht, muss die Angriffsrichtung der Rüge bestimmt werden. Es muss im Revisionsvortrag eindeutig konkretisiert werden, welcher behauptete Verfahrensmangel mit welcher Begründung angegriffen wird (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urt. v. 09.05.2018 – 5 StR 17/18, NJW 2018, 2279, 2280 Tz. 10; Herb, NStZ-RR 2023, 33, 34 f. m.w.N.).

Für den Senat ist schon die Stoßrichtung der Rüge nicht erkennbar. In Betracht käme die – in die Gestalt einer Sachrüge des § 40 Abs. 2 S. 2 StGB gekleidete – Verfahrensrüge, dass das Landgericht seine Feststellungen zum Nettoeinkommen nicht aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gewonnen hat (§ 261 StPO), da ein Nettoverdienst von 3.600 € sich nicht aus der Vernehmung der Angeklagten herleiten lasse. Der Vortrag lässt sich aber auch so verstehen, dass die fehlende Aufklärung des Nettoeinkommens gerügt wird. Allerdings setzte das ausgebliebene „Hinterfragen“ des Nettoeinkommens zunächst einmal voraus, dass die Angeklagte tatsächlich gerade ihr Nettoeinkommen gegenüber dem Landgericht beziffert hätte; das wird aber nicht mit Bestimmtheit behauptet. Es bleibt somit schon unklar, ob die Angeklagte bei der Vernehmung über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse durch den Vorderrichter ihr Gehalt als brutto, netto oder ohne eine diesbezügliche Klarstellung angeben haben will.

b) Abgesehen hiervon würden beide Stoßrichtungen der Verfahrensrüge nicht zum Erfolg verhelfen.

aa) Zunächst kann die Revision nicht mit Erfolg rügen, der Vorderrichter habe bei der Vernehmung der Angeklagten über ihre persönlichen Verhältnisse bestimmte, sich aufdrängende Vorhalte nicht gemacht oder bestimmte Fragen nicht gestellt. Denn eine Aufklärungsrüge kann nicht erfolgreich allein auf die Behauptung gestützt werden, ein Angeklagter habe in der Hauptverhandlung anders als im Urteil festgestellt ausgesagt und dies habe dem Tatrichter Anlass zu weiterer Beweiserhebung geben müssen (statt Vieler KK-StPO/Krehl, 9. Aufl. 2023, § 244 Rn. 222). Eine solche Rekonstruktion der Beweisaufnahme ist – abgesehen von Ausnahmefällen bestimmter parater Beweismittel (vgl. KK-StPO/Krehl a.a.O., § 244 Rn. 221 m.w.N.) – de lege lata unzulässig. Vorhalte und Nachfragen sind aber nicht protokollierungspflichtig (KK-StPO/Tiemann a.a.O., § 261 Rn. 216). Das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen ist allein Sache des Tatrichters. Der dafür bestimmte Ort ist das Urteil (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urt. v. 03.07.1991 – 2 StR 45/91, BGHSt 38, 14, 15 f.).

bb) Auch eine Inbegriffsrüge gem. § 261 StPO mit dem Ziel anzugreifen, im Urteil sei die Aussage der Angeklagten unvollständig, unzutreffend oder überhaupt nicht wiedergegeben oder bewertet worden, ist wegen des Rekonstruktionsverbots unbehelflich. Die Rechtsprechung hat Ausnahmen nur dann zugelassen, wenn der Wortlaut einer in der Hauptverhandlung verlesenen Urkunde im Urteil unrichtig wiedergegeben worden ist oder in Fällen der wörtlichen Protokollierung einer Aussage (vgl. BGH, Beschl. v. 03.09.1997 – 5 StR 237/97, BGHSt 43, 212, 214 m.w.N.). So liegt es hier aber nicht. Die Revision trägt vor, dass die mit der Revisionsbegründung vorgelegte Verdienstabrechnung zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch nicht zur Verfügung stand. Mit ihr lässt sich also nicht der Nachweis führen, dass die – nicht wörtlich protokollierte – Einlassung der Angeklagten zu ihrem Einkommen im Urteil unrichtig wiedergegeben ist.

2. Schließlich dringt die Revision auch nicht mit der sachlich-rechtlichen Beanstandung der Verletzung des § 40 Abs. 2 S. 2 StGB durch.

Aus den Urteilsgründen ergibt sich, dass das Landgericht Gießen bei der Bestimmung der Tagessatzhöhe ein Nettoeinkommen von 3.600 € zugrunde gelegt hat; das Bruttoeinkommen hat der Vorderrichter nicht festgestellt. Das Vorbringen zur Verdienstabrechnung ist urteilsfremd.“

Verfahrensrüge I: Rechtlicher Hinweis unterlassen, oder: Urteilsabsetzungsfrist

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Heute dann ein bisschen Rechtsprechung zur Revision, und zwar zunächst:

Die Verfahrensrüge, das Landgericht habe den Angeklagten in der Hauptverhandlung entgegen § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO nicht auf die mögliche und letztlich im Urteil angeordnete Unterbringung in der Sicherungsverwahrung hingewiesen, bleibt ohne Erfolg. Die Rüge ist bereits unzulässig, weil sie nicht den Anforderungen gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt. Die Revision ist nicht ihrer Pflicht nachgekommen, alle Tatsachen vorzutragen, die für eine Prüfung, ob der geltend gemachte Verfahrensfehler vorliegt, nötig gewesen wären. Der Beschwerdeführer teilt nicht mit, dass der Vorsitzende am zweiten Tag der Hauptverhandlung einen protokollierten Verständigungsvorschlag unterbreitet und in dessen Rahmen erklärt hat, die „Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung könne ausdrücklich nicht Bestandteil der Verständigung sein.“

Der Vortrag dieser Erklärung des Vorsitzenden wäre aber erforderlich gewesen, damit der Senat überprüfen kann, ob der geltend gemachte Verfahrensverstoß auf der Grundlage des Revisionsvortrags vorliegt. Denn die protokollierte Erklärung des Vorsitzenden könnte den Anforderungen des § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO genügen; das Fehlen des Wortes „Hinweis“ bei der an den Angeklagten gerichteten Erklärung steht dem nicht entgegen (BGH, Beschluss vom 15. September 2022 – 4 StR 307/22, NStZ-RR 2022, 383, 384).“

In der Revisionsbegründung sind alle Tatsachen vollständig vorzutragen, welche für die Prüfung erforderlich sind, ob das Urteil innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 S. 2 und Abs. 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden ist. Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Überschreitung der Frist durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren und unabwendbaren Umstand bedingt war (§ 275 Abs. S. 4 StPO), muss die Revision auch diese besonderen Umstände mit Tatsachen unterlegt darlegen. Eine Verfahrensrüge ist deshalb unzulässig, wenn es die Revisionsbegründung versäumt, über einen entsprechenden Vermerk des Tatrichters zu informieren.

 

 

 

 

 

OWi II: Sichtbarkeitsgrundsatz beachtet oder verletzt?, oder: Es kommt auf den Einzelfall an

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Und als zweite Entscheidung dann ein schon etwas älterer Beschluss des OLG Frankfurt am Main. Es handelt sich um den OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 28.08.2023 – 3 ORbs 165/23.

Das AG hatte den Betroffenen vom Vorwurf einer Geschwindigkeitsüberschreitung – Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften um 72 km/h auf der  A 3, geandet mit einer Geldbuße von 600,- EUR sowie einem Fahrverbot von drei Monaten – frei gesprochen.

Begründung: Die vor der Messstelle angebrachten Beschilderung bei km 151.250 verstoße gegen den Sicherbarkeitsgrundsatz, so dass sie als unwirksam zu betrachten sei. Insoweit hat das Amtsgericht folgende tatsächliche Feststellungen getroffen:

„Bis zur Messstelle bei km 151.990 hatte der Betroffene auf der A 3 folgende Verkehrszeichen zu passieren:

– Km 150,100 : Verkehrszeichen 274 mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 120 km/h und ein sich unmittelbar darunter befindliches Zusatzzeichen im Sinne des § 39 Abs. 3 StVO (weißer Grund, schwarzer Rand, schwarze Schrift mit der Zeitangabe 22 bis 6 h, 1040-30 VZKat)

– Bei Km 151,200: an jeweils zwei Masten (links und rechts neben den drei Fahrspuren der Autobahn angebracht) senkrecht über-/untereinander zwei Verkehrszeichen (274) mit jeweils einem Zusatzeichen i.S.d. § 39 Abs. 3 StVO wie folgt angebracht:

— Ganz oben ist das Verkehrszeichen 274, welches die zulässige Höchstgeschwindigkeit für alle drei Fahrspuren auf 120 km/h begrenzt. Darunter ein sich auf dieses Verkehrszeichen beziehendes Zusatzzeichen (weißer Grund, schwarzer Rand, schwarze Schrift mit der Zeitangabe 6 bis 22 h, 1040-30 VZKat).

— Darunter Verkehrszeichen 274, welches die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf allen drei Fahrspuren auf 100 km begrenzt, darunter erneut ein Zusatzzeichen, diesmal mit einer Zeitangabe 22-6 h (1040-30 VZKat).

Nach der Messstelle findet sich bei km 152.200 eine weitere Beschilderung mit dem Verkehrszeichen 274, welches die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf allen drei Fahrspuren auf 120 km/h begrenzt. Darunter befindet sich das Verkehrszeichen 278, welches die Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h aufhebt mit dem darunter befindlichen Zusatzzeichen Zeitangabe 22-6 h (1040-30 VZKat).“

Das AG sieht diese auf einem Autobahnabschnitt von ca. 2.1 km mehrfach angeordneten unterschiedlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen als irreführend und mit einem „raschen und beiläufigen Blick“ nicht mehr als erfassbar an. Überdies ist es der Auffassung, dass diese Form der Beschilderung nicht mehr mit den allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vereinbar ist.

Dagegen die Rechtsbeschwerde der GStA, die u.a. Folgendes ausgeführt hat:

„Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu folgendes ausgeführt:

„Ziffer 11 a) der VwV-StVO zu §§ 39 bis 43 StVO regelt, dass Häufungen von Verkehrszeichen zu vermeiden sind, weil die Bedeutung von Verkehrszeichen bei durchschnittlicher Aufmerksamkeit zweifelsfrei erfassbar sein muss. Am gleichen Pfosten oder sonst unmittelbar über- oder nebeneinander dürfen nicht mehr als drei Verkehrszeichen angebracht werden; bei Verkehrszeichen für den ruhenden Verkehr kann bei besonderem Bedarf abgewichen werden.

Auch Zusatzzeichen sind gemäß § 39 Abs. 3 Satz 1 StVO Verkehrszeichen. Die Häufung bei der Verwendung von Verkehrs- und Zusatzzeichen ist bereits durch § 39 Abs. 3 S. StVO vorgegeben, wonach Zusatzschilder immer direkt unter dem Verkehrsschild, das sie betreffen, anzubringen sind. Für Zusatzzeichen wird Ziffer 11 a) der Verwaltungsvorschrift durch Ziffer 16 der VwV-StVO zu §§ 39 bis 43 StVO zudem dahingehend konkretisiert, dass mehr als zwei Zusatzzeichen an einem Pfosten, auch zu verschiedenen Verkehrszeichen, nicht angebracht werden sollten und die Zuordnung der Zusatzzeichen zu den Verkehrszeichen eindeutig erkennbar sein muss. Damit geht auch der Verordnungsgeber davon aus, dass jedenfalls mindestens zwei Verkehrszeichen mit Jeweils zwei Zusatzzeichen versehen werden können. Dass Zusatzzeichcn nicht vollständig mit Verkehrszeichen gleichzusetzen sind, folgt auch aus Sinn und Zweck des Sichtbarkeitsgrundsatzes. Die Anforderungen an einen Kraftfahrer bei der Wahrnehmung von Schildern, die einen einheitlichen Regelungsgehalt haben, und darum handelt es sich grundsätzlich bei Verkehrszeichen in Verbindung mit Zusatzzeichen, sind schon wesentlich geringer, als bei Verkehrszeichen mit völlig unterschiedlichem Regelungsgehalt. Bei den hier zu beurteilenden zwei Geschwindigkeitsbeschränkungen mit jeweils einem konstitutiven Zusatzzeichen handelt es sich um eine einheitliche, wenn auch etwas komplexere Regelung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, die anders gar nicht möglich war und nicht gegen die einschlägigen Vorgaben verstieß. Bei den durch Verwaltungsvorschrift getroffenen Vorgaben handelt es sich zwar nicht um Rechtsvorschriften, diese binden aber grundsätzlich die nachgeordneten Behörden und stellen für die gerichtliche Entscheidung eine Auslegungshilfe dar (BVerwG, Urteil vom 13.03.2008, 3 C 18/07).

Inwieweit den Anforderungen des Sichtbarkeitsgrundsatzes genügt wurde, ist letztlich von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängig (BVerwG, Urteil vom 06.04.2016, 3 C 10/15; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 18.11.2021, 2 Ss OWi 646/21). Hier ließ die konkret angestrebte Verkehrsregelung, nämlich unterschiedliche Geschwindigkeitsbegrenzungen für unterschiedliche Tageszeiten, keine andere Beschilderungsmöglichkeit zu. Dies erkennt auch das Amtsgericht, das argumentiert, zwar sei die an der Messstelle geltende Beschilderung „für sich alleine genommen noch vereinbar mit dem Grundsatz der Sichtbarkeit“ (UA S. 3), so dass es sich nicht um eine unnötige Häufung von Verkehrsschildern an einem einzelnen Mast, sondern eine solche bezogen auf den gegenständlichen Streckenabschnitt handele (UA S. 6). Es bestehe nämlich für den Verkehrsteilnehmer nicht die Möglichkeit, die Bedeutung der Verkehrszeichen in der aufeinanderfolgenden Reihenfolge zu erfassen, diese führten vielmehr zu „Verwirrung“ (UA S. 6).

Diese Argumentation ist nicht haltbar. Denn die angebliche Häufung von Verkehrszeichen sieht das Amtsgericht darin, dass ca. 1.1 km vor der hier maßgeblichen Geschwindigkeitsbegrenzung bereits eine Geschwindigkeitsbeschränkung (nur) für die Nachtzeit erfolgt war und etwa einen weiteren Kilometer nach der hier geltenden Anordnung weitere Regelungen erfolgten (UA S. 3, 4, 6). Hierbei verkennt das Amtsgericht, dass der Betroffene an der Messstelle von der späteren Beschilderung gar nicht verwirrt gewesen sein konnte, weil er sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wahrgenommen hatte. Die spätere Beschilderung ist damit für den hier zu beurteilenden Sachverhalt völlig unbeachtlich. Für den Betroffenen gab es lediglich die erste Beschränkung auf 120 km/h für die Nachtzeit und sodann die der [xxx]Messung zugrundeliegende Beschränkung mit unterschiedlichen Höchstgeschwindigkeiten für die Tag- und die Nachtzeit.

Auch wenn 1.1 km zuvor lediglich eine Beschränkung für die Nachtzeit erfolgt war, tagsüber also keine Geschwindigkeitsbegrenzung galt, hatte der Betroffene jedenfalls ab km 151.250 Anlass, seine gefahrene Geschwindigkeit zu reduzieren, weil ihm auch bei einem beiläufigen Blick erkennbar war, dass nun eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h galt. Unter Zugrundelegung der Argumentation des Amtsgerichts könnte sich ein Verkehrsteilnehmer ansonsten jedes Mal, wenn nach einer Strecke ohne Geschwindigkeitsbeschränkung eine neue Anordnung erfolgt, auf den angeblichen „Gewöhnungseffekt“ (UA S. 4) berufen und behaupten, es sei ihm nicht gelungen, die neue „Information hinreichend schnell und zutreffend zu verarbeiten“ (UA S. 4). Hier lässt das Amtsgericht vor allem außer Acht, dass ein Kraftfahrer so zu fahren hat, dass er Verkehrszeichen jederzeit wahrnehmen und beachten kann, was auch und insbesondere für geschwindigkeitsbeschränkende Verkehrszeichen, bei denen es sich auf einer Autobahn weder um seltene noch überraschende Anordnungen handelt, gilt. Da sich die Messstelle erst 700 m nach der Anordnung befand, hatte der Betroffene auch ausreichend Zeit, seine Geschwindigkeit zu reduzieren, zumal eine Geschwindigkeitsbegrenzung von dem entsprechenden Schild an zu beachten ist (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 03.01.2001, 2 Ws (B) 582/00 OWiG, juris).

Ob und welche Angaben zur Sache der Betroffene in der Hauptverhandlung gemacht hat, ergibt sich aus den Urteilsgründen, die ausschließlich auf die vermeintliche Unwirksamkeit der getroffenen Anordnung abstellen, nicht. Jedenfalls kann sich der Betroffene nicht darauf berufen, den Sinngehalt dieser Schilder überhaupt nicht erfasst zu haben. Selbst, wenn die konkrete Zeitregelung für ihn – möglicherweise aufgrund der gefahrenen Geschwindigkeit – nicht unmittelbar erkennbar gewesen sein sollte, musste er doch wahrgenommen haben, dass die Schilder Höchstgeschwindigkeiten von 100 bzw. 120 km/h für verschiedene Zeiten anordneten und deshalb eine Verringerung der gefahrenen Geschwindigkeit von 192 km/h jedenfalls auf 120 km/h erforderten.

Dass das Messprotokoll nicht sämtliche an der Messstelle gültigen Verkehrszeichen aufführt (UA S. 2 f.), beeinträchtigt weder die Gültigkeit der Anordnung noch die Richtigkeit der Messung. Denn es wurde der Messung und dem Protokoll jedenfalls die zum Tatzeitpunkt gültige Geschwindigkeitsbegrenzung zugrunde gelegt, bei der es sich im Übrigen auch um die dem Betroffenen günstigere handelt.

Soweit der erkennende Richter auf die seiner Meinung nach fehlende Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Anordnungen in ihrer Gesamtheit bezogen auf den Streckenabschnitt von km 150.100 bis km 152.200 abstellt (UA S. 6), verkennt es seinen Prüfungsmaßstab und ist diese Argumentation unbeachtlich.“

Diesen ausführlichen und überzeugenden Ausführungen schließt sich der Senat vollumfänglich an. Ergänzend merkt er lediglich an, dass auch die weitere Argumentation des Amtsgerichts, die vermeintliche Häufung der von der Messstelle km 151.990 erfassten Geschwindigkeitsverstöße sei auf eine „Irreführung“ der Verkehrsteilnehmer durch eine „nicht ordnungsgemäße“ Beschilderung zurückzuführen, die Entscheidung nicht trägt. Hierbei handelt es sich um eine nicht tatsachenbelegte Vermutung, kann der Anstieg von Geschwindigkeitsverstößen auch gänzlich andere Ursachen haben. Ausweislich der für den Senat durch die wirksame Bezugnahme auf das Lichtbild Bl. 9 zugänglichen Inaugenscheinnahme des maßgeblichen Streckenabschnitts mit Beschilderung handelt es sich um eine gerade übersichtliche Passage, bei der die deutlich sichtbaren, nach Tages-/Nachtzeit gestaffelten und in ihrer Bedeutung ohne weiteres erfassbaren Geschwindigkeitsbegrenzungen von Autofahrern erfahrungsgemäß auch mangels Regelakzeptanz schlichtweg um des eigenen schnellen Fortkommens ignoriert werden können.“

VerkehrsR I: Feststellung und Geldbuße bei Vorsatz, oder: „Strafzumessungserwägungen“ bei OWis?

Smiley

Und dann heute mal ein „Verkehrsrechtstag“.

Den beginne ich mit einer Entscheidung aus dem Bußgeldverfahren, und zwar mit dem OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 28.04.2024 – 2 ORBs 29/24 – zu den Feststellungen bei der Annahme von Vorsatz und zu den Anforderungen an die dann auch zu den Rechtsfolgenerwägungen notwendigen Feststellungen-

Das OLG hat Folgendes ausgeführt:

„Der Betroffene ist auf der Landstraße statt der am Tatort erlaubten 60 km/h unter Abzug der Toleranz 115 km/h gefahren.

Der Senat sieht sich veranlasst zu Feststellungen von Vorsatz und zu den Anforderungen an die dann auch zu den Strafzumessungserwägungen notwendigen Feststellungen nachfolgendes klarzustellen:

Der Vorwurf der Ordnungsbehörden geht bei Verkehrsordnungswidrigkeiten grundsätzlich vom Fahrlässigkeitsvorwurf aus und nimmt zur Vereinfachung zu Gunsten des Betroffenen an, dass dieser „nur“ die im Verkehr erforderliche Sorgfalt unberücksichtigt gelassen hat. Insoweit ist auch die Darlegung von Tatsachen im Urteil zur Schuldbestimmung wesentlich reduziert. In der weiteren Folge greift die gesetzgeberische Strafzumessung der Regelstrafen im Bußgeldkatalog und stellt die Tatrichter von der Darlegung eigener Strafzumessungserwägungen weitestgehend frei.

Greift der Betroffene die Bußgeldentscheidung der Ordnungsbehörden an und stellt das Tatgericht dann bei der Tatprüfung in der Hauptverhandlung fest, dass der fahrlässige Schuldvorwurf den Betroffenen zu Unrecht begünstigt, greifen diese Darlegungserleichterungen nicht und der Tatrichter ist gehalten die den Schuldvorwurf verschärfenden Tatsachen darzulegen. In der Regel handelt es sich dabei um tatortbezogene objektive Feststellungen wie „Baustellen“, „Ein- und Ausfahrten“, Geschwindigkeitstrichter, „Kindergärten, Schulen oder Krankenhäuser“ oder klar erkennbare geschwindigkeitsbeschränkende Umgebungen wie z.B. die Tatsache auf Grund der Bebauung „innerorts“ unterwegs zu sein. Die Ordnungsbehörden sind in Hessen verpflichtet, diese tatortbezogenen Besonderheiten im Messprotokoll, das eine öffentliche Urkunde darstellt, und das in der Hauptverhandlung gem. § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO vom Tatrichter zeugenersetzend zu verlesen ist, zu vermerken, so dass der Tatrichter darauf zurückgreifen kann, ohne den Messbeamten als Zeugenladen zu müssen.

Verschärft der Tatrichter unter entsprechender Darlegung solcher Tatsachen den Schuldvorwurf auf „grob fahrlässig“ oder „vorsätzlich“, greifen die gesetzgeberischen  Strafzumessungserwägungen des amtlichen Bußgeldkatalogs nur noch eingeschränkt und er ist in der Folge ebenfalls gehalten seine eigene Strafzumessungserwägung darzulegen. Dabei sind der Bußgeldrahmen und die nach § 3 Abs. 4a der Bußgeldkatalog-Verordnung zum Vorsatz genannten Regelungen zu berücksichtigen.

Diese Voraussetzungen genügt das vorliegende Urteil nur eingeschränkt. Der Tatrichter hat nur die Geschwindigkeitsbeschränkung als solche und die Tatsache, dass der Betroffene nahezu doppelt so schnell gefahren ist, wie erlaubt angegeben und darauf im Wesentlichen seine Strafzumessungserwägungen gestützt. Der Grund für die Beschränkung der Geschwindigkeit auf der Landstraße auf 60 km/h und die daraus abgeleitete vorsätzliche Nichtbeachtung durch den Betroffenen bei Kenntnis der Beschränkung fehlt.

Ausnahmsweise greifen diese Darlegungsmängel hier aber nicht durch, da nach den Feststellungen der Betroffene sich mit 115 km/h ohnehin dazu entschieden hatte, schon die Regelgeschwindigkeitsbeschränkung auf Landstraßen mit 100 km/h zu missachten. Wer wie der Betroffene damit vorsätzlich sowieso nicht bereit ist sich an die gesetzlich vorgegebenen Geschwindigkeitsregelungen zu halten, der missachtet dann auch vorsätzlich die weiteren Reduktionen innerhalb des gesetzlichen Geschwindigkeitsrahmens, so dass gegen die Annahme von Vorsatz unter entsprechender Verdopplung der Regelbuße nach § 3 Abs. 4a der Bußgeldkatalog-Verordnung darum Ergebnis nichts zu erinnern ist.“

„gesetzgeberische Strafzumessung der Regelstrafen im Bußgeldkatalog“ – wenn man das beim OLG Frankfurt am Main so sieht, erklärt das einiges. 🙂

StPO II: Einiges Neues zu Pflichtverteidigerfragen, oder: Zweiter Verteidiger, Entpflichtung, Wechselfrist, Grund

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Im zweiten Posting dann einige Entscheidungen zur Pflichtverteidigung (§§ 140 ff. StPO). Es hat sich aber seit dem letzten Posting zu der Porblematik nicht so viel angesammelt, dass es für einen ganzen Tag reicht. Also gibt es ein Sammelposting, allerdings nur mit den Leitsätzen:

1. Das Rechtsmittelgericht nimmt bei der Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers durch das erkennende Gericht keine eigenständige Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO vor und übt kein eigenes Ermessen auf der Rechtsfolgenseite aus, sondern kontrolliert die angefochtene Entscheidung lediglich im Rahmen einer Vertretbarkeitsprüfung dahin, ob der Vorsitzende seinen Beurteilungsspielraum und die Grenzen seines Entscheidungsermessens überschritten hat.

2. Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers (§ 144 StPO) ist lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein unabweisbares Bedürfnis besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten.

    1. Einem bereits verteidigten Angeklagten ist auch bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung kein Pflichtverteidiger beizuordnen.
    2. Abweichend von dem Grundsatz, dass das Beschwerdegericht an die Stelle des Erstgerichts tritt und eine eigene Sachentscheidung trifft, gilt für die Prüfung der Bestellung eines weiteren Verteidigers nach § 144 StPO, dass dem Vorsitzenden des Gerichts ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht.
    3. Zur Ausübung des Ermessens durch den Vorsitzenden des bzw. das Erstgericht.
    1. Die Voraussetzung, unter denen wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO notwendig ist, kann bei sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten eher als erfüllt angesehen werden, als dies sonst der Fall ist.
    2. Zur Komplexität der Rechtslage bezüglich des Vorwurfs eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit dem Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§§ 113 Abs. 1, 114 Abs. 1 StGB) im Zusammenhang mit einem polizeilichen Einschreiten aufgrund des Filmens des Polizeieinsatzes.

Der Beginn der Frist für den Antrag auf einen Pflichtverteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 Nr. 1 StPO setzt voraus, dass der Beschuldigte auf die Frist bzw. die Möglichkeit der Auswechslung des Verteidigers hingewiesen worden ist.