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Strafe I: Schutzaltersgrenze beim sexuellen Missbrauch, oder: „geplante Tat“ und Verfahrensverzögerung

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Heute stelle ich mal wieder einige Strafzumessungsentscheidungen vor. Die hatte ich schon länger nicht mehr.

Zunächst kommen hier drei- schon etwas ältere – BGH-Entscheidungen, und zwar:

„Entgegen der Auffassung der Revision war das Landgericht von Rechts wegen nicht verpflichtet, das mit jeweils 13 Jahren knapp unter der Schutzaltersgrenze des § 176 Abs. 1 StGB liegende Alter der Geschädigten strafmildernd zu berücksichtigen.

In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist zwar anerkannt, dass es zugunsten des Täters gewertet werden darf, wenn das Alter des Missbrauchsopfers sich der Schutzaltersgrenze annähert (vgl. , NStZ-RR 2009, 307, 308; vom – 3 StR 401/19, Rn. 15; vgl. auch ? 6 StR 542/21, Rn. 5); um einen bestimmenden Milderungsgrund im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO, der losgelöst von den Umständen des Einzelfalls regelmäßig strafmildernd berücksichtigt werden muss, handelt es sich aber nicht (vgl. auch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 7. Aufl., Rn. 1610). Ob anderes in Fällen gilt, in denen die Tat wenige Tage vor Erreichen der Schutzaltersgrenze der §§ 176, 176a StGB stattfindet (vgl. ? 5 StR 381/14), bedarf keiner Entscheidung, denn ein solcher Fall liegt hier nicht vor.“

„Die strafschärfende Erwägung, es handele sich um eine „geplante Tat“, begegnet rechtlichen Bedenken. Den Feststellungen kann eine längere planvolle Vorbereitung der Tat, die auf eine erhebliche kriminelle Energie hindeuten könnte, nicht entnommen werden. Dass er nicht spontan gehandelt hat, darf dem Angeklagten aber nicht angelastet werden. Spontanes Handeln wäre ein Strafmilderungsgrund, dessen Fehlen nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juli 2022 – 4 StR 213/22).“

„a) Die Strafkammer hat die „erhebliche Verzögerung des vorliegenden Strafverfahrens durch die beteiligten Strafverfolgungsbehörden“ und „die damit einhergehende Belastung“ für die Angeklagten lediglich im Rahmen der Kompensationsentscheidung berücksichtigt. Sie hat zwar zutreffend erkannt, dass die mit einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung verbundene Belastung der Angeklagten keinen selbstständigen Strafmilderungsgrund darstellt (BGH, Urteil vom 5. April 2023 – 6 StR 517/22, Rn. 9 mwN). Sie hat aber übersehen, dass der große zeitliche Abstand zwischen Tat und Aburteilung sowie eine lange Verfahrensdauer und ihre nachteiligen Auswirkungen auf den Angeklagten regelmäßig gewichtige Strafmilderungsgründe nach § 46 Abs. 2 StGB bei der Zumessung der Einzelstrafen darstellen, die im Urteil nach § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO anzuführen sind (BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 2 StR 541/21, Rn. 6 mwN). Dies ist nicht geschehen.“

 

StGB I: Vollendung oder Versuch beim Tankbetrug?, oder: Hat das Personal den Tankvorgang bemerkt?

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Und heute geht es weiter mit StGB-Entscheidungen.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem BGH, Beschl. v. 21.01.2025 – 6 StR 676/24 – zur Frage Vollendung/Versuch beim Tankbetrug. Das LG hat den Angeklagten u.a. in vier Fällen wegen vollendeten Betruges verurteilt. Das hat der BGG beanstandet:

„1. Die tateinheitliche Verurteilung des Angeklagten S. wegen vollendeten Betruges in den Fällen II.3 bis 6 der Urteilsgründe hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Nach den Feststellungen zu diesen vier Fällen betankte der Angeklagte „wie ein zahlungsfähiger und -williger Kunde“ den Pkw seiner Schwester an einer Tankstelle und entrichtete – wie von vornherein beabsichtigt – den hierfür zu bezahlenden Betrag nicht, sondern fuhr nach Ende des Tankvorgangs davon.

b) Diese Feststellungen tragen die Bewertung als vollendete Betrugstaten nicht. Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Annahme der Tatvollendung in Fällen eines sogenannten Tankbetruges voraus, dass der Täter durch (konkludentes) Vortäuschen seiner Zahlungsbereitschaft bei einem Tankstellenbeschäftigten einen Irrtum hervorruft, der anschließend zu der schädigenden Vermögensverfügung (Einverständnis mit dem Tankvorgang) führt. Hierfür ist die Feststellung erforderlich, dass der Tankvorgang vom Personal überhaupt bemerkt wurde. Fehlt – wie hier – eine entsprechende Feststellung, ist mangels Irrtumserregung nur ein versuchter Betrug gegeben (vgl. etwa BGH, Urteil vom 5. Mai 1983 – 4 StR 121/83, NJW 1983, 2827; Beschlüsse vom 13. Januar 2016 – 4 StR 532/15, NJW 2016, 1109, Rn. 4; vom 21. August 2019 – 3 StR 221/18, Rn. 21; vom 9. März 2021 – 6 StR 74/21).“

Pflichti II: Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers, oder: Der BGH faßt noch einmal schön zusammen

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Und dann im zweiten Posting hier der BGH, Beschl. v. 19.02.2025 – StB 4/25, StB 5/25, StB 6/25 -, der sich noch einmal eingehend mit der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers (§ 144 Abs. 1 StPO) befasst.

Ergangen ist der Beschluss in einem beim KG anhängigen Verfahren wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Auslan. Der Vorsitzende des KG-Senats hatte die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers abgelehnt. Die sofortigen Beschwerden hatten beim BGH keinen Erfolg.Der BGH führt – noch einmal – umfangreich zu den anstehenden Fragen aus:

„1. Zum Prüfungsmaßstab und zu den Voraussetzungen für die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers gilt:

a) Das Rechtsmittelgericht nimmt bei der Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers durch das erkennende Gericht keine eigenständige Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO vor und übt kein eigenes Ermessen auf der Rechtsfolgenseite aus, sondern kontrolliert die angefochtene Entscheidung lediglich im Rahmen einer Vertretbarkeitsprüfung dahin, ob der Vorsitzende seinen Beurteilungsspielraum und die Grenzen seines Entscheidungsermessens überschritten hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. August 2024 – StB 47/24 , NStZ-RR 2024, 354, 355; vom 19. März 2024 – StB 17/24 , NStZ 2024, 502 Rn. 10; vom 5. Mai 2022 – StB 12/22 , juris Rn. 8, 13; vom 24. März 2022 – StB 5/22 , NStZ 2022, 696 Rn. 18; vom 31. August 2020 – StB 23/20 , BGHSt 65, 129 Rn. 17 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 144 Rn. 12).

b) Nach der Vorschrift des § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger „bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, „wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist“. Die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grundsätzlich zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss die Bestellung eines weiteren Verteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein ( BGH, Beschlüsse vom 19. März 2024 – StB 17/24 , NStZ 2024, 502 Rn. 11; vom 5. Mai 2022 – StB 12/22 , juris Rn. 10; vom 24. März 2022 – StB 5/22 , NStZ 2022, 696 Rn. 13; vom 31. August 2020 – StB 23/20 , BGHSt 65, 129 Rn. 13 ).

Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein unabweisbares Bedürfnis besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten ( BGH, Beschlüsse vom 21. August 2024 – StB 47/24 , NStZ-RR 2024, 354, 355; vom 19. März 2024 – StB 17/24 , NStZ 2024, 502 Rn. 12).

Von einer solchen Notwendigkeit ist auszugehen, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über einen besonders langen Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich oder rechtlich komplex ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken mehrerer Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit durchdrungen und beherrscht werden kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. August 2024 – StB 47/24 , NStZ-RR 2024, 354, 355; vom 19. März 2024 – StB 17/24 , NStZ 2024, 502 Rn. 13; vom 5. Mai 2022 – StB 12/22 , juris Rn. 12; vom 24. März 2022 – StB 5/22 , NStZ 2022, 696 Rn. 16; vom 31. August 2020 – StB 23/20 , BGHSt 65, 129 Rn. 14 mwN; s. auch BT-Drucks. 19/13829 S. 49 f.).

2. Hieran gemessen ist die Annahme der Vorsitzenden des mit der Sache befassten 1. Strafsenats des Kammergerichts, die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers gemäß § 144 Abs. 1 StPO lägen nicht vor, vertretbar. Mit dieser Beurteilung hat sie die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums noch nicht überschritten.

a) Die Vorsitzende des Strafsenats hat annehmen dürfen, die Bestellung eines jeweils zweiten Pflichtverteidigers sei nicht wegen besonderen Umfangs des Verfahrens erforderlich. Zwar ist der Aktenumfang mit über 100 Aktenordnern beträchtlich und steht, wie schon die gegenwärtige Terminierung bis Ende 2025 deutlich macht, eine umfangreiche Beweisaufnahme an vielen Hauptverhandlungstagen zu erwarten. Indes sind die mit der Anklageschrift erhobenen Vorwürfe in tatsächlicher Hinsicht überschaubar und haben die bestellten Pflichtverteidiger, die den Angeklagten jeweils kurz nach deren Verhaftung beigeordnet worden sind, bereits etliche Monate Zeit gehabt, sich mit dem Verfahrensgegenstand und den im Ermittlungsverfahren erlangten Erkenntnissen vertraut zu machen.

b) Ein jeweils zweiter Pflichtverteidiger für die Beschwerdeführer ist auch nicht wegen besonderer rechtlicher Komplexität des Verfahrens geboten. Die Einschätzung der Senatsvorsitzenden, die inmitten stehenden Rechtsfragen seien nicht von solcher Schwierigkeit, dass ihre alleinige Durchdringung den bestellten Pflichtverteidigern nicht möglich oder nicht zumutbar wäre, erweist sich als rechtlich tragfähig, zumal es sich bei den bereits bestellten Verteidigern um erfahrene und mit Staatsschutzverfahren vertraute Fachanwälte für Strafrecht handelt.

Der Tatvorwurf bezieht sich jeweils auf die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung und damit insbesondere nicht auf komplexe Rechtsvorschriften des Nebenstrafrechts oder internationalen Rechts. Zwar ist zur Einordnung der HAMAS als ausländische terroristische Vereinigung bislang keine Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs ergangen (siehe aber zur vorläufigen Beurteilung im Rahmen von Haftfortdauerentscheidungen BGH, Beschlüsse vom 4. September 2024 – AK 71/24, juris Rn. 8 ff., 34 ff.; vom 26. Juni 2024 – AK 53-55/24, juris Rn. 8 ff., 36 ff.; vom 30. April 2024 – StB 25/24, Rn. 8 ff., 31 ff.; vom 10. April 2024 – StB 20/24, Rn. 8 ff., 27 ff.). Jedoch liegt zum rechtlichen Maßstab gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung vor (vgl. die diesbezüglichen Nachweise in den vorgenannten Entscheidungen) und sind die tatsächlichen Beurteilungsgrundlagen in weitem Umfang allgemeinkundig. Angesichts des wesentlich gegen Zivilpersonen gerichteten Vorgehens der HAMAS kommt es zudem entgegen dem Beschwerdevorbringen des Angeklagten A. nicht darauf an, ob sich einzelne Akteure der HAMAS im bewaffneten Konflikt in der Levante auf ein völkerrechtliches „Kombattantenprivileg“ (vgl. insofern BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 – 3 StR 265/13 , BGHR StGB § 129b Rechtswidrigkeit 1 ) berufen könnten.

c) Weiter ist angesichts des beschränkten Kontrollmaßstabs des Beschwerdegerichts nicht zu beanstanden, dass die Vorsitzende des 1. Strafsenats des Kammergerichts die Bestellung weiterer Pflichtverteidiger nicht als zur Verfahrenssicherung erforderlich erachtet hat.

Zwar kann im Fall voraussichtlich besonders lang dauernder Hauptverhandlungen die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers angezeigt sein, weil mit der Verfahrensdauer das Risiko eines längerfristigen Ausfalls des Verteidigers und damit der Notwendigkeit einer Aussetzung der Hauptverhandlung steigt. In Fällen einer absehbar außergewöhnlich langen Hauptverhandlung rechtfertigt sich die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung aus der Erfahrung, dass sich bei einer derartigen Dauer der Hauptverhandlung die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Verteidiger könnte durch Erkrankung für einen längeren Zeitraum als durch Unterbrechungen nach § 229 StPO überbrückbar ausfallen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. März 2022 – StB 5/22 , NStZ 2022, 696 Rn. 23; vom 31. August 2020 – StB 23/20 , BGHSt 65, 129 Rn. 23 ). Indes hat die Senatsvorsitzende dieses Risiko für überschaubar erachtet. Das begegnet keinen durchgreifenden Bedenken. Denn die bloß abstrakt-theoretische Möglichkeit eines späteren Ausfalls des Pflichtverteidigers gibt – außer in Fällen voraussichtlich ganz besonders langer Hauptverhandlungen – regelmäßig keinen Anlass zur Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers ( BGH, Beschlüsse vom 19. März 2024 – StB 17/24 , NStZ 2024, 502 Rn. 15; vom 24. März 2022 – StB 5/22 , NStZ 2022, 696 Rn. 24; vom 21. April 2021 – StB 17/21 , NJW 2021, 1894 Rn. 9). Der Verfahrensstoff ist nicht derart umfangreich und komplex, dass er eine außergewöhnlich lange Hauptverhandlungsdauer zur notwendigen Folge hat. Sollte es – wider Erwarten – doch zu einem längerfristigen Ausfall eines Pflichtverteidigers kommen, bestünde – jedenfalls grundsätzlich – die Möglichkeit, diesen gemäß § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alternative 2 StPO zu entpflichten und statt seiner einen anderen Verteidiger – namentlich einen als Wahlverteidiger tätigen weiteren Verteidiger des betreffenden Angeklagten – zum Pflichtverteidiger zu bestellen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. November 2024 – StB 63/24 , NStZ-RR 2025, 54 Rn. 8 f.; vom 19. März 2024 – StB 17/24 , NStZ 2024, 502 Rn. 15; vom 24. Oktober 2022 – StB 44/22 , NStZ-RR 2022, 380, 381; vom 25. August 2022 – StB 35/22 , BGHR StPO § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Aufhebung 3 Rn. 4).

d) Im Übrigen ist vor dem Hintergrund des Beschwerdevorbringens Folgendes zu bemerken:

aa) Einzelne bereits absehbare terminliche Verhinderungen der bestellten Pflichtverteidiger gebieten keine Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers. Denn die Regelung des § 144 Abs. 1 StPO dient nicht dazu, eine Vertretung des Angeklagten durch jedenfalls einen Verteidiger an jedem Hauptverhandlungstag zu gewährleisten und mehreren Verteidigern zu ermöglichen, die Teilnahme an der Hauptverhandlung untereinander aufzuteilen. Grundsätzlich ist jeder Pflichtverteidiger von Rechts wegen gehalten, an allen Hauptverhandlungsterminen teilzunehmen; die Bestellung eines zweiten Verteidigers soll, sofern sie zur Verfahrenssicherung angeordnet wird, Vorsorge für einen unerwarteten längerfristigen Ausfall des ersten Pflichtverteidigers treffen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. November 2024 – StB 63/24 , NStZ-RR 2025, 54 Rn. 10; vom 24. Oktober 2022 – StB 44/22 , NStZ-RR 2022, 380, 381; vom 25. August 2022 – StB 35/22 , BGHR StPO § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Aufhebung 3 Rn. 9). Sofern absehbar ist, dass der bestellte Pflichtverteidiger in größerem Umfang gehindert ist, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, ist dem grundsätzlich nicht mit der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers zu begegnen, sondern ist der bisherige Verteidiger zu entpflichten und durch einen anderen, terminlich nicht verhinderten Pflichtverteidiger zu ersetzen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. November 2024 – StB 63/24 , NStZ-RR 2025, 54 Rn. 10; vom 24. Oktober 2022 – StB 44/22 , NStZ-RR 2022, 380, 381; vom 25. August 2022 – StB 35/22 , BGHR StPO § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Aufhebung 3 Rn. 9). Bei einer Verhinderung des Pflichtverteidigers an einzelnen wenigen Sitzungstagen kommt entgegen dem Beschwerdevorbringen des Angeklagten A. , zuletzt mit Schriftsatz vom 17. Februar 2025, zudem die – rechtlich statthafte (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Januar 2025 – 5 StR 338/24 , juris Rn. 11; OLG Celle, Beschluss vom 19. Dezember 2008 – 2 Ws 365/08 , juris Rn. 12 f.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 3. Februar 2011 – 4 Ws 195/10 , juris Rn. 13; BeckOK StPO/Krawczyk, 54. Ed., § 144 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 144 Rn. 4) – gerichtliche Bestellung eines sogenannten Terminvertreters für einzelne Hauptverhandlungstage in Betracht, gegebenenfalls zur Wahrung der Verfahrensfairness unter Änderung des vorgesehenen Beweisprogramms (zur rechtlichen Stellung des als „Terminvertreter“ für einen Hauptverhandlungstag beigeordneten Verteidigers zutreffend OLG Brandenburg, Beschluss vom 26. Februar 2024 – 1 Ws 13/24, juris Rn. 13; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2023 – 2 Ws 13/22, NStZ-RR 2023,159, 160 [OLG Karlsruhe 09.02.2023 – 2 Ws 13/23] ). Zu Recht weisen die Beschwerdeführer, insbesondere der Pflichtverteidiger des Angeklagten A. in seinem Schriftsatz vom 17. Februar 2025, allerdings darauf hin, dass in einem umfangreichen Verfahren wie dem hiesigen an einem Sitzungstag, an dem ausnahmsweise ein für diesen bestellter Terminvertreter an Stelle des verhinderten regulären Pflichtverteidigers als Verteidiger tätig wird, Beweis nur insoweit erhoben werden darf, als dadurch das Recht des Angeklagten auf effektive Verteidigung nicht verletzt wird. Bei dem Beweisprogramm an einem solchen Sitzungstag ist in besonderem Maße Rücksicht darauf zu nehmen, dass ein bloßer Terminvertreter nur eingeschränkt mit dem Verfahrensstoff vertraut ist und an der vorangegangenen Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung nicht mitgewirkt hat.

bb) Der Umstand, dass der 1. Strafsenat des Kammergerichts gemäß § 122 Abs. 2 Satz 2 GVG eine Besetzung in der Hauptverhandlung mit fünf Richtern beschlossen hat, ist vorliegend ohne Belang (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. März 2024 – StB 19/24 , NStZ-RR 2024, 178, 179; vom 19. März 2024 – StB 17/24 , NStZ 2024, 502 Rn. 17; vom 25. August 2022 – StB 35/22 , NStZ-RR 2022, 353, 354). Denn wegen der unterschiedlichen Aufgaben von Gericht und Verteidigung in der Hauptverhandlung kann nicht schon aus dieser Besetzung des Spruchkörpers der Schluss gezogen werden, dass die Verteidigung in der Hauptverhandlung von einem Pflichtverteidiger allein nicht leistbar wäre. Hinzu kommt, dass das Verfahren gegen vier Angeklagte geführt wird, woraus ein erhöhter Aufwand für das Gericht, nicht aber in gleichem Umfang auch für die Verteidigung eines jeden Angeklagten resultiert.

cc) Entsprechendes gilt für den von den Pflichtverteidigern der Angeklagten R. und A. vorgebrachten Umstand, dass ein Ergänzungsrichter an der Hauptverhandlung teilnehmen wird (vgl. BGH, Beschluss vom 13. April 2021 – StB 12/21 , NStZ-RR 2021, 179). Insofern ist darauf hinzuweisen, dass ein unvorhergesehen an der weiteren Hauptverhandlungsteilnahme gehinderter Richter nicht unter Fortsetzung der Verhandlung durch einen anderen ersetzt werden kann, der an der bisherigen Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat, während dies bei einem Verteidiger statthaft ist. Ohne Relevanz für eine Entscheidung nach § 144 Abs. 1 StPO ist zudem, mit welcher Personenzahl die Staatsanwaltschaft den Sitzungsdienst bestreitet. Denn für diese Entscheidung können andere als die in § 144 Abs. 1 StPO genannten Kriterien maßgeblich sein. Zudem haben Staatsanwaltschaft und Verteidigung in der Hauptverhandlung unterschiedliche Funktionen. Deshalb verlangt das Gebot der Verfahrensfairness nicht, dass die Zahl der Verteidiger eines jeden Angeklagten der Anzahl der an der Hauptverhandlung mitwirkenden Staatsanwälte entspricht (vgl. näher hierzu BGH, Beschluss vom 24. März 2022 – StB 5/22 , NStZ 2022, 696 Rn. 22 mwN).

dd) Der Pflichtverteidiger des Angeklagten B. , der mit Schriftsätzen vom 5., 11., 14. und 17. Februar 2025 ergänzend vorgetragen hat, macht zudem geltend, es sei bei der Beurteilung des Arbeitsaufwandes für die Verteidigung nicht bedacht worden, dass er neben seiner Tätigkeit im hiesigen Verfahren noch weitere Verteidigungen übernehmen müsse, um ein hinreichendes Auskommen zu erzielen. Dieses Vorbringen verfängt nicht. Denn als Kompensation einer besonders umfänglichen Inanspruchnahme des Pflichtverteidigers sieht das Gesetz – worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat – die Bewilligung einer Pauschgebühr nach § 51 Abs. 1 RVG vor.“

Ist alles nicht neu, aber schön in einer Entscheidung zusammengefasst. Daher habe ich es hier auch noch einmal ganz eingestellt.

Pflichti I: Pflichtverteidiger- und Beistandwechsel, oder: Pauschale Vorwürfe, Differenzen, Absprache

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Am Osterdienstag gibt es dann einige Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen. Heute hat insgesamt der BGH das Übergewicht 🙂 .

Und ich beginne dann gleich mit Entscheidungen zum Pflichtverteidigerwechsel, und zwar mit folgenden Entscheidungen, wovon ich den BGH, Beschl. v. 20.03.2025 – StB 11/25 – zur Lektüre empfehle, weil er die zu behandelnden Fragen sehr schön zusammenfaßt:

Pauschale, weder näher ausgeführte noch sonst belegte Vorwürfe oder Unstimmigkeiten rechtfertigen eine Entpflichtung des Pflichtverteidigers nicht.

1. Differenzen zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Angeklagten über die Verteidigungsstrategie rechtfertigen für sich genommen die Entpflichtung nicht.

2. Es besteht für den Pflichtverteidiger keine Rechtspflicht, Anträge mit dem Mandanten abzusprechen.

1. Die Beistandsbestellung durch das erstinstanzliche Gericht wirkt bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens fort und erstreckt sich somit auch auf die Revisionsinstanz.

2. Ein Wechsel in der Person des Beistands durch Rücknahme der ursprünglichen Beiordnung und Bestellung eines neuen Beistands kommt nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes in entsprechender Anwendung des § 143a StPO in Betracht. Die Beiordnung eines neuen Beistands setzt aber voraus, dass die hierfür in § 397a Abs. 1 StPO vorgesehenen gesetzlichen Anforderungen (noch) erfüllt sind.

Keine Mittelmeer-Kreuzfahrt nach positivem PCR-Test, oder: Unvermeidbarer/außergewöhnlicher Umstand?

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Und als zweite Entscheidung habe ich dann das BGH, Urt. v. 18.02.2025 – X ZR 68/24 – in dem der BGH noch einmal zu einem „Reiserücktritt“ wegen Corona Stellung genommen hat.

Es geht um eine dreiköpfige Familie, die eine Mittelmeerkreuzfahrt machen wollte. Bei der Einschiffung in Palma de Mallorca kam es im Herbst 2021 bei dem zweijährigen Sohn zu einem positiven Coronatest. Die Familie durfte die Reise nicht antreten und flog nach kurzer Quarantäne wieder nach Deutschland. Sie haben dann von der Reiseveranstalterin u.a. die Erstattung des Reisepreises verlangt und als diese nicht zahlte Klage auf Zahlung von insgesamt rund 5.316 EUR erhoben.

Das LG hat die Klage abgewiesen, das OLG hat zugesprochen. Die Veranstalterin sei zur Rückzahlung des Reisepreises verpflichtet, weil sie durch die Verweigerung der Teilnahme vom Reisevertrag wegen unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände – hier: wegen Corona – zurückgetreten sei. Der BGH hat das dann in Revision anders gesehen und das OLG-Urteil aufgehoben und zurückverwiesen.

Nach seiner Ansicht begründet der hinsichtlich des Sohns bestehende Infektionsverdacht keine unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände nach § 651h Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BGB. Vielmehr fielen diese in die Risikosphäre der Vertragspartei, also des Reisenden.

Hier die Leitsätze des BGH zu der Entscheidung:

1. Umstände, die in die Risikosphäre einer Vertragspartei fallen, sind grundsätzlich keine unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Sinne von § 651h Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BGB.

2. Ein der Risikosphäre des Reisenden zuzurechnender Grund liegt grundsätzlich vor, wenn der Reisende zur Teilnahme an der Reise nicht in der Lage ist, weil seine Gesundheit ihm dies nicht erlaubt (Bestätigung von BGH, Urt. v. 16.05,2017 – X ZR 142/15, NJW 2017, 2677). Dasselbe gilt, wenn ein begründeter Verdacht auf eine Covid-19-Infektion einer Teilnahme an der Reise entgegensteht.

3. Wenn der Reiseveranstalter die Reiseleistung aus Gründen verweigert, die einer Teilnahme an der Reise entgegenstehen und die allein in der Person des Reisenden liegen, steht ihm in entsprechender Anwendung von § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB ein Entschädigungsanspruch zu.

4. Die Regeln über die reiserechtliche Gewährleistung haben Vorrang vor den Regelungen des allgemeinen Leistungsstörungsrechts (Bestätigung von BGH, Urt. v. 14.02.2023 – X ZR 18/22, RRa 2023, 116 = NJW-RR 2023, 755).

5. Deshalb kommt eine entsprechende Anwendung von § 645, § 648a oder § 314 BGB auf einen Reisevertrag im Falle von Leistungshindernissen nicht in Betracht.