Archiv der Kategorie: Untersuchungshaft

Zwang II: Führung eines Anbahnungsgesprächs, oder: Kontaktaufnahme über einen Dritten

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Und als zweite Entscheidung dann auch noch einmal etwas zur U-Haft, nämlich den OLG Hamm, Beschl. v. 19.11.2024 – III 3 Ws 385/24 – zur Erteilung einer Besuchserlaubnis zur Führung eines Anbahnungsgesprächs mit dem potentiellen Mandanten, wenn die Kontaktaufnahme zu dem Rechtsanwalt über einen Dritten auf Veranlassung des Mandanten erfolgt ist. Da war das OLG Hamm ja früher recht restriktiv. Hier ist die Besuchserlaubnis erteilt worden, nachdem das LG abgelehnt hatte:

„Die Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache zumindest vorläufigen Erfolg. Der angefochtene Beschluss kann keinen Bestand haben.

Beschwerdebefugt ist auch der (angehende) Verteidiger (vgl. Jahn/Klie in LR-StPO, 27. Aufl. § 148 Rn. 57).

1. Gem. § 137 Abs. 1 StPO kann sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens eines oder mehrerer Verteidiger bedienen. Dieser durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleistete Anspruch umfasst das Recht des Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem gewählten Anwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen (BVerfG, NJW 1975, 1013, 1014).

a) Dem inhaftierten Beschuldigten muss deshalb zur Anbahnung – neben unüberwachten Gesprächen – die unüberwachte telefonische und schriftliche Kontaktaufnahme zur Antragung eines Verteidigungsverhältnisses ermöglicht werden – ggf. auch zu mehreren potentiellen Verteidigern, da nur so § 137 Abs. 1 S. 2 StPO und dem Wahlrecht aus § 142 Abs. 5 StPO genügt werden kann. Neben der Möglichkeit, potentielle Verteidiger zu kontaktieren, muss deren Besuch ohne Hürden ermöglicht werden (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 148 Rn. 8).

b) Eine Konstellation, in der Dritte den Rechtsanwalt beauftragt haben, ohne dass in irgendeiner Form ersichtlich wäre, dass dies auf den Wunsch des Anklagten zurückgeht, sondern sich aus der Begründung für die Besuchserlaubnis schließen lässt, dass der Angeklagte von der Kontaktaufnahme zu dem Rechtsanwalt nichts weiß (vgl. Senat, NStZ 2010, 471), liegt hier nicht vor. Vielmehr ergibt sich aus der vom Angeklagten selbst auf Nachfrage der Kammer abgegebenen Erklärung, dass dieser tatsächlich die Beauftragung eines weiteren Rechtsanwalts beabsichtigt und dass zu diesem Dritte mit seiner Billigung Kontakt aufgenommen haben. Die Bevollmächtigung eines Dritten zur Anbahnung des Mandatsverhältnisses war gem. § 167 Abs. 2 BGB formfrei möglich. Vor diesem Hintergrund ist angesichts der Angaben des Rechtsanwalts ohne weiteres davon auszugehen, dass die Kontaktaufnahme zu ihm auf Wunsch und Veranlassung des Angeklagten erfolgt ist — zumal dem Rechtsanwalt augenscheinlich die vorgesehenen Verhandlungstermine bekannt sind.“

Zwang I: Invollzugsetzung eines BtM-Haftbefehls, oder: Verletzung des Beschleunigungsgebots

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Und dann gibt es heute StPO-Entscheidungen, alle drei haben mit Zwangsmaßnahmen zu tun.

Den Opener mache ich mit dem OLG Naumburg, Beschl. v. 22.01.2025 – 1 Ws 11/25 – zur Invollzugsetzung eines Haftbefehls.

Gegen die Angeklagten ist ein Verfahrens wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 Fällen im Tatzeitraum vom 29. März 2020 bis zum 1. Juni 2020 anhängig. In dem waren Haftbefehle jeweils wegen Fluchtgefahr ergangen. Die Angeklagten befanden sich seit dem 25.01.2022 in Untersuchungshaft. Das OLG hat denn Fortdauer der Untersuchungshaft über die Dauer von 6 Monaten hinaus angeordnet. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens hat das LG zunächst die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

Die Hauptverhandlung begann am 17.10.2022. Am 25.01.2024, dem 49. Verhandlungstag, setzte das LG das Verfahren aufgrund einer längerfristigen Erkrankung einer beisitzenden Richterin aus. Ferner setzte es mit Beschlüssen vom selben Tag den Vollzug der Haftbefehle gegen die Anordnung von Meldeauflagen außer Vollzug. Die Angeklagten wurden am selben Tag aus Untersuchungshaft entlassen.

Seit dem 11. September 2024 befinden sich die Angeklagten in anderer Sache in Untersuchungshaft, ebenfalls wegen des bandenmäßigen Handeltreibens mit 18 kg Cannabis in nicht geringer Menge in drei Fällen in dem Tatzeitraum vom 31. Juli 2024 bis zum 27. August 2024. Die Haftbefehle sind auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 StPO gestützt worden.

Das LG hat mit Beschluss vom 21.11.2024 den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle des AG  abgelehnt. Dagegen die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die keinen Erfolg hatte. Das OLG bejaht die allgemeinen Voraussetzungen der U-Haft und führt dann aus:

„b) Ferner besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO.

Diese ergibt sich daraus, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 wenige Monate nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache erneut in drei Fällen mit Cannabis in nicht geringen Mengen, nämlich mit 18 kg, Handel getrieben haben, um sich hierdurch eine laufende Einnahmequelle zu verschaffen (Verbrechen strafbar gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG, 53 StGB).

Diese erneute Straffälligkeit begründet die Gefahr, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 vor der rechtskräftigen Aburteilung im hier in Rede stehenden Verfahren weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen werden. Aufgrund der großen Verkaufsmengen, die bereits Gegenstand des hiesigen Verfahrens sind, besteht durch die Wiederholungsgefahr die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung. Die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 haben nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache bereits wenige Monate später angefangen, erneut mit Cannabis Handel zu treiben. Dadurch haben sie deutlich gemacht, dass sie trotz der langen Untersuchungshaft nicht gewillt sind, auf Einkünfte aus dem Handel mit Betäubungsmitteln zu verzichten.

Durch den illegalen Handel mit Cannabis werden aber hochrangige Rechtsgüter bedroht, denn Ziel des KCanG ist es insbesondere, den Gesundheits- und Jugendschutz zu gewährleisten, indem bestimmte Gruppen nicht legal Cannabis besitzen dürfen und die Konsumenten nur auf Eigenanbau, sei er privat oder durch Anbauvereinigungen, zurückgreifen sollen. Durch den Handel mit Cannabis im Kilogrammbereich – wie vorliegend 18 kg – wird dies jedoch umgangen. Demnach besteht durch Handlungen wie die, die den Angeklagten zur Last gelegt werden, durch zu hohe Wirkstoffgehälter, Verunreinigungen und synthetische Cannabinoide ein erhöhtes Gesundheitsrisiko für Cannabiskonsumenten (vgl. auch Bt-Drucks 20/8704 A).

c) Der nunmehrigen Annahme der Wiederholungsgefahr steht auch nicht die Subsidiaritätsklausel gemäß § 112a Abs. 2 StPO entgegen. Nach dieser Vorschrift findet § 112 a Abs. 1 StPO keine Anwendung, wenn die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls nach § 112 vorliegen und die Voraussetzungen für die Aussetzung des Haftbefehls nach § 116 Abs.1, 2 StPO nicht gegeben sind. Die Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO können aber die Wiederholungsgefahr nur ausschließen, wenn der auf sie gestützte Haftbefehl vollzogen wird. Ist, wie vorliegend, der Vollzug des Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 1, 2 StPO mit Auflagen ausgesetzt worden, und, wie vorliegend, die Wiederinvollzugsetzung wegen des Haftgrunds der Fluchtgefahr aus den im angefochtenen Beschluss dargelegten Gründen unverhältnismäßig, ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr relevant (vgl. auch Thüringer Oberlandesgericht, 1 Ws 457/10, Beschluss vom 29. November 2010; zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 112a Rn. 17).

2. Wie die Staatsanwaltschaft Halle und die Generalstaatsanwaltschaft geht auch der Senat im Ausgangspunkt davon aus, dass die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle zur Abwendung der aus der Wiederholungsgefahr folgenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung grundsätzlich erforderlich und geboten ist.

Die von der Staatsanwaltschaft beantragte Wiederinvollzugsetzung kann vorliegend allerdings schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht erfolgen, da das Verfahren in deutlicher Weise nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden ist.

Das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Beschleunigungsgebot gilt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch dann, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil in anderer Sache z.B. Strafhaft oder Untersuchungshaft vollstreckt wird und daher für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist. Der Umstand, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird, schwächt das Beschleunigungsgebot zwar ab, hebt es aber nicht auf. Vielmehr sind Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, zu nutzen, um das Verfahren voranzutreiben und es so schnell wie möglich abzuschließen (KG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 5 Ws 569/09; OLG Hamm, Beschluss vom 25. Juni 2009, 3 Ws 219/09; KG Berlin, Beschluss vom 22. Februar 2019, 116 HEs 11/19 (4/19); zitiert nach juris).

Vorliegend ist bei der gebotenen Abwägung zu bedenken, dass die Verfahrensverzögerungen im vorliegenden Fall erheblich waren.

Nach der Außervollzugsetzung der Haftbefehle mit Beschluss vom 25. Januar 2024 ist das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden bzw. nicht sachlich gefördert worden. Aus dem Vermerk des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer vom 30. Dezember 2024 ergibt sich dies eindrücklich. Nach der Aussetzung der Hauptverhandlung am 24. Januar 2024 hat es der Vorsitzende über Monate hinweg versäumt, mit den Verteidigern neue Termine zur Hauptverhandlung abzustimmen und eine neue Terminierung vorzunehmen. Dies hätte aber unmittelbar nach der im Januar 2024 erfolgten Aussetzung des Verfahrens erfolgen können und müssen.

In der gesamten ersten Jahreshälfte 2024 sind ausweislich des hier maßgeblichen Bandes XXI zur Förderung des Verfahrens und zur Neuterminierung keinerlei Aktivitäten seitens des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer entfaltet. Die Akten enthalten hier lediglich Kommunikation im Zusammenhang mit den Meldeauflagen der Außervollzugsetzungsbeschlüsse.

Mit Verfügung vom 9. Juli 2024 bat der Vorsitzende die Verteidiger um die Nennung von freien Nachmittagen für den Monat September 2024, da ein „Erörterungstermin“ geplant sei. Am 24. September 2024 fand ein Erörterungstermin statt, in dessen Ergebnis eine Verständigung gemäß § 257c StPO wohl nicht zu erwarten war. Auch danach entfaltete der Vorsitzende indes keinerlei Aktivitäten, dem Verfahren Fortgang zu geben.

Mit Verfügung vom 24. September 2024 beantragte die Staatsanwaltschaft die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2. Auch danach finden sich in den Akten keinerlei Hinweise, auf die Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung. Zudem entschied die 3. große Strafkammer des Landgerichts Halle über diesen Antrag erst mit Beschluss vom 21. November 2024. Nicht nachvollzogen kann auch, dass nach dem Eingang der Beschwerde bis zur Nichtabhilfeentscheidung nochmals 3 Wochen vergangen waren. Letztlich vergingen zwischen dem Antrag der Staatsanwaltschaft bis zur Weiterleitung der Akten im Beschwerdeverfahren 3 Monate. Im gesamten Zeitraum finden sich auch nicht im Ansatz Hinweise im Hinblick auf die Vorbereitung der neu durchzuführenden Hauptverhandlung.

Die gänzlich fehlende Verfahrensförderung im Zeitraum zwischen Ende Januar 2024 bis heute und die Nichtanberaumung von Hauptverhandlungsterminen stellt einen so schwerwiegenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar, dass dieser zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft führt und einer Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 entgegensteht.

Dabei kann dahinstehen, ob für den gesamten Zeitraum eine derartige Überlastung der 3. großen Strafkammer bestand, dass die Durchführung der Hauptverhandlung in vorliegender Sache nicht möglich war, wobei die Hinweise des Vorsitzenden in seinem Vermerk vom 30. Dezember 2024 hierzu allerdings nur vage formuliert sind. Die Überlastung der Gerichte fällt nämlich – anders als unvorhergesehene Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005, 2 BvR 1373/05; zitiert nach juris).

Zutreffend weist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift daraufhin, dass auch bei vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen durchaus eine erneute Anordnung des Vollzugs der Untersuchungshaft, insbesondere bei hinzutretender Wiederholungsgefahr, verhältnismäßig sein kann. Solche besonderen Umstände, wie in den von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Zweibrücken und des Oberlandesgerichts Jena dargelegt, sind vorliegend aber nicht gegeben. Das Oberlandesgericht Zweibrücken hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Haftbefehl wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot aufgehoben worden war und nach Durchführung der Hauptverhandlung ein neuer Haftbefehl erlassen worden war. Das Oberlandesgericht Jena erachtete die Haftfortdauer wegen Wiederholungsgefahr trotz schwerwiegender Verfahrensverzögerungen für rechtmäßig, nachdem die Hauptverhandlung noch innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO beginnen konnte. Den genannten Entscheidungen ist nicht zu entnehmen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus § 120 Abs. 1 StPO für Haftbefehle, die auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt sind, nicht gilt. Bei der vorzunehmenden Abwägung zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit einerseits und dem Bedürfnis, eine wirksame Straf-verfolgung durchzuführen, ist zwar der Schutz der Allgemeinheit vor neuerlichen Straftaten zu bedenken, dieser Aspekt lässt aber das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot nicht entfallen. Selbst bei schwersten Tatvorwürfen kann die Verletzung des Beschleunigungsgebots die Aufhebung des Haftbefehls erfordern (BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 2 BvR 1742/06; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 47. Auflage, § 120 Rn. 3c m. w. N.). Vorliegend ist im Rahmen der Gesamtabwägung zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft verstärkt (BVerfG, a. a. O.). Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer abzustellen, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Nach diesen Grundsätzen ist eine Analyse des konkreten Verfahrensablaufs vorzunehmen, wobei die Untersuchungshaftverfahren mit der größtmöglichen Beschleunigung durchzuführen sind und grundsätzlich Vorrang vor der Erledigung anderer Strafverfahren haben (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2012, 3 Ws 37/12 m. w. N.; zitiert nach juris).

Der Senat lässt ausdrücklich dahinstehen, ob die vom 17. Oktober 2022 bis zum 22. Januar 2024 an 48 Verhandlungstagen durchgeführte Hauptverhandlung mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden ist; durchschnittlich 3 Hauptverhandlungstage pro Monat könnten allerdings dagegensprechen. Gegen die Beachtung des Beschleunigungsgebots könnte auch sprechen, dass die 3. große Strafkammer ihr Beweisprogramm seit Herbst 2023 grundsätzlich abgeschlossen hatte. Der letzte Zeuge, war bereits am 40. Verhandlungstag, dem 27. September 2023, vernommen worden.

Eine nicht hinzunehmende Untätigkeit im Hinblick auf die Organisation einer neuen Hauptverhandlung nach der am 25. Januar 2024 erfolgten Mitteilung über die Erkrankung einer beteiligten Richterin über das gesamte Jahr 2024 hinweg ist jedoch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt hinnehmbar.

Der Senat verkennt nicht, dass die Straferwartung für die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 erheblich sein dürfte. Allein der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft im Fall eines Geständnisses der Angeklagten eine Freiheitsstrafe in Höhe von circa 7 Jahren in Aussicht gestellt hat, zeigt dies. Bei einer Prognose zu der Strafzumessung dürfte derzeit von erheblicher Bedeutung sein, dass die Angeklagten dringend tatverdächtig sind, schon kurze Zeit nach der Haftentlassung erneut drei einschlägige Straftaten begangen zu haben. Die Straferwartung führt aber, wie ausgeführt, nicht dazu, das Beschleunigungsgebot entfallen zu lassen.“

(Un)Zulässigkeit einer weiteren Haftbeschwerde, oder: Antrag auf Haftprüfung versus Haftbeschwerde

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Der zweite Beschluss, der OLG Hamm, Beschl. v. 03.12.2024 – 3 Ws 417/24 -, befasst sich mit der Zulässigkeit einer Haftbeschwerde.

Das AG hat am 22.02.2024 gegen den Beschuldigten Haftbefehl erlassen, den es am 23.04.2024 neu gefasst hat. Auf Grundlage dieses geänderten Haftbefehls wurde gegen den Beschuldigten am 15.05.2024 ein Europäischer Haftbefehl erlassen. Mit Beschluss vom 30.09.2024 hat das AG den vom Verteidiger des Beschuldigten gestellten auf Außervollzugsetzung des Haftbefehls zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschuldigten hat das LG Bielefeld mit Beschluss vom 15.10.2024 als unbegründet verworfen. Mit Schriftsatz vom 29.10. hat der Beschuldigte über seinen Verteidiger weitere Beschwerde eingelegt.

Dem Beschuldigten wurde unterdessen – nachdem er auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls aus den Niederlanden in die Bundesrepublik Deutschland überstellt worden war – am 10. 10.2024 vor dem AG Kleve der Haftbefehl verkündet und dieser zugleich aufrechterhalten und in Vollzug gesetzt. In diesem Termin beantragte der Beschuldigte, dem zuständigen Gericht vorgeführt zu werden. Nachdem der Beschuldigte – seinem Antrag entsprechend – dem für ihn zuständigen Ermittlungsrichter zugeführt worden war, ist der Haftbefehl dort im Anschluss an den Vorführtermin vom 11.11.2024 aufrechterhalten und in Vollzug belassen worden.

Das OLG hat die weitere Beschwerde des Beschuldigten als unzulässig angesehen:

„Die nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO grundsätzlich statthafte weitere Beschwerde gegen den Beschluss der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom 15. Oktober 2024, mit welchem die Beschwerde vom 07. Oktober 2024 gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Bielefeld vom 23. April 2024 in Verbindung mit dem Beschluss des Amtsgerichts Bielefeld vom 30. September 2024 – betreffend die Zurückweisung des Antrages auf Außervollzugsetzung – als unbegründet verworfen wurde, ist bereits unzulässig.

1. Der Zulässigkeit der weiteren Beschwerde steht im vorliegenden Fall § 117 Abs. 2 S. 1 StPO entgegen. Nach dieser Vorschrift ist neben einem Antrag auf Haftprüfung die Beschwerde unzulässig (sog. „Vorrang der Haftprüfung gegenüber der Haftbeschwerde“). Diese Vorrangregelung führt auch im vorliegenden Fall zur Unzulässigkeit der weiteren Haftbeschwerde.

a) Der Beschuldigte hat im Rahmen seiner Vorführung am 10. Oktober 2024 beim Amtsgerichts Kleve gemäß § 115a Abs. 3 S. 1 StPO seine Vorführung vor das zuständige Gericht zur Vernehmung nach § 115 StPO beantragt. Der Sache nach handelt es sich um einen Antrag auf Haftprüfung im Sinne des § 117 Abs. 1 StPO (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 13. Februar 2002 – 2 Ws 38/02; OLG Stuttgart, Beschluss vom 03. August 1989 – 3 Ws 178/89, beck-online). Denn wie bei einer Haftprüfung führt auch der Antrag nach § 115a Abs. 3 S. 1 StPO zu einer gerichtlichen Prüfung des gemäß § 126 StPO zuständigen Gerichts aufgrund mündlicher Verhandlung, ob der Haftbefehl aufzuheben oder dessen Vollzug auszusetzen ist. Der Gang der Entscheidungsfindung und der Entscheidungsgegenstand stimmen mit einer Haftprüfung im Sinne der §§ 117 ff. StPO überein. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, die Haftprüfung nach den §§ 117 ff. StPO sowie die Vorführung nach den §§ 115a, 115 StPO – insbesondere im Hinblick auf die gesetzliche Vorrangregelung – unterschiedlich zu beurteilen. Denn der gesetzliche Grundgedanke, dass zunächst das sachnähere Haftgericht oder das bereits mit der Hauptsache befasste Tatgericht über die Haftfortdauer entscheiden soll (vgl. MüKoStPO/Böhm, 2. Auflage 2023, StPO § 117 Rn. 46), bevor das entferntere Beschwerdegericht – in der Regel gemäß § 118 Abs. 2 StPO nach Aktenlage – zu entscheiden hat, gilt in beiden Fällen gleichermaßen.

b) Die Stellung des Antrages auf Vorführung vor das zuständige Gericht am 10. Oktober 2024 hat damit zugleich die Unzulässigkeit der am 07. Oktober 2024 eingelegten Beschwerde gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Bielefeld vom 23. April 2024 nach sich gezogen und führt auch zur Unzulässigkeit der gegen den Verwerfungsbeschluss der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom 15. Oktober 2024 gerichteten weiteren Beschwerde vom 29. Oktober 2024, mit denen letztlich dasselbe Ziel, nämlich die Aufhebung (§ 120 Abs. 1 StPO) oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO) verfolgt wurde, wie mit der am 10. Oktober 2024 vom Beschuldigten beantragten Haftprüfung. Dabei ist es letztlich unerheblich, ob die (weitere) Beschwerde vor, nach oder gleichzeitig mit dem Haftprüfungsantrag eingelegt worden ist. Insbesondere lebt die eingelegte Beschwerde nach Abschluss des Haftprüfungsverfahrens oder nach etwaiger Rücknahme des darauf gerichteten Antrages nicht wieder auf, sondern bleibt unzulässig (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 18. Mai 2017 – 4 Ws 85/17; BeckOK StPO/Krauß, 53. Ed. 1.7.2024, StPO § 117 Rn. 13; Lind in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2019, § 117 StPO, Rn. 29 ff.). Denn die durch Anbringung des Haftprüfungsantrags einmal bewirkte Unzulässigkeit kann hierdurch nicht wieder beseitigt werden (vgl. Faßbender/Posthoff in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 117 StPO, Rn. 20). Der Beschwerdeführer erleidet hierdurch keinen wesentlichen Nachteil, da er gegen die Entscheidung nach erfolgter Haftprüfung erneut Beschwerde einlegen kann.

2. Die weitere Beschwerde ist darüber hinaus mittlerweile infolge der Entscheidung des Amtsgerichts Bielefeld vom 11. November 2024, mit dem der Haftbefehl aufrechterhalten und in Vollzug belassen worden ist, prozessual überholt und damit unzulässig.

a) Es entspricht gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung, dass bei mehreren aufeinander folgenden, denselben Gegenstand betreffenden Haftentscheidungen grundsätzlich nur jeweils die letzte Haftentscheidung angefochten werden kann (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 23. November 2020 – 1 Ws 475/20; OLG Hamm, Beschluss vom 29. Juni 2010 – 2 Ws 149/10, beck-online; BeckOK StPO/Krauß, 53. Ed. 1.7.2024, StPO § 117 Rn. 5; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, 67. Auflage 2024, § 117 StPO, Rn. 8 m.w.N.). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine frühere Haftentscheidung durch eine ihr zeitlich nachfolgende prozessual überholt sein kann und es einem vernünftigen Verfahrensablauf widerspricht, wenn der Angeklagte beliebig auf frühere, denselben Sachvorgang betreffende Haftentscheidungen zurückgreifen könnte, deren Begründung eventuell bereits überholt ist, und es hierdurch im Ergebnis zu einander widersprechenden Entscheidungen verschiedener mit der Sache befasster Gerichte kommen kann (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 29. Juni 2010, 2 Ws 149/10; OLG Hamm, Beschluss vom 27. Mai 2008 – 4 Ws 136/08; OLG Hamburg, Beschluss vom 22. Februar 1994, 1 Ws 40/94 – juris).

Etwas anderes gilt nur dann, wenn dies lediglich zu einer sachlich nicht gebotenen kurzfristigen Haftentscheidung desselben Spruchkörpers führen und die erstrebte Anrufung des Beschwerdegerichts dadurch ohne sachlich zwingende Gründe verzögert würde, weil derselbe Spruchkörper erst kurz zuvor eine ausreichend begründete Haftentscheidung (als Beschwerdegericht) getroffen hat (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 06. Juni 2013 – 5 Ws 202/13; OLG Hamm, Beschluss vom 29. Juni 2010, 2 Ws 149/10; OLG Hamm, Beschluss vom 27. Mai 2008, 4 Ws 136/08 – beck-online).

Ein derartiger Ausnahmefall, der ein Abweichen von dem oben bezeichneten Grundsatz rechtfertigen könnte, ist vorliegend indessen nicht gegeben. Es liegt bereits keine Identität des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers vor, jedenfalls soweit es die personelle Identität des zuständigen Ermittlungsrichters beim Amtsgericht Bielefeld anbetrifft. Darüber hinaus hat der Ermittlungsrichter vorliegend – ausweislich des Protokolls des Vorführtermins vom 11. November 2024 – unter Berücksichtigung ergänzender Ausführungen des Beschuldigten und seines Verteidigers, insbesondere zur Frage des Vorliegens eines Haftgrundes, entschieden. Die Einhaltung des gesetzlich vorgesehenen Instanzenzuges kann aufgrund dessen auch vor dem Hintergrund des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgrundsatzes nicht als bloßer Formalismus angesehen werden.

b) Es besteht auch kein besonderes Interesse an der Feststellung einer (etwaigen) Rechtswidrigkeit der (prozessual überholten) Haftfortdauerentscheidung. Ein solches käme nur dann in Betracht, wenn die Untersuchungshaft beendet wäre und der Beschuldigte ohne Zuerkennung des besonderen Fortsetzungsfeststellungsinteresses mangels Beschwer eine gerichtliche Überprüfung der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht mehr erreichen könnte (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 02. Februar 2017, 4 Ws 422/16; OLG Koblenz, Beschluss vom 23. Dezember 2015, 2 Ws 664/15, OLG Koblenz, Beschluss vom 06. November 2006, 1 Ws 675/06, juris). Dies ist indes vorliegend nicht der Fall. Denn die Untersuchungshaft wird weiterhin auf Grundlage der zuletzt ergangenen Entscheidung des Amtsgerichts Bielefeld vom 11. November 2024 vollzogen.“

Zu frühe Sechs-Monats-Haftprüfung beim OLG, oder: Begriff derselben Tat und „neue“ Vorwürfe

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Auf geht es in die 4. KW/2025, und zwar mit zwei Haftentscheidungen. Nichts Besonderes und nichts Neues, sondern nur „alte“ Probleme/Aussagen der entscheidenden OLG.

Zunächst stelle ich den OLG Brandenburg, Beschl. v. 05.12.2024 – 2 Ws 153/24 (S) – vor. Ergangen ist er im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO. Das OLG äußert sich (noch einmal) zum Begriff derselben Tat, der ja für die Frage der Berechnung der Sechs-Monats-Frist von Bedeutung ist:

„Eine Entscheidung durch den Senat ist derzeit nicht veranlasst. Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat dazu in ihrer Stellungnahme vom 15. November 2024 das Folgende ausgeführt:

„I.

Im Übrigen handelt es sich um andere Taten im Sinne des § 121 StPO, als die wegen der der Beschuldigte ursprünglich inhaftiert wurde. Der nun vollstreckte Haftbefehl betrifft nicht mehr dieselbe Tat wie der ursprüngliche Haftbefehl (siehe hierzu BGH NStZ-RR 2023, 349 m.w.Nachw.). Der Begriff derselben Tat im Sinne des § 121 StPO weicht vom prozessualen Tatbegriff im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO ab und ist mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Er erfasst alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt geworden sind und in einen bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind (vgl. BGH Beschl. v. 02.06.2021 – AK 33/21, BeckRS 2021, 15386 Rn. 6 m.w.Nachw.). Dadurch wird eine sogenannte Reservehaltung von Tatvorwürfen vermieden, die darin bestünde, dass von Anfang an bekannte oder im Laufe der Ermittlungen bekannt gewordene Taten zunächst zurückgehalten und erst kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zum Gegenstand eines neuen oder erweiterten Haftbefehls gemacht werden mit dem Ziel, eine neue Sechsmonatsfrist zu eröffnen. Somit löst es keine neue Haftprüfungsfrist gemäß § 121 Abs. 1 StPO aus, wenn ein neuer Haftbefehl lediglich auf Tatvorwürfe gestützt bzw. durch sie erweitert wird, die schon bei Erlass des ersten Haftbefehls – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt waren. Tragen dagegen die erst im laufe der Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls und ergeht deswegen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt (BGH, Beschluss vom 20. September 2023 – AK 54/23 -, Rn. 8, juris m. w. Nachw.). So liegt es hier jedenfalls bezüglicher der Taten Nr. 6, 8, 9, 12-17, 19-20 und 22-23 des Haftbefehls vom 5. November 2024.

…..

Für den Beginn der neuen Sechsmonatsfrist gemäß §§ 121, 122 StPO bezüglich dieser Taten ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem sich der Verdacht hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe zu einem dringenden verdichtet hat. Entscheidend ist mithin, wann der neue bzw. erweiterte Haftbefehl hätte erlassen werden können (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 16. Mai 2018 – 1 Ws 149/18 H -, Rn. 8), nicht hingegen, wann die Staatsanwaltschaft ihn erwirkt hat. Dabei ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Haftbefehl spätestens an dem auf die Beweisgewinnung folgenden Tag der veränderten Sachlage anzupassen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2023 – AK 54/23 -, Rn. 8), insbesondere der Tag nach der Vernehmung des Zeugen (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 25. März 2019 – 2 Ws 39 – 42/19 -, Rn. 8, juris).

1. Eine neue Sechsmonatsfrist läuft daher ab den 20. Juni 2024 jedenfalls im Hinblick auf die erst und nur durch Vernehmung der Zeugin … (Name 02) am 19. Juni 2024 (Bd. 111 BI. 466 ff. der Akte) ermittelten haftbefehlsgegenständlichen Vorwürfe schweren sexuellen Missbrauchs gemäß § 176c StGB (Bd. IV BI. 832 der Akte), nämlich zwei Fälle des Vollzugs des Geschlechtsverkehrs an ihr durch den Beschuldigten in einem Auto im Wald (Tat Nr. 22 und 23). Diese tragen aufgrund der Tatschwere (§ 176a Abs. 2 StGB a. F. bzw. § 176c StGB) und der Gesamtschau der geschilderten Beweislage gegen den Beschuldigten und die Mitbeschuldigten allein den Vollzug des Haftbefehls. Bezüglich dieser Taten läuft die Sechsmonatsfrist daher erst am 20. Dezember 2024 ab.

2. Eine neue Sechsmonatsfrist läuft zudem bezüglich der übrigen zum Gegenstand des erweiterten Haftbefehls gemachten Vorwürfe schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, die gegen den Beschuldigten erst erhoben werden konnten, nachdem er auf Foto- und Videoaufnahmen des Missbrauchs identifiziert werden konnte. Diese Aufnahmen befanden sich auf den am 21.Mai 2024 sichergestellten Datenträgern und gelangten erst durch Auswertungsbericht vom 25. September 2024 zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden. Es handelt sich dabei um Tat 6 (Nr. 12 auf BI. 47 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 8 (Nr. 7 BI. 181 f. des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 13 (Nr. 8 BI. 38 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 14 (Nr. 7 BI. 37 des Sonderhefts Gutachten P- 2024-0326), Tat 15 (Nr. 6 BI. 36 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 16 (Nr. 3 BI. 34 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 17 (Nr. 2 BI. 34 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), Tat 19 (Nr. 11 BI. 39 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326) und Tat 20 (Nr. 12 BI. 39 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326) des Haftbefehls. Dabei kann es aufgrund der geschilderten Maßstäbe für den Beginn einer neuen Sechsmonatsfrist nicht allein auf den Tag nach der Vorlage des Auswertungsberichts am 25. September 2024 ankommen (BI. 1 ff. des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326), da ansonsten die Ermittlungsbehörden willkürlich durch verzögerte Auswertung von Datenträgern Haftbefehle „auf Reserve“ generieren könnten. Für den Beginn einer neuen Sechsmonatsfrist ist im Falle von Taten, denen der Beschuldigte erst durch Auswertung von Datenträgern dringend verdächtig ist und die zum Gegenstand eines (erweiterten) Haftbefehls gemacht werden, entscheidend, wann frühestens mit der Auswertung der Datenträger zu rechnen wäre (vgl. OLG Jena Beschl. v. 16.11.201 O – 1 Ws 446/10 (32), BeckRS 2011, 15235) und sodann der Tag nach der Vorlage der Auswertung maßgeblich (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2023 – AK 54/23 -, Rn. 24, juris). Vorliegend wurden die am 21. Mai 2024 sichergestellten Datenträger am 12. Juni 2024 dem externen IT-Forensiker überreicht und der Auftrag am 24. Juni 2024 erteilt (BI. 1 ff. des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326, siehe Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 31. Mai 2024, Bd. II BI. 314 der Akte).

Dieser Zeitraum hätte unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen und der möglichen Vorbereitung der Auswahl der Stelle, die die Auswertung der sichergestellten Datenträger vornehmen soll, auf eine Woche nach Ablauf des Tages des Erlasses und der Vollstreckung des ursprünglichen Haftbefehls am 22. Mai 2024 verkürzt werden können, indem der Auftrag am 30. Mai 2024 erteilt worden wäre. Die Auswertung selbst dauerte vom 24. Juni 2024 bis 25. September 2024, wobei nicht ersichtlich ist, dass die Auswertung in kürzerer Zeit möglich gewesen wäre. Die im Zuge der Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten am 21. Mai 2024 als Beweismittel sichergestellten über zwei Dutzend Datenträger (BI. 7 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326) konnten trotz kostspieliger Beauftragung eines externen Gutachters (Bd. IV BI. 865 der Akte) erst am 23. Juli 2024 (BI. 1 ff. des Sonderheftes „vorläufige Auswertung“) und 5. September 2024 vorläufig ausgewertet werden und enthielten ca. 10.000 Dateien mutmaßlich kinderpornographischen Materials und Videoaufnahmen mutmaßlich schweren sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigungen der Zeuginnen … (Name 02) sowie der … (Name 01) durch den Beschuldigten und die Mitbeschuldigten … (Name 03) und … (Name 04) (Bd. IV BI. 832 der Akte). Die Auswertung nahm 252 Arbeitsstunden in Anspruch (ca. 84 Stunden pro Monat, Bd. IV BI. 865 der Akte). In der obergerichtlichen Rechtsprechung sind zur Berechnung neuer Sechsmonatsfristen Zeiträume von über drei Monaten von der Sicherstellung bis zur Auswertung von Datenträgern anerkannt (vgl. OLG Jena Beschl. v. 16.11.2010 – 1 Ws 446/10 (32), BeckRS 2011, 15235; BGH, Beschluss vom 20. September 2023 -AK 54/23 -, Rn. 24, juris). Das ohne erkennbaren Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz erstellte Gutachten über die forensische Auswertung der Datenträger vom 25. September 2024 fasst die Ergebnisse dahingehend zusammen, dass 2.728 Bilder und 71 Videos jugend- und kinderpornographischen Inhalts festgestellt werden konnten, die zu einem wesentlichen Anteil den schweren sexuellen Missbrauch der Geschädigten … (Name 02) und … (Name 01) zeigen würden (BI. 1 ff., 31 ff. des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326) und jedenfalls die Taten Nr. 6, 8, 13, 14, 15, 16, 17, 19, 20 des Haftbefehls belegen, die sich ausschließlich aus dem Auswertebericht vom 25. September 2024 ergeben (BI. 31-50 des Sonderhefts Gutachten P-2024-0326).

Mit Ausnahme der geschilderten Verzögerung von drei Wochen und vier Tagen hätten diese Taten, derer der Beschuldigte erst aufgrund der Auswertung der Datenträger in der Gesamtschau der Ermittlungsergebnisse (siehe unter 11.) dringend verdächtig ist, nicht früher als am 26. September 2024 zum Gegenstand des erweiterten Haftbefehls gemacht werden können. Maßgeblicher Zeitpunkt der neuen Sechsmonatsfrist ist hiernach der Tag nach der Vorlage der Auswertung, der 26. September 2024, unter Abzug von drei Wochen und vier Tagen, die die Auswertung vermeidbar verzögert worden ist. Jedenfalls hinsichtlich der Taten Nr. 6, 8, 13, 14, 15, 16, 17, 19 und 20, die angesichts der geschilderten Beweislage und der Schwere der Vorwürfe den derzeit vollstreckten Haftbefehl gegen den Beschuldigten alleine tragen, begann die neue Sechsmonatsfrist mithin am 1. September 2024 und endet am 1. März 2025.“

Diesen zutreffenden Erwägungen tritt der Senat bei.“

Wenn man es zweimal gelesen hat, versteht man es 🙂 .

 

Haft III: Wenn die Angeklagte in der HV ausbleibt, oder: Kein Haftbefehl, wenn Erscheinen demnächst sicher

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Und als dritte Entscheidung dann noch etwas aus der landgerichtlichen Spruchpraxis, nämlich den LG Oldenburg, Beschl. v. 22.11.2024 – 4 Qs 332/24. Thematik: Sicherungshaftbefehl nach § 230 StPO.

Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten, dem Ehemann der Beschwerdeführerin, mit zwei Anklageschriften zur Last, insgesamt sieben Betrugstaten begangen zu haben, wobei er in sechs Fällen gewerbsmäßig und in fünf Fällen mit dem weiteren Angeklagten G. gemeinschaftlich gehandelt habe. Durch die eine Anklage wird zudem dem Angeklagten P.B. und der Beschwerdeführerin hinsichtlich einer der Taten eine Beihilfe zur Last gelegt.

Das AG hat unter dem 15.04.2024 einen Termin zur Hauptverhandlung mit allen vier Angeklagten auf den 19.09.2024, 10:00 Uhr, anberaumt sowie Fortsetzungstermine auf den 10.10.2024, 09:00 Uhr, den 17.10.2024, 09:00 Uhr, den 07.11.2024, 09:00 Uhr, und den 28.11.2024, 09:00 Uhr, festgelegt. Ausweislich der Zustellungsurkunde ist die Ladung der Beschwerdeführerin zur Hauptverhandlung und zu den Fortsetzungsterminen unter der Zustellanschrift pp., dem Angeklagten C.D., der ebenfalls unter dieser Anschrift gemeldet ist, am 19.04.2024 persönlich übergeben worden.

Zum Hauptverhandlungstermin am 19.09.2024 erschien die Beschwerdeführerin pünktlich. Nicht erschienen war indes der Mitangeklagte P.B., gegen den, nach einem erfolglosen polizeilichen Vorführversuch, im Termin ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO ergangen ist. Nach Unterbrechung der Hauptverhandlung am 19.09.2024 ist die Fortsetzung der Hauptverhandlung auf den bereits anberaumten Termin am 10.10.2024 bestimmt worden.

Aufgrund einer Mitteilung des Bewährungshelfers des Angeklagten C.D. und unter Weiterleitung von Unterlagen, die ihm der Angeklagte C.D. überreicht habe, erhielt das AG am 08.10.2024 davon Kenntnis, dass die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann auf den 10.10.2024 um 15:00 Uhr und den 16.10.2024 um 11:00 Uhr in einer Nachlasssache – in Serbien – zu zwei Terminen geladen worden seien. Bestandteil der übermittelten Dokumente war u. a. eine Abschrift der in serbischer Sprache verfassten undatierten Ladung im Original sowie eine Übersetzung hiervon in die deutsche Sprache vom 26.09.2024. Aus der übersetzten Ladung ergibt sich neben den Terminsstunden die Mitteilung an die beiden Adressaten, dass deren persönliche Anwesenheit zu den Terminen zwingend erforderlich sei und die vorzulegenden Ausweisdokumente nicht durch eine bevollmächtigte Person, sondern nur durch Erben oder gesetzliche Vertreter eingereicht werden können. Eines der Dokumente war darüber hinaus mit der Behauptung versehen, dass die Beschwerdeführerin und der Mitangeklagte C.D die weiteren Termine „selbstverständlich“ wahrnehmen würden.

Zum Fortsetzungstermin am 10.10.2024 um 09.00 Uhr erschien die Beschwerdeführerin nicht. Der anwesende Verteidiger des C.D. teilte für den Angeklagten C.D. u. a. mit, dass dieser sich in Serbien befinde, um die Nachlassangelegenheit wahrzunehmen, weil die Gefahr bestünde, dass der Erbanspruch verfallen könnte. Die Höhe des möglichen Anspruchs sei dem Verteidiger aber nicht bekannt. Der Angeklagte C.D. werde nicht kommen. Die Verteidigerin der Beschwerdeführerin schloss sich diesen Ausführungen an und erklärte für die Beschwerdeführerin das Gleiche.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft hat das AG daraufhin um 09:32 Uhr gegen die Beschwerdeführerin noch im Termin vom 10.10.2024 einen auf § 230 Absatz 2 StPO gestützten Haftbefehl erlassen. Dagegen die Beschwerde, die Erfolg hatte:

„2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der Haftbefehl ist in materieller Hinsicht zu beanstanden. Dabei kann nach Ansicht der Kammer dahinstehen, ob die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Gründe einen hinreichenden Entschuldigungsgrund darstellen, weil die Anordnung von Haft gemäß § 230 Abs. 2 StPO jedenfalls nicht erforderlich war und damit unverhältnismäßig ist. Im Einzelnen:

….

b) Nach Ansicht der Kammer lagen aber im Zeitpunkt seiner Anordnung durch das Amtsgericht – Schöffengericht – Cloppenburg am 10.10.2024 die materiellen Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO nicht vor. Dabei kann im Ergebnis dahinstehen, ob die Beschwerdeführerin für ihr Ausbleiben im Termin vom 10.10.2024 hinreichend entschuldigt war. Denn die Anordnung von Haft war jedenfalls nicht erforderlich und ist damit unverhältnismäßig.

aa) Gemäß § 230 Abs. 2 StPO ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl zu erlassen, wenn das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt ist und soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist.

bb) Die Beschwerdeführerin war zu dem auf den 10.10.2024 anberaumten Hauptverhandlungstermin durch Zustellung im Wege der Übergabe der Ladung an einen in der Wohnung der betreffenden Person befindlichen erwachsenen Familienangehörigen (§ 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), ordnungsgemäß geladen worden. Ladungen dieser Art wird im normalen Geschäftsgang ein Hinweis auf die Folgen des unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten im Sinne des § 216 Abs. 1 StPO beigefügt. Anhaltspunkte dafür, dass dies vorliegend nicht der Fall gewesen sein könnte, liegen nicht vor, insbesondere wurde Entsprechendes auch von der Beschwerdeführerin selbst nicht behauptet. Dass die Beschwerdeführerin darüber hinaus auf die Folgen ihres unentschuldigten Ausbleibens sowohl durch einen Hinweis der Vorsitzenden am Schluss des Hauptverhandlungstermins vom 19.09.2024 und darüber hinaus durch Schreiben vom 08.10.2024 weitere Male hingewiesen worden ist, schadet nicht, ist aber ohne Belang. Die Beschwerdeführerin ist im Termin vom 10.10.2024 auch ausgeblieben, da sie zur festgesetzten Terminsstunde sowie nach Ablauf einer hinreichenden Wartefrist nicht im Sitzungssaal anwesend war.

cc) Es kann nach Ansicht der Kammer dahinstehen, ob die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Gründe einen hinreichenden Entschuldigungsgrund darstellen.

Die Kammer weist insoweit darauf hin, dass zur Entschuldigung eines Angeklagten jeder Umstand dient, der ihn – wie beispielsweise Krankheit oder Gefangenschaft – am Erscheinen vor Gericht gegen seinen Willen hindert oder bei Abwägen aller Gesichtspunkte ergibt, dass dem Angeklagten aus seinem Fernbleiben billigerweise kein Vorwurf gemacht werden kann (Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn. 16). Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich der Angeklagte – wie hier – sein Ausbleiben mitteilt und insoweit um Entschuldigung oder Verständnis bittet, sondern allein darauf, ob er entschuldigt ist, also ob dem Angeklagten wegen seines Ausbleibens unter Abwägung aller Umstände des Falles billigerweise ein Vorwurf gemacht werden kann oder nicht (BVerfG, NJW 2007, 2318; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ders., § 230 StPO, Rn. 16 m. w. N.).

Das Gericht entscheidet hierüber im Freibeweis, wobei aber nur solche Beweise heranzuziehen sind, die sofort zur Verfügung stehen. Genügend entschuldigt ist das Ausbleiben zwar nur, wenn es glaubhaft erscheint, dass den Angeklagten kein Verschulden trifft (siehe insgesamt Schmitt, in: Meyer-Goßner/ders., § 329 StPO, Rn. 21 m. w. N.). Allerdings ist bei der Auslegung zugunsten des Angeklagten eine weite Auslegung geboten (BGHSt 17, 391 [397]). Maßgebend ist, ob dem Angeklagten nach den Umständen des Falles wegen des Ausbleibens billigerweise ein Vorwurf zu machen ist oder nicht (Schmitt, in: Meyer-Goßner/ders., § 329 StPO, Rn. 23 m. w. N.). Eine insoweit durch die Rechtsprechung angenommene Fallgruppe kann generell die Regelung beruflicher oder privater Angelegenheiten sein, jedenfalls dann, wenn sie unaufschiebbar und von solcher Bedeutung sind, dass dem Angeklagten das Erscheinen billigerweise nicht zugemutet werden kann, sodass die öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung ausnahmsweise zurücktreten muss (Schmitt, in: Meyer-Goßner/ders., § 329 StPO, Rn. 28 m. z. N. aus d. Rspr.). Hierunter können auch drohende wirtschaftliche Verluste fallen (OLG Düsseldorf, NJW 1960, 1921). Eine derartige Konstellation könnte ggf. auch der Verlust der Erbschaft darstellen.

dd) Der Erlass eines Haftbefehls war im Zeitpunkt seiner Anordnung aber unverhältnismäßig.

(1) In das hohe Rechtsgut der persönlichen Freiheit darf der Staat nur dann und nur insoweit eingreifen, als dies unerlässlich ist, um die künftige Teilnahme eines Angeklagten an einem Hauptverhandlungstermin mit Sicherheit zu erreichen. Ist nach den bekannt gewordenen Umständen zu erwarten, dass der Angeklagte zum neuen Hauptverhandlungstermin von selbst erscheinen wird, etwa, weil der für sein Ausbleiben angeführte Grund sich nur auf den gegenwärtigen Termin bezog, so ist es meist nicht erforderlich, und damit auch nicht zulässig, präventiv die Teilnahme an dem künftigen Termin durch Zwangsmittel sicherzustellen. Gleiches gilt, wenn das Erscheinen des Angeklagten mit der erforderlichen Sicherheit durch ein milderes Mittel erreichbar ist (BVerfGE 32, 87; OLG Hamburg, Beschl. v. 04.06.2020 – 2 Ws 72/20, Rn. 20).

Der Grundsatz, dass das mildeste Mittel anzuwenden ist, gilt auch für die Auswahl der in § 230 Abs. 2 StPO nebeneinander angedrohten Zwangsmittel. Dem an erster Stelle genannten Vorführungsbefehl gebührt als dem weniger einschneidenden Eingriff in die persönliche Freiheit stets der Vorrang vor dem Haftbefehl (BVerfGE 32, 87; BVerfG, NJW 2007, 2318). Letzterer darf nur angeordnet werden, wenn das mildere Mittel entweder bereits erfolglos ausgeschöpft ist oder nach Würdigung aller Umstände der Zweck der Norm, die Durchführung der Hauptverhandlung in Gegenwart des Angeklagten zu ermöglichen, andernfalls nicht oder nicht mit der erforderlichen Sicherheit erreichbar wäre. So liegt es etwa, wenn zu befürchten ist, dass der Angeklagte sich einer Vorführung durch Fernbleiben von seiner Wohnung entziehen würde (siehe hierzu insgesamt OLG Hamburg, Beschl. v. 04.06.2022 – 2 Ws 72/20, Rn. 21 m. w. N.).

(2) Diesen hohen Verhältnismäßigkeitsanforderungen hielt der Haftbefehl im Zeitpunkt seines Erlasses nicht stand.

Das mildere Mittel der Vorführungsanordnung war zwar für den Termin vom 10.10.2024 von vorne herein aussichtslos und damit gescheitert, weil sich die Beschwerdeführerin nach der Vorankündigung und den Angaben der Verteidigerin nicht an ihrer Wohnanschrift befand und eine Vorführung damit von vorne herein aussichtslos und fehlgeschlagen war. Dass dies für den Termin am 17.10.2024, jedenfalls aber zu den Terminen vom 07.11.2024 und vom 28.11.2024, aber ebenfalls der Fall sein würde, ist nicht ersichtlich.

Nach den bekannt gewordenen Umständen war bei Erlass des Haftbefehls nach Ansicht der Kammer vielmehr sogar hinreichend sicher zu erwarten, dass die Beschwerdeführerin zu dem künftigen Hauptverhandlungstermin am 17.10.2024, jedenfalls aber zu den Terminen vom 07.11.2024 und vom 28.11.2024, sogar von selbst erschienen wäre. Denn sie war schon zu dem ersten Verhandlungstermin – im Gegensatz zu dem Mitangeklagten Bruns – pünktlich erschienen. Nur aufgrund dessen Ausbleibens konnte am 19.09.2024 nicht in der Sache verhandelt werden. Auch hat die an einer festen Wohnanschrift gemeldete Beschwerdeführerin bereits schriftlich ihre Absicht bekundet, zu den weiteren Verhandlungs-terminen „selbstverständlich“ zu erscheinen. Dafür, dass sie insoweit nicht Wort halten würde, ergeben sich für die Kammer vor dem Hintergrund ihres Erscheinens im ersten Hauptverhandlungstermin keine Anhaltspunkte, zumal sie ihre Abwesenheit – unabhängig davon, ob man dies als Entschuldigungsgrund gelten lassen wollte oder nicht – vorab angekündigt und hierfür einen jedenfalls nachvollziehbaren – zeitlich befristeten – Grund genannt hat, der ihre Anwesenheit in Serbien lediglich am 10.10.2024 und am 16.10.2024 erfordert habe.

Aufgrund des Verhaltens der Beschwerdeführerin in der Vergangenheit hätte das Amtsgericht auf ihre künftige Zuverlässigkeit im Umgang mit justiziellen Verpflichtungen schließen müssen, sodass der Erlass eines Haftbefehls zur Erreichung des verfassungslegitimen Zwecks der Anwesenheit der Beschwerdeführerin während weiterer Hauptverhandlungstermine zwar geeignet, aber nicht erforderlich gewesen ist. Da der Erlass des Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO nicht erforderlich war, ist er unverhältnismäßig und der Beschluss materiell unrechtmäßig.“