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StPO III: Verwertbarkeit von ANOM-Chatverläufen, oder: Unverwertbar ==> kein dringender Tatverdacht

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Und dann zum Tagesschluss noch eine Entscheidung zur Verwertbarkeit von ANOM-Chatverläufen als Beweismittel. Ergangen ist der LG Fulda, Beschl. v. 18.04.2024 – 1 Kls 131 Js 194/23 – in einem Verfahren, in dem dem Angeklagten umfangreiche Verstöße gegen das BtMG zur Last gelegten werden. Als Beweismittel stehen neben Zeugenaussagen der polizeilichen Ermittlungsbeamten nur die ANOM-Chatverläufe mit potentiellen Lieferanten zur Verfügung.

Gegen den Angeklagten wurde im Oktober 2023 Haftbefehl erlassen. Das LG hat den jetzt aufgehoben. Es verneint einen dringenden Tatverdacht. Nach seiner Auffassung sind die Chat-Verläufe nicht verwertbar:

„Nach derzeitigem Ermittlungsstand erscheint eine Verwertbarkeit der Anom-Chats als Beweismittel aber zweifelhaft.

….

2. Die Verwertbarkeit der aus der Auswertung des „ANOM“-Chatverkehrs gewonnenen Erkenntnisse werden derzeit von der Rechtsprechung uneinheitlich beurteilt (vgl. OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 2211.2021 — 1 HEs 427/21; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 14.02.2022 — 1 HEs 509/21, 1 HEs 510/21, 1 HEs 511/21, 1 HEs 512/21, 1 HEs 513/21, 1 HEs 514/21 sowie OLG Karlsruhe, Beschluss vom 04.01.2024 — 3 Ws 353/23; a. A. OLG München, vom 19.10.2023 —1 Ws 525/23). Eine Entscheidung des BGH zur Frage der Verwertbarkeit von „ANOM“-Chats existiert noch nicht. Nach Auffassung der Kammer bestehen Zweifel hinsichtlich der Verwertbarkeit der „ANOM“-Chats.

Zwar sieht das deutsche Recht keine ausdrückliche Verwendungsbeschränkung für im Wege der Rechtshilfe aus dem europäischen Ausland erlangte Daten vor.

Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. u.a. Beschluss des BGH vom 02.03.2022, 5 StR 457/21) lässt aufgrund des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ein von den nationalen deutschen Vorschriften abweichendes Verfahren die Verwertbarkeit von im Ausland erhobenen Beweisen grundsätzlich unberührt und verpflichtet die deutschen Gerichte nicht dazu, die Rechtmäßigkeit von originär im Ausland geführten Ermittlungsmaßnahmen anhand der Vorschriften des ausländischen Rechts auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Beweisverwertungsverbote greifen nur in Ausnahmefällen ein, etwa, wenn die im Ausland erhobenen Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ gewonnen wurden oder aber wenn die Ermittlungshandlung der Umgehung nationaler Vorschriften diente. Es muss also ein so schwerwiegender Mangel vorliegen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist. Nur das kann ein deutsches Gericht prüfen und feststellen.

a) Der Drittstaat ist weder der Bundesregierung noch dem Bundeskriminalamt bekannt. Ebenso wenig bekannt ist der Grund für dessen Geheimhaltung durch das FBI. Angeblich sollen die Gerichte dieses Drittstaates Beschlüsse erlassen haben, die eine Auswertung und Weitergabe dieser Daten an das FBI gestatten. Diese behaupteten Beschlüsse existieren zwar nach Auskunft des FBI, sind bislang aber auch nur vom Hörensagen bekannt und können nicht überprüft werden. Durch die Trennung von beweiserhebendem und beweisverwertendem Staat werden bei der Verwertung von ANOM-Chats die Verteidigungsrechte von Beschuldigten erheblich beschränkt. Für einen Beschuldigten besteht bei dieser Sachlage in Ermangelung eines gerichtlichen Beschlusses keine Möglichkeit, den Beschluss zu überprüfen und sich gegen den Beschluss im beweiserhebenden Drittland gerichtlich zur Wehr zu setzen. Dem Beschuldigten ist in diesem Falle jegliche Prüfungs- und Rechtsmittelmöglichkeit hinsichtlich des Eingriffsbeschlusses des Drittlandes versagt. Dies verstößt möglicherweise gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK sowie den ordre public und würde bereits deswegen zu einem Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der aus der Maßnahme gewonnenen Daten führen (vgl. BeckOK StPO/Graf, 50. Ed. 1.1.2024, StPO § 100a Rn. 99d). Auch die Kammer ist aufgrund des derzeitigen Ermittlungsstandes, wie er sich aus den vorgelegten Akten darstellt, nicht in der Lage, die Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze zu überprüfen, insbesondere ob eine Ausnahme vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung besteht.

b) Abschließend ist anzuführen, dass die Kammer nicht verkennt, dass das Strafverfahrensrecht keinen allgemein geltenden Grundsatz kennt, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Beweisverwertungsverbot nach sich zieht. Ob ein solches eingreift, ist vielmehr jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Deshalb handelt es sich bei einem Beweisverwertungsverbot um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Andererseits ist das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes von Belang, das sich vor allem danach bemisst, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Beschuldigten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde.

Vorliegend wird dem Angeschuldigten jegliche Möglichkeit genommen, die Rechtmäßigkeit der Informationsgewinnung in dem unbekannten Drittstaat zu überprüfen und ihm somit jegliche Möglichkeit, zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des auf diesen Informationen beruhenden Verfahrens genommen wird.

Die Bejahung der Verwertbarkeit der Anom-Chats führt im Ergebnis dazu, dass sich deutsche Gerichte allein auf die Behauptung des FBI — einer nicht zur EU gehörenden Polizei- und Geheimdienstbehörde — verlassen und auf jegliche richterliche Überprüfung der Richtigkeit dieser Angaben und der Rechtmäßigkeit der Verfahrensweise verzichten müssen.

Da die Verwertbarkeit der Anorn-Chats nach derzeitigem Verfahrensstand somit fraglich ist, kann hierauf kein dringender Tatverdacht gestützt werden.“

KCanG I: Neue „nicht geringe Menge“ bei Cannabis?, oder: Der Gesetzgeber interessiert uns nicht

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Es war zu erwarten, dass es nicht lange dauern würde, bis die ersten Entscheidungen zum neuen KCanG vorliegen würden. Viele Fragen in den gesetzlichen Neuregelung sind ungeklärt und/oder offen. Ich werde über ergehende Entscheidungen hier natürlich berichten, ich habe dafür extra eine neue Kategorie eingerichtet.

Meine Bitte: Wer interessante Entscheidungen erstritten hat, soll mir die bitte zukommen lassen. Am besten als PDF, ich bereite sie dann auf und stelle sie ein. So kann mit der Zeit ein schöner (?) Überblick entstehen.

Und dann: Zu diesem neuen Thema habe ich dann heute gleich zwei Entscheidungen, die ich vorstelle möchte. Die erste kommt mit dem OLG Hamburg, Beschl. v. 09.04.2024 – 5 Ws 19/24vom OLG Hamburg. Ergangen ist die Entscheidung in einem Haftbeschwerdeverfahren. Der Angeklagte befindet sich aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des AG Hamburg vom 13.06.2023 seit diesem Tag in Untersuchungshaft in der Untersuchungshaftanstalt Hamburg. Mit dem Haftbefehl wird ihm auf der Grundlage des alten Rechts zur Last gelegt, mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemeinschaftlich unerlaubt Handel getrieben zu haben (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 25 Abs. 2 StGB). Das Amtsgericht Hamburg hat den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO) bejaht.

Inzwischen ist der Angeklagte am 04.10.2023 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 25 Abs. 2 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt worde. Zugleich ist die Fortdauer der Untersuchungshaft aus fortbestehenden Haftgründen nach Maßgabe der Verurteilung angeordnet worden. Nach den Feststellungen des AG handelte der Beschwerdeführer mit 72,01 g Marihuana mit einer Gesamtmenge von 10,21g THC. Strafschärfend ist die festgestellte gewerbsmäßige Begehung berücksichtigt worden.

Das LG hat die Berufungen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten mit Urteil vom 18.03.2024 verworfen und zugleich den Haftbefehl aufrechterhalten. Der Angeklagte hat Revision eingelegt.

Mit seiner Haftbeschwerde wendet sich der Angeklagte gegen den Haftfortdauerbeschluss. Nach den Neuerungen durch Inkrafttreten des KCanG am 01.04.2024 sei eine deutlich geringere Strafe nach Durchführung des Revisionsverfahrens zu verhängen. Es sei nicht zu erwarten, dass der sich seit über neun Monaten in Untersuchungshaft befindende Angeklagte diesen Zeitraum überschreitenden Freiheitsstrafe verurteilt würde, weshalb die Haftfortdauer unverhältnismäßig sei. Die Haftbeschwerde hatte keinen Erfolg:

„Das haftbefehlsgegenständliche Geschehen erfüllt den Tatbestand des unerlaubten Handels mit Cannabis (§ 34 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG) sowie die für die Annahme eines besonders schweren Falles normierten Regelbeispiele der Gewerbsmäßigkeit (§ 34 Abs. 3 Nr. 1 KCanG) und des Handels mit einer „nicht geringen Menge“ (§ 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG).

aa) Bei Marihuana handelt es sich um ein Produkt der Cannabispflanze, das nach den Begriffsbestimmungen des KCanG als „Cannabis“ erfasst wird (§ 1 Nr. 4 KCanG).

bb) Das vorgeworfene Tatgeschehen stellt sich auch als „Handeltreiben“ im Sinne der Neuregelung dar. Die in § 34 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG gewählte Bezeichnung der Tathandlung als „Handeltreiben“ unterscheidet sich begrifflich nicht von derjenigen des § 29 1 S. 1 Nr. 1, 3. Var. BtMG; auch hinsichtlich des Verbotszwecks sind Unterschiede nicht ersichtlich. Vielmehr handelt es sich insoweit offensichtlich um eine Übernahme des Regelungsregimes des BtMG, so dass die Grundsätze, die von der Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs des Handeltreibens i.S.d. § 29 Abs. 1 S.1 Nr.1 BtMG entwickelt wurden, auf § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG übertragen werden können (so auch die Regierungsbegründung, vgl. BT-Drs. 20/8794, S. 94).

cc) Entsprechendes gilt für das in § 34 Abs. 3 Nr. 1 KCanG normierte Regelbeispiel der Gewerbsmäßigkeit, so dass auch insoweit davon auszugehen ist, dass gerwerbsmäßig handelt, wer die Absicht hat, sich durch wiederholte Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang zu verschaffen (st. Rspr. zu § 29 3 S. 2 Nr. 1 BtMG, vgl. die Nachweise bei Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG, Rn. 1644 zu § 29 BtMG). Diese Voraussetzungen erfüllt das haftbefehlsgegenständliche Tatgeschehen, insbesondere im Hinblick auf die vorausgegangene Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln vom 22. März 2023 und die vorliegend festgestellten Tatmodalitäten, die beinhalten, dass der Beschwerdeführer und der Mitangeklagte Arslan das Marihuana in insgesamt 54 Gripbeuteln, verteilt auf verschiedene Depots, zum Verkauf bereit hielten.

dd) Zudem ist das in § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG normierte Regelbeispiel des Handels mit Cannabis in „nicht geringer Menge“ vorliegend erfüllt. Der Gesetzgeber hat dabei von der Möglichkeit, den Begriff der „nicht geringen Menge“ cannabisspezifisch zu definieren, keinen Gebrauch gemacht und hat insbesondere keine Konkretisierung durch einen Grenzwert vorgenommen. Stattdessen hat er die Bestimmung eines solchen Wertes ausdrücklich der Rechtsprechung überlassen (vgl. BT-Drs. 20/8704, S. 132). Der Senat geht davon aus, dass der Grenzwert für die nicht geringe Menge Cannabis – wie zuvor unter dem Regelungsregime des BtMG – bei einer Cannabismenge vorliegt, deren Wirkstoffanteil bei mindestens 7,5 g THC liegt. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

(1) Auch unter Geltung des BtMG war die nähere Bestimmung der „nicht geringen Menge“ der Rechtsprechung überlassen. Diese Bestimmung hat der BGH in seinem Urteil vom 18. Juli 1984 – 3 StR 183/84 (NJW 1985, 1404) dahingehend vorgenommen, dass der Grenzwert bei einer Mindestwirkstoffmenge von 7,5 g THC erreicht ist. Auf einen Vorlagebeschluss des Schleswig-Holsteinischen OLG hat der BGH diese Grenzziehung mit Beschluss vom 20. Dezember 1995 – 3 StR 245/95 (NJW 1996, 794) bestätigt und gegen Einwände verteidigt. Diesen Entscheidungen lag die Erwägung zugrunde, dass der Grenzwert für die „nicht geringe Menge“ eines bestimmten Betäubungsmittels stets in Abhängigkeit von dessen konkreter Wirkungsweise und Intensität festzulegen ist. Maßgeblich ist danach zunächst die äußerst gefährliche, gar tödliche Dosis des Wirkstoffs. Lässt sich eine solche Dosis – wie bei Cannabis – sachverständig nicht oder nicht hinreichend sicher feststellen, so errechnet sich der Grenzwert ausgehend von der Menge einer durchschnittlichen Konsumeinheit eines nicht an den Genuss der Droge gewöhnten Konsumenten als ein Vielfaches dieses Wertes, wobei das Maß der Vervielfachung nach Maßgabe der Gefährlichkeit des Stoffes, insbesondere seines Abhängigkeiten auslösenden oder sonst gesundheitsschädigenden Potentials zu bestimmen ist. Der BGH ist insoweit – sachverständig beraten – davon ausgegangen, dass eine durchschnittliche Konsumeinheit Cannabis bei einer THC-Menge von 15 mg anzusetzen ist. Als Maß der Vervielfachung dieses Wertes hat der BGH in den vorgenannten Entscheidungen den Faktor 500 gewählt, wobei der Wahl dieses Faktors ein Abgleich mit der – als weitaus höher angenommenen und mit dem Faktor 150 bemessenen – Gefährlichkeit von Heroin zugrunde liegt (vgl. im Einzelnen BGH, Urteil vom 18. Juli 1984 – 3 StR 183/84, unter I.1.d) der Urteilsgründe). Dies führt zu einer Menge von 500 x 15 mg, mithin 7,5 g. Soweit der BGH sich zur Bemessung des Faktors der Vervielfachung auf Fragen der Gefährlichkeit gestützt hat, ist er im Anschluss an den Beschluss des BVerfG vom 9. März 1994 – 2 BvL 43/92 (BVerfGE 90, 145 ff.) von Folgendem ausgegangen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Dezember 1995 – 3 StR 245/95, Rn. 16 bis 18):

„Danach wird eine körperliche Abhängigkeit von Cannabis wohl nicht hervorgerufen; die unmittelbaren gesundheitlichen Schäden bei mäßigem Genuss werden als eher gering angesehen. Jedoch wird die Möglichkeit einer psychischen Abhängigkeit kaum bestritten, wenn auch das Suchtpotential der Cannabisprodukte zu Verhaltensstörungen, Lethargie, Gleichgültigkeit, Angstgefühlen, Realitätsverlust und Depressionen führen; gerade das vermag die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen nachhaltig zu stören. […] Hinzu kommen die durch Cannabisgebrauch für die Sicherheit des Straßenverkehrs entstehenden Gefahren. […] Neben typischen Rauschverläufen werden […] nach gesicherten Erkenntnisses der medizinischen Wissenschaft auch atypische Rauschverläufe beschrieben „mit psychopathologischen Störungen wie z.B. Angst, Panik, innere Unruhe, Verwirrtheit, Halluzinationen, Größenverzerrungen“, […] die also auch schon bei einem einzigen Rausch auftreten können“.

Dieser vom BGH vorgenommenen Grenzziehung für die „nicht geringe Menge“ Cannabis i.R.d. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG ist die Instanzrechtsprechung praktisch ausnahmslos gefolgt, so dass bislang von einer insoweit gefestigten Rechtslage ausgegangen werden konnte.

(2) Der Senat sieht keinen Anlass, durch die Neuregelung in § 34 KCanG Veränderungen an dieser Grenzziehung vorzunehmen. Die Regelung in § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG knüpft hinsichtlich des Wortlauts ohne jegliche Änderungen an die Regelung in § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG an. Auch das Ziel der Regelung entspricht derjenigen des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG. Die Intention des Gesetzes besteht ausweislich der Regierungsbegründung darin, eine kontrollierte und kontrollierbare Qualität der Cannabisprodukte zum Schutz von Konsumenten und so insgesamt einen verbesserten Gesundheitsschutz zu erreichen. Hierzu sollen der illegale Markt eingedämmt sowie die cannabisbezogene Aufklärung und Prävention gleichsam mit dem Kinder- und Jugendschutz gestärkt werden (vgl. BT-Drs. 20/8704, S. 1). Das Ziel der strafschärfenden Berücksichtigung des Handels mit einer nicht geringen Menge Cannabis liege darin, dass hierdurch „insbesondere gefördert wird, dass Cannabis in einem nicht geringen Ausmaß illegal in den Verkehr kommt bzw. in ihm bleibt“. Es geht mithin – wie im Falle des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG – um die Verhinderung eines erhöhten Gefahrenpotentials, das sich aus der Ansammlung einer erhöhten (und unkontrollierten) Drogenmenge ergibt (vgl. Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG, Rn. 35 zu § 29a BtMG m.w.N.).

Wohl lässt sich dem Gesetz entnehmen, dass der Gesetzgeber den Handel mit Cannabis in nicht geringer Menge nunmehr für weniger strafwürdig hält als vormals unter Geltung des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, denn dies folgt bereits daraus, dass die Mindeststrafe von vormals einem Jahr auf nunmehr drei Monate Freiheitsstrafe abgesenkt wurde. Daraus ergeben sich aber keine Folgerungen für die Frage, ab welcher Mengengrenze der Handel mit Cannabis der gegenüber dem Grundtatbestand verschärften Strafandrohung des § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG unterliegen soll.

Soweit die Gesetzesbegründung die Erwartung an die Rechtsprechung formuliert, dass der konkrete Wert einer nicht geringen Menge „aufgrund der geänderten Risikobewertung zu entwickeln“ sein werde, und dass man „im Lichte der legalisierten Mengen an der bisherigen Definition der nicht geringen Menge nicht mehr festhalten“ könne, der Grenzwert also im Ergebnis „deutlich höher liegen [müsse] als in der Vergangenheit“ (BT-Drs. 20/8704, S. 132), folgt der Senat dem nicht. Die Regierungsbegründung verhält sich nicht klar dazu, worin die „geänderte Risikobewertung“ von Cannabis liegt. Wie oben ausgeführt, beruht die vom BGH vorgenommene Festlegung der Grenze auf 7,5 g THC auf einer bestimmten, auch sachverständig vermittelten Einschätzung der Menge einer Konsumeinheit und der Gefährlichkeit von Cannabis. Dass sich an diesen wissenschaftlichen Grundlagen der Einschätzung etwas geändert hätte, ist weder dem KCanG selbst, noch den zur Auslegung heranzuziehenden Gesetzesmaterialien zu entnehmen. Auf die (unveränderten) Gesundheitsrisiken weist die Regierungsbegründung schließlich auch hin (BT-Drs. 20/8704, S. 68):

„Wie bei anderen psychoaktiven Substanzen auch, ist der Konsum von Cannabis mit gesundheitlichen Risiken, wie beispielsweise cannabisinduzierte Psychosen, verbunden. […] Beim Konsum von Cannabis sind junge Altersgruppen besonderen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Solange die Gehirnentwicklung noch nicht vollständig abgeschlossen ist, kann die Gedächtnisleistung nachhaltig beeinträchtigt werden. Dies gilt insbesondere bei einem früh einsetzenden regelmäßigen Konsum und bei einem Konsum von Cannabis mit einem hohen THC-Gehalt. Zudem bringt regelmäßiger Konsum im jungen Alter besondere gesundheitliche Risiken mit sich“.

Auch „im Lichte der legalisierten Mengen“ (BT-Drs. 20/8704, S. 132) muss der durch den BGH zum BtMG wirkstoffbezogen festgelegte Grenzwert von 7,5 g THC für die „nicht geringe Menge“ an Cannabis nicht geändert, gar erhöht werden, um die mit dem KCanG bezweckte Entkriminalisierung des Besitzes von Cannabis – bis zu einer Menge von 25 g bzw. 50 g Cannabis (§ 3, § 1 Nr. 16 KCanG) – zu erreichen. Soweit argumentiert wird, dass die Grenze zur nicht geringen Menge einen Abstand zu den erlaubten Besitzmengen (§ 34 Abs. 1 Nr. 1 KCanG) wahren müsse, ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber die vorbenannten Besitzmengen gerade nicht wirkstoffbezogen festgelegt hat. In Anbetracht der vorkommenden Variationsbreite beim Wirkstoffgehalt werden in der Praxis regelmäßig (strafbare) Besitzmengen vorkommen, deren THC-Gehalt den Grenzwert von 7,5 g THC unterschreiten, so dass gegen die hier vorgenommene Grenzziehung nicht eingewandt werden kann, dass der Besitz einer gerade eben strafbaren Menge Cannabis – also geringfügig mehr als 60 g – stets auch das Regelbeispiel des § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG verwirklicht.

Das KCanG bezweckt zudem lediglich, den Konsumenten zu privilegieren. Demgegenüber bleibt das Handeltreiben mit Cannabis strafbar, ohne dass es hierfür einer Mindestmenge bedarf.

Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass sich die zitierte Erwartung des Gesetzgebers, dass eine Neufestlegung des Grenzwerts geboten sei, die zudem zu einem deutlich höheren Wert führen müsse, keinen hinreichenden Niederschlag im Gesetzeswortlaut gefunden hat. Sie findet sich weder bei der Formulierung des Regelbeispiels des Handels mit einer „nicht geringen Menge“ wieder, noch hat der Gesetzgeber die Kriterien für die Festlegung des Grenzwerts neubestimmt, oder gar einen Grenzwert selbst vorgegeben. Vor diesem Hintergrund erschiene jede Neufestsetzung des Grenzwerts unter Ansatz eines höheren Multiplikators willkürlich. Eine Erhöhung des Grenzwertes liefe dem Ziel, den Markt für illegal gehandelte Cannabisprodukte einzudämmen, zuwider.

4. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Fluchtgefahr ist gegeben, wenn bei Würdigung der Umstände des Falles aufgrund bestimmter Tatsachen eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich – zumindest für eine gewisse Zeit – dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde am Verfahren teilnehmen. So liegt es hier. Bereits in der Straferwartung liegt ein erheblicher Anreiz zur Flucht für den Beschwerdeführer, dem mit Blick auf den gemäß § 34 Abs. 3 KCanG eröffneten Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren (weiterhin) eine Straftat von einigem Gewicht vorgeworfen wird. Dabei wirkt sich erschwerend aus, dass dem Beschwerdeführer die Verwirklichung zweier Regelbeispiele zur Last gelegt wird. Er hat mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen, zumal er erst am 22. März 2023 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Kokain) in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten mit Aussetzung zur Bewährung verurteilt worden ist. Die in dem vorgenannten Verfahren erlittene, knapp viermonatige Untersuchungshaft hat den Beschwerdeführer zudem offenbar nicht nachhaltig beeindruckt. Der Fluchtanreiz erhöht sich zudem dadurch, dass der Beschwerdeführer hinsichtlich der Vorverurteilung den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zu befürchten hat.

Dem aus der Straferwartung folgenden Fluchtanreiz stehen keine hinreichend belastbaren fluchthemmenden Umstände entgegen. Der recht junge Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos und verfügt über keine nennenswerten sozialen Bindungen. Er lebt ohne festen Wohnsitz in Deutschland. Das Asylverfahren ist eingestellt worden. Nach Auslaufen der Aufenthaltsgestattung bis zum 8. Juni 2023 hat das Amt für Migration auch erst aufgrund der erbetenen Auskunftserteilung an das Landgericht eine Duldung bis zum 27. Mai 2024 erteilt. Ein Interesse an der Legalisierung seines Aufenthaltes hat der Beschwerdeführer eigeninitiativ nicht gezeigt. Im Falle der Haftentlassung ist daher auch eher mit seinem Untertauchen zu rechnen.

5. Vor diesem Hintergrund kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden (§ 116 StPO).

6. Die Fortdauer der – mittlerweile seit nahezu zehn Monaten vollzogenen – Untersuchungshaft steht nach alledem auch nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 S. 1 StPO). Insbesondere liegt nicht nahe, dass die Dauer der Untersuchungshaft die zu erwartende – unbedingte – Freiheitsstrafe annährend erreicht oder übersteigt.“

Dazu nur kurz zwei Fragen:

1. Man hätte es auch kürzer machen können bzw. man fragt sich, warum das OLG so viel schreibt. Warum hat man es sich nicht einfach gemacht und nur geschrieben: „Was der Gesetzgeber will und möchte, interessiert uns nicht. Es bleibt bei der Festlegung der „geringen Menge“ alles beim Alten.“

Man wird sehen, was der BGH macht, denn auf ihn und seine Entscheidung wird es ankommen. Bis dahin wird es in der Frage ein fröhliches „Hauen und Stechen“ geben.

2. Genau so schlimm finde ich den labidaren Satz des OLG zur Verhältnismäßigkeit. Festgesetzt ist eine Freiheitsstrafe von 16 Monaten, die sich, da nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, nicht mehr erhöhen kann (Stichwort: Verschlechterungsverbot). Davon sind rund 10 Monate bereits in U-Haft „vollstreckt“. Es bleibt also noch eine Reststrafe von maximal sechs Monaten. Und da meint das OLG tatsächlich: „nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe“. Wirklich? Irgendwie scheint mir da jedes maß verloren gegangen zu sein. Ich bin froh, dass ich Mitglied in einem solchen Senat nicht bin und auch nicht war.

Im Übrigen ist klar, was mit der Revision des Angeklagten passieren wird. Man wird sie verwerfen.

StPO III: Rechtshilfe bei der Haftbefehlsverkündung, oder: Wenn das ersuchte Gericht „nicht darf“

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Und dann als letzte Entscheidung noch der AG Bautzen, Beschl. v. 26.02.2024 – 47 Gs 123/24. Mit dem Beschluss hat das AG ein Rechtshilfeersuchen des AG Oranienburg zur Verkündung eines Haftbefehls abgelehnt.

Das AG Oranienburg hatte gegen den Beschuldigten am 02.10.2023 gemäß § 230 Abs. 2 StPO Haftbefehl erlassen, da dieser in einem dort anhängigen Strafverfahren zu einer Hauptverhandlung am 20.09.2023 wegen des Verdachts des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte u.a. unentschuldigt ferngeblieben ist. Das AG hat das Ersuchen, dem Beschuldigten, der sich in anderer Sache in Haft in der JVA B. befindet, den Haftbefehl zu verkünden, gemäß § 158 Abs. 2 S. 1 GVG zurückgewiesen:

„Grundsätzlich besteht die Pflicht des Amtsgerichts Bautzen zur Leistung von Rechtshilfe in Strafsachen nach §§ 156, 157 Abs. 1 GVG. Das Ersuchen eines nicht vorgesetzten Gerichts ist jedoch abzulehnen, wenn die vorzunehmende Handlung nach dem Recht des ersuchten Gerichts verboten ist, § 158 Abs. 2 Satz 1 GVG. Das Amtsgericht Bautzen ist – sich dem OLG Jena und dem OLG Frankfurt a.M. (Beschluss vom 23.06.1988 – 3 Ws 575/88) anschließend – der Auffassung, dass die ersuchte Rechtshilfe unzulässig ist, da die erbetene Amtshandlung (derzeit) ausschließlich dem ersuchenden Amtsgericht Oranienburg als dem nach §§ 115 Abs. 1, 126 Abs. 1 StPO zuständigen Gericht zugewiesen ist. Nach § 115 Abs. 1 StPO ist der Haftbefehl dem Beschuldigten von dem zuständigen Gericht zu verkünden. Dies ist das Gericht, das den Haftbefehl erlassen hat oder nach der Anklageerhebung mit der Sache befasst ist. Die Übertragung dieser Zuständigkeit im Wege der Rechtshilfe ist nach Ansicht des Amtsgerichts Bautzen unzulässig, da die §§ 115, 115a StPO eng auszulegende spezielle Zuständigkeitsnormen sind, die (insbesondere auch) dem Schutz der Rechte des Beschuldigten dienen. Dies folgt daraus, dass das nächste Amtsgericht im Sinne des § 115a StPO nur eine eingeschränkte Prüfungs- und Entscheidungkompetenz hat. Nichts anderes würde letztlich auch für das – mit der zugrundeliegende Sache nicht vertraute – Rechtshilfegericht gelten, dem die Zuständigkeit nach § 115 StPO übertragen werden würde. Denn der Kenntnismangel des Rechtshilfegerichts ermöglicht eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Sache und den persönlichen Umständen des Beschuldigten nur sehr eingeschränkt. Zudem wäre dem Beschuldigten bei einer Verkündung des Haftbefehls im Wege der Rechtshilfe nach § 115 StPO, anders als bei § 115a StPO (dort vorgesehen in Abs. 3), das Recht genommen, dem mit der Sache vertrauten Gericht bei der Vorführung seine Argumente vorzutragen. Er wäre dazu auf den Rechtsbehelf der Haftbeschwerde oder auf das Haftprüfungsverfahren beschränkt.

Da sich der Verfolgte derzeit in Strafhaft (Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe) befindet und nicht vorläufig festgenommen wurde, laufen auch keine Vorführungsfristen, die (derzeit) eine Vorführung nach § 115a StPO vor das Amtsgericht Bautzen rechtfertigen würden. Zudem ist für den Verfolgten Überhaft notiert. Bei der zu erwartenden Haftentlassung am 18.03.2024 kann die Vollstreckung der Haft noch im Anschluss eingeleitet werden. Hierfür ist die derzeitige Vorführung und Verkündung des Haftbefehls jedoch nicht erforderlich.“

Haft III: Unüberwachter Besuch beim Mitbeschuldigten, oder: Verteidiger/Rechtsanwalt unter Generalverdacht?

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Und dann zum Tagesschluss noch der OLG Hamburg, Beschl. v. 28.02.2024 – 1 Ws 10/24. Mit dem Beschluss habe ich meine Probleme, und nicht nur ich, sondern der Kollege, der mir den Beschluss geschickt hat, der Kollege Fülscher aus Kiel, auch.

Der Kollege ist Verteidiger in einem noch laufenden Verfahren vor dem LG Hamburg wegen Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Zunächst ist in dem Verfahren gegen den Mandanten des Kollegfen und dessen Bruder, im Folgenden ist das der Angeklagte, gemeinsam ermittelt worden. Später hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Mandanten des Kollegen abgetrennt. Der Angeklagte/Bruder befindet sich seit November 2020 wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft befindet und er ist am 19.o1.2024 – noch nicht rechtskräftig – zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden.

Kurz vor Abschluss der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten hat der Kollege beantragt, den Angeklagten gemeinsam mit seinem Mitverteidiger ohne Überwachung in der JVA sprechen zu dürfen. Er hat die Erteilung einer entsprechenden Besuchserlaubnis beantragt. Diesen Antrag hat der Vorsitzende der Strafkammer abgelehnt.

Dagegen die Beschwerde, die das OLG zurückgewiesen hat:

„a) Einem unüberwachtem Besuch bei dem Angeklagten durch die Verteidiger des ehemaligen Mitbeschuldigten pp. steht bereits das Haftstatut, das anordnet, dass Besuche zu überwachen sind, entgegen.

aa) Das Haftstatut ist rechtmäßig erlassen worden uno ist aufgrund der Besonderheiten im hiesigen Fall auch nach Durchführung der Hauptverhandlung zur Vermeidung von Verdunklungshandlungen weiterhin erforderlich.

(1) Über die bloße Freiheitsentziehung hinausgehende Beschränkungen auf der Grundlage von § 119 Abs. 1 StPO sind nur zulässig. wenn für eine Gefährdung des Haftzwecks konkrete Anhaltspunkte vorliegen (BVerfG, Beschl. v. 30. Oktober 2014 – 2 BA 1513/14, juris Rn. 18; OLG Celle, Beschl. v. 22. Februar 2019 – 3 Ws 67/19, juris Rn. 10 f.; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 26. September 2018 – 1 Ws 207/18, juris Rn. 3; KG Berlin, Beschl. v. 12. August 2013 – 4 Ws 102-103/13, juris Rn. 11). Hierbei muss der zu schützende Haftzweck nicht gleichzeitig nach Lage des Falles einen Haftgrund bilden (HansOLG in Bremen, Beschl. v. 10. Mai 2022 – 1 Ws 30/22, juris Rn. 13 m.w.N.). Eine Anordnung kann daher auch dann auf Verdunkelungsgefahr gestützt werden, wenn die Untersuchungshaft alleine auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt wird.

Maßgeblich für eine Anordnung nach § 119 Abs. 1 StPO ist, ob bestimmte Umstände es nach einer Wahrscheinlichkeitsprognose nahelegen, dass der Beschuldigte ohne Beschränkungsanordnung im Untersuchungshaftvollzug Handlungen begehen könnte, die den Haftzwecken zuwiderlaufen.

Bei Tatbeteiligten gilt im Hinblick auf eine Verdunkelungsgefahr der Erfahrungssatz. dass der unkontrollierte Informationsaustausch untereinander die Gefahr der Erschwerung oder sogar Vereitelung der Wahrheitsfindung mit sich bringt. Absprachen zwischen Mittätern im Hinblick auf das Vorgehen im Prozess, insbesondere hinsichtlich des Einlassungsverhaltens, liegen jedenfalls in den Fällen nahe. in denen die Angeklagten nicht geständig sind (vgl. KG, Beschl. v. 7. August 2014 – 1 Ws 52/14, NStZ-RR 2014, 377; Beschl. v. 12. August 2013 – 4 Ws 102-‚103/13, StV 2014, 229 und Beschl. v. 7. Februar 2012 – 4 Ws 11/12, juris Rn. 31; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., § 119 StPO, Rn. 7; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 119 R1. 42). Hinweise auf konkrete Vorhaben des Gefangenen sind dafür nicht erforderlich. Zur Begründung der Gefahr können vielmehr auch allgemeine kriminalistische Erfahrungen, wie die Art der dem Inhaftierten zur Last gelegten Taten und ihrer Begehung, herangezogen werden (KG Berlin, Beschl. v. 7. August 2014 – 1 Ws 52/14, juris Rn. 6; Krauß in BeckOK StPO, 50. Edition, § 119 Rn. 12 m.w.N.; Lind/Gärtner in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 119 Rn. 21). Dies gilt insbesondere bei Tätergruppen, die im Rahmen der Begehung der wahrscheinlichen Straftaten gezeigt haben, gegen gesetzliche Regeln geplant, wiederholt und systematisch zu verstoßen. Relevant sind hiernach insbesondere Fälle der organisierten Kriminalität (Krauß a.a.O.).

Dementsprechend ist gerade im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität die Anordnung von Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 Satz 1 StPO oftmals geboten, da erfahrungsgemäß damit zu rechnen ist, dass ein Beschuldiger auf andere. namentlich auf Beteiligte der Betäubungsmittelgeschäfte. unlauter einwirken wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30. Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 -, Rn. 19, BeckRS 2014, 59292).

Nach Durchführung der Hauptverhandlung in der letzten Tatsacheninstanz kommen Beschränkungen wegen Verdunkelungsgefahr regelmäßig nur noch in Betracht. wenn im Hinblick auf eine mögliche Aufhebung des Urteils der Beweiswert der gewonnenen Beweismittel durch Verdunkelungshandlungen noch gefährdet sein kann (Krauß, a a.O.; OLG Stuttgart, Beschl. v. 8. Februar 2022 – 1 Ws 21/22, Rn. 11, BeckRS 2022, 2423: OLG Köln, Beschl. v. 15. März 2021 – 2 Ws 133/21, BeckRS 202‘ , 22217).

(2) Gemessen hieran liegen weiterhin – auch nach erstinstanzlicher Verurteilung – hinreichend konkrete tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass ohne die Beschränkungsanordnungen eine unlautere Einflussnahme auf die Wahrheitsermittlung durch den Angeklagten zu besorgen ist.

Der Charakter der wahrscheinlichen Straftaten und die Art und Weise der Tatbegehung lassen darauf schließen, dass der Angeklagte eine hohe Bereitschaft und Fähigkeit mit sich bringt, Regeln zu missachten und zu umgehen (dazu nachfolgend (a)). Aktuell besteht zudem unverändert eine Sach- und Beweislage fort, bei der der Angeklagte deswegen Anlass zu rechtswidrigen Verdunkelungsmaßnahmen hat, weil diese auch weiterhin erfolgreich sein können (dazu nachfolgend (b), vgl. dazu auch Senat. Beschl. v. 4. Mai 2023 – 1 Ws 29/23).

(a) Bereits der Tatvorwurf der bandermäßigen Begehung begründet die hohe und reale Gefahr der Abstimmung eines Aussageverhaltens. Gegen den Angeklagten besteht der dringende Verdacht, sich im Rahmen des ihm vorgeworfenen Tatgeschehens in planvoll-professioneller Weise hochkonspirativ in Bandenstrukturen bewegt und reit den anderen Tatbeteiligten abgestimmt und organisiert zu haben. Hiernach steht nach Lage des vorliegenden Einzelfalles zu befürchten, dass die ein gespielten Tat- und Kommunikationsmuster der Beteiligten für eine rechtswidrige Abstimmung im Hinblick auf das vorliegende Verfahren nutzbar gemacht werden könnten.

Hinzu kommt, dass das Wirken des Angeklagten schon während der Tatbegehung zielgerichtet auf Verdunkelung ausgerichtet war. Der Angeklagte und die mitangeklagten Bandenmitglieder sowie weitere Tatbeteiligten verhielten sich hochkonspirativ. Sie kommunizierten miteinander mit Krypto-Handys über die Kommunikationsplattformen EncroChat und SkyECC. Angesichts der schon während der Tatbeteiligung vom Angeklagten vorgenommenen intensiven und professionellen Bemühungen zur Vermeidung der Wahrheitsfindung durch Ermittlungsorgane steht zu befürchten, dass er ihm beim Vollzug der Untersuchungshaft gewährte Freiräume auch dazu nutzen würde, Verdunkelungshandlungen vorzunehmen.

Hinzu kommt, dass sich der Angeklagte im Rahmen der nunmehr gut dreijährigen Untersuchungshaft bereits diverse Disziplinarverstöße zuschulden kommen lassen und Verdunklungshandlungen vorgenommen hat. So wurden am 13. April und am 28. November 2022 sowie am 30. August 2023 und am 15. Januar 2024 jeweils Mobiltelefone – zuletzt sogar drei Stück – im Haftraum des Angeklagten aufgefunden, mit denen er nachgewiesener Weise auch Kontakt zu seinem Bruder, dem Mandanten des Beschwerdeführers, hatte. Diesbezüglich nimmt der Senat Bezug auf die ausführlichen Darlegungen im landgerichtlichen Beschluss

(b) Das am 19. Januar 2024 gegen den Angeklagten ergangene Urteil des Landgerichts steht der Annahme der Verdunkelungsgefahr nicht entgegen. Es ist noch nicht rechtskräftig. Der Angeklagte hat dagegen ebenso wie mindestens acht der weiteren zehn des bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verdächtigen Mitangeklagten Revision eingelegt.

Im Falle erfolgreicher Revision und einer daraus resultierenden notwendigen zweiten Tatsachenverhandlung ist nicht von einer hinreichenden Beweissicherung durch das erste Tatgericht auszugehen. Bei der hier bestehenden, besonderen Beweiskonstellation ist der Beweiswert der gewonnenen Beweismittel durch Verdunkelungshandlungen noch gefährdet.

Es besteht nach wie vor die nicht nur theoretisch mögliche, sondern vielmehr reale Gefahr von verfahrensrelevanten Absprachen der Angeklagten untereinander sowie mit sechs weiteren ehemaligen Mitbeschuldigten, gegen die die jeweiligen Ermittlungsverfahren abgetrennt wurden. Ausweislich des angefochtenen Beschlusses hat sich der Angeklagte schweigend verteidigt. Absprachen sind daher insbesondere vor dem Hintergrund, dass noch Hauptverfahren gegen ehemalige Mitbeschuldigte – wie z.B. den Mandanten des Beschwerdeführers – durchzuführen sind, zu befürchten.

Dass sich ein Großteil der Beweisführung auf die Auswertung vorhandener EncroChat- und SkyECC-Kommunikation gründet, lässt eine reale Verdunklungsgefahr nicht entfallen. Die Kommunikation per Krypto-Handy diente naturgemäß der Abwicklung der Geschäfte, beinhaltete aber naheliegend nicht zuvor gefasste, persönlich getroffene Bandenabsprachen. Nicht zuletzt bedürfen die ausgewerteten Kommunikationen via EncroChat und SkyECC hinsichtlich ihres Aussagegehalts einer Bewertung.

bb) Die Beschränkungen im Haftstatut erweisen sich auch unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung, der schutzwürdigen Interessen des Beschwerdeführers sowie des Zeitablaufs von gut drei Jahren als weiterhin verhältnismäßig.

(1) Sie sind zur Abwehr der weiterhin bestehenden Gefahr von Verdunkelungshandlungen des Beschwerdeführers aus der Haft heraus erforderlich. Auch eine teilweise Aufhebung dieser Beschränkungen kommt nicht in Betracht. Eine Modifikation des Haftstatuts dahingehend. dass Besuche der Verteidiger seines ehemals mitbeschuldigten Bruders ohne Überwachung genehmigt werden, ließe die Gefahr von Verdunkelungshandlungen unmittelbar aufleben. Der Gefahr von Verdunkelungshandlungen kann nur begegnet werden, wenn die Beschränkungen in ihrer Gesamtheit aufrechterhalten bleiben.

(2) Die Beschränkungen erweisen sich auch als zumutbar. Dabei verkennt der Senat nicht das erhebliche Ausmaß der mit den Beschränkungen -insbesondere in der Summe – verbundenen Beeinträchtigungen der Grundrechte des Angeklagten aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Empfang von Besuchen nicht gänzlich untersagt worden, sondern lediglich von der Erteilung einer vorangegangenen Erlaubnis abhängig gemacht worden ist. Besuche sind überwacht möglich.

b) Ein Anspruch auf Genehmigung eines unüberwachten Besuchs ergibt sich auch nicht aus der Stellung des Beschwerdeführers und seines Mitverteidigers als Verteidiger eines ehemaligen Mitbeschuldigten und der für eine sogenannte Sockelverteidigung eventuell förderlichen Abstimmungen.

Dabei kann dahinstehen, ob und unter welchen Voraussetzungen auch ein berechtigtes Interesse an einer Sockelverteidigung (vgl. hierzu etwa Willnow in Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl. 2023. vor § 137 Rn. 9 m.w.N.) Grenzen unterliegt.

Denn jedenfalls führt ein solches Interesse nicht dazu, einem Verteidiger jenseits des Umgangs mit dem von ihm vertretenen Mandanten Sonderrechte auch im Umgang mit Dritten – sei es auch Mitbeschuldigter, – zuzubilligen.

(1) Zu den unabdingbaren Voraussetzungen eines Verteidigungsverhältnisses gehört ein ungehinderter Verkehr zwischen dem Verteidiger und dem von ihm vertretenen Angeklagten. Der Verkehr zwischen Verteidiger und Angeklagtem ist daher. um eine freie und effektive rechtsstaatlich gebetene Verteidigung einschließlich des dafür erforderlichen Vertrauensverhältnisses und dadurch ein faires Verfahren zu gewährleisten (vgl. etwa BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7. März 2C12 – 2 BA 988/10 -. Rn. 30), von jeder Behinderung und jeder Erschwerung freigestellt. Unüberwachter mündlicher und schriftlicher Verkehr ist gewährleistet, auch wenn der Angeklagte inhaftiert ist, vgl. § 148 StPO. Der Verteidiger hat ein dabei eigenes Recht auf ungehinderten Verkehr mit seinem inhaftierten Mandanten

(2) Diese Vorgaben betreffen indes. lediglich das Verhältnis des Verteidigers zu dem von ihm vertretenen Mandanten. Das in § 148 Abs. 1 StPO zum Tragen kommende Ziel der „völlig freien Verteidigung“ (vgl. Willnow a.a.O. § 148 Rn. 4) weist insoweit einen besonderen Regelungscharakter auf, als es keine Abwägung mit Belangen der Allgemeinheit an wirksamer Strafverfolgung und Missbrauchsprophylaxe vornimmt, sondern für einen bestimmten Bereich den Belangen effektiver Verteidigung den grundsätzlichen Vorrang einräumt. Wortlaut und Sinn der Vorschrift nach kann die damit einhergehende Unbeschränktheit nur den Kern des strafverfahrensrechtlichen Mandatsverhältnisses zwischen Verteidiger und Mandanten betreffen (vgl. auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 13. Oktober 2009 – 2 BvR 256/09 -, juris, Rn. 20 ff.) und darf nicht verallgemeinert werden.

Weder aus einer entsprechenden Anwendung des § 148 StPO noch sonst aus Gründen des fairen Verfahrens kann dabei ein Recht des Verteidigers auf eine unbeschränkte oder sonst privilegierte, insbesondere unüberwachte Kommunikation mit einem Mitbeschuldigten oder Zeugen folgen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt. StPO 66. Aufl., § 148 Rn. 2 m.w.N.: Jahn in: Löwe-Rosenberg. StPO, 27. Aufl., § 148 StPO, Rn. 21: OLG Schleswig. Beschl. v. 6. Dezember 2001 – 1 Ws 461/01, juris). Voraussetzung eines fairen Verfahrens und einer wirksamen Verteidigung ist es insbesondere nicht, dass ein Verteidiger Ermittlungsbefugnisse erhält. die nach allgemeinem Recht nicht bestehen. Unterliegen Besuche eines Mitbeschuldigten aufgrund einer rechtmäßigen Anordnung der Überwachung, ist hiernach auch der Verteidiger daran gebunden. Dem Interesse an einer Abstimmung mit Mitbeschuldigten wird dadurch genügt, dass den Verteidigern gemeinsame Gespräche und Abstimmungen des Verteidigungsverhaltens untereinander namentlich im Rahmen einer Sockelverteidigung in den durch das Gesetz gezogenen Grenzen (vgl. nur BGH, Urt. v. 3. Oktober 1979 – 3 StR 264,79, BGHSt 29. 99. 102 ff.) nicht verwehrt sind (Senat, a.a.O., m.w.N.).“

Wie gesagt: Ich habe mit dem Beschluss Probleme. M.E. ist er „grenzwertig.“ Denn:

Das OLG berücksichtigt zu wenig, dass „Mitbeschuldigter“ auf den Mandanten des Kollegen so nicht mehr zutrifft, denn dessen Verfahren ist schon länger abgetrennt.

Zudem: Was soll Ihr Mandat des Kollegen in einem anderen Verfahren, in dem ja ein Urteil vorliegt, noch verdunkeln? Es fehlen zudem konkrete Ausführungen im Hinblick darauf, ob Ihr Mandant verdunkeln würde/hat – EncroChat ist ein Totschlagargument – und vor allem: Ich meine, das OLG hätte sich mal etwas mit dem „Organ der Rechtspflege“ befassen müssen. Welche konkreten Anhaltspunkte hat man, dass der Kollege verdunkelt. So stellt man im Grunde, wenn nicht „Verteidiger“ zumindest aber den Kollegen unter eine Genralverdacht, der an keiner Stelle durch Tatsachen untermauert wird. Ich denke, die gibt es auch nicht.

Haft II: Verhältnismäßige einstweilige Unterbringung?, oder: Betreuungsrechtliche Unterbringung

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In der zweiten Haftentscheidung geht es um die einstweilige Unterbringung (§ 126a StPO) eines Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft hatte die beantragt, das LG hat abgelehnt. Die dagegen gerichteten Beschwerde hat das OLG Hamm mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 06.02.2024 – 5 Ws 14/24 – zurückgewiesen. Nach seiner Auffassung wäre die einstweilige Unterbringung des Angeklagten, bei dem bereits eine länger andauernde betreuungsrechtliche Unterbringung (§ 1831 BGB) existiert, unverhältnismäßig:

„3. Allerdings fehlt es für die Anordnung der einstweiligen Unterbringung an der Verhältnismäßigkeit, da der Schutz der Allgemeinheit vor der Beschuldigten derzeit durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann. Grundsätzlich bedarf es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung vor einer einstweiligen Unterbringung einer näheren Prüfung, ob einer verbliebenen Gefährlichkeit nicht durch eine Betreuung nebst Unterbringung entgegengewirkt werden kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8. 12. 2011 ? 2 BvR 2181/11 = NJW 2012, 513, beckonline). Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kommt nur dann als letztes Mittel in Betracht, wenn (therapeutische und sichernde) Maßnahmen außerhalb des Maßregelvollzugs keinen ausreichend zuverlässigen Schutz vor der Gefährlichkeit des Täters bieten. Ist der Betroffene bereits auf anderer Rechtsgrundlage untergebracht, ist zudem erforderlich, dass andere organisatorische Möglichkeiten der außerstrafrechtlichen Maßnahmen zur Einschränkung der Gefährlichkeit ausgeschöpft werden. Strafrechtliche Maßnahmen können erst als letztes Mittel in Betracht kommen (vgl. BGH, Urteil vom 04.08.1998 – 5 StR 223/98 = NStZ-RR 1998, 359, beckonline). Bei schon vorliegender Heimunterbringung sind vor einer Unterbringung im Maßregelvollzug zunächst andere organisatorische und außerstrafrechtliche Mittel auszuschöpfen (vgl. Fischer, a.a.O., § 63, Rn. 49). Es muss geprüft werden, ob eine (einstweilige) Unterbringung im Maßregelvollzug unterbleiben kann, weil andere, weniger einschneidende organisatorische Vorkehrungen innerhalb der geschlossenen Pflegeeinrichtung einen genügenden Schutz für andere Heimbewohner bieten und die ausgehende Gefahr für Mitpatienten in vertretbarer Weise abgemildert werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 04.08.1998 – 5 StR 223/98 = NStZ-RR 1998, 359, beckonline).

Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände ist es derzeit noch unverhältnismäßig, die Beschuldigte einstweilen forensisch unterzubringen; im Einzelnen:

a) Zunächst ist hier zu berücksichtigen, dass die erheblichen Anlasstaten vom 20.10.2022 bereits über ein Jahr zurückliegen und seit der Anlasstat vom 04.04.2023 keine weiteren Taten mehr aktenkundig geworden sind. Dieser zeitliche Horizont gepaart mit dem Umstand, dass der Beschuldigten auch während des 10-jährigen Zeitraums der geschlossenen Heimunterbringung vor der ersten Anlasstat keine schweren Gewaltdelikte vorgeworfen wurden, spricht dafür, dass derzeit die von ihr ausgehende Gefahr sich mehr im Bereich der Eigen- als der Fremdgefährdung bewegt. Das deckt sich im Übrigen auch mit den Einschätzungen der Mitarbeiterinnen des LWL Wohnheims gegenüber dem Sachverständigen Z. in dem forensischen Gutachten vom 15.09.2023 (dort S. 11). Die derzeit von der Beschuldigten ausgehende Gefahr dürfte auch dadurch abgemildert sein, dass sie nach den aktenkundigen Angaben von Mitarbeiterinnen des Wohnverbundes seit den vorgeworfenen Taten mehrfach in – wenn auch eigengefährdenden – Krisensituationen eigeninitiativ nach (zusätzlicher) sedierender Medikation gefragt bzw. sich freiwillig in den Kriseninterventionsraum begeben hat.

b) Des Weiteren mutet die Einschätzung des LWL Wohnverbundes in R. (zuletzt in der Stellungnahme vom 19.12.2023) widersprüchlich an, da der Beschuldigten auf der einen Seite eine massive Fremdgefährdung bescheinigt wird, auf der anderen Seite aber wöchentlich vier (wohl unbegleitete) Stadtausgänge genehmigt werden. In die Prognose für die aktuelle Fremdgefährdung dürfte insoweit auch einzubeziehen sein, dass es bei den Stadtausgängen offenbar zu keinerlei fremdaggressiven Zwischenfällen kommt.

c) Auch die zeitliche Befristung der betreuungsrechtlichen Unterbringung der Beschuldigten macht die Anordnung der Unterbringung nach § 126a StPO hier nicht erforderlich (vgl. zu anderen Fallkonstellationen im Rahmen des PsychKG NRW OLG Hamm Beschl. v. 9.6.2020 – 4 Ws 95/20, BeckRS 2020, 13095 33, beckonline; LG Kleve, Beschluss vom 07.07.2011 – 120 Qs-306 Js 392/11/65/11; LG Kleve Beschl. v. 7.7.2011 – 120 Qs-306 Js 392/11/65/11, BeckRS 2011, 20279, beckonline). Hier ist zu berücksichtigen, dass die derzeitige Unterbringung auf der Grundlage von § 1831 BGB bis zum 07.12.2024 befristet ist und somit vom Zeithorizont her die Gemeingefährlichkeit der Beschuldigten für einen Zeitraum abmildert, der länger wäre als beim einstweiligen Unterbringungsbefehl nach § 126a StPO unter Berücksichtigung der Fristen der §§ 121, 122 StPO.

d) Der Senat verkennt nicht, dass die zivilrechtliche Unterbringung nach § 1831 BGB auf der Grundlage des Beschlusses des Amtsgerichts Marsberg vom 07.12.2023 keine Handhabe bietet, die Beschuldigte bei Fremdgefährdung in einem Kriseninterventionsraum abzuschirmen, da dieser entsprechend den Vorgaben von § 1831 BGB nur bei Eigengefährdung eingreift. Indes ist zu berücksichtigen, dass für den Fall einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Mitbewohnern neben einer Fremdgefährdung der Beschuldigten regelmäßig auch eine Eigengefährdung vorliegen dürfte, sodass der genannte Beschluss als Ermächtigungsgrundlage für einen Freiheitsentzug im Kriseninterventionsraum dienen könnte. Zudem ist – davon geht der Senat mangels anderer Angaben aus – nicht einmal versucht worden, auf der Grundlage des PsychKG NRW für die Fälle der Fremdgefährdung eine Ermächtigung i.S.v. § 20 Abs. i Nr. 2 und 4 PsychKG NRW für eine Unterbringung in einem Kriseninterventionsraum bzw. eine Fixierung zu erreichen. Trotz § 1 Abs. 3 PsychKG NRW erscheint ein solcher Antrag zulässig, da er über den Anwendungsbereich von § 1831 BGB hinaus zur Abwehr einer Fremdgefahr gedacht wäre (vgl. zur Anwendung der öffentlichrechtlichen Vorschriften bei Fremdgefahr neben der Selbstgefahr: BeckOK BGB/Müller-Engels, 68. Ed. 1.11.2023, BGB § 1831 28; LG Hildesheim, Beschluss vom 14. Januar 1994 – 5 T 720/93 -, Rn. 6 – 8, juris).“