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U-Haft I: Fluchtgefahr und Verhältnismäßigkeit, oder: Dem BGH reichen „noch neun Monate“

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Und dann habe ich heute einige Haftentscheidungen.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 26.05.2025 – StB 23/25. In dem äußert sich der BGH noch einmal zur Fluchtgefahr und zur Verhältnismäßigkeit.

Folgender Sachverhalt: Der Angeklagte wurde am 14.02.2020 vorläufig festgenommen und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand der Vorwürfe sind neben tateinheitlich begangenen Waffendelikten der Vorwurf, der Angeklagte habe ab dem Spätsommer 2019 bis Februar 2020 als Rädelsführer eine Vereinigung (§ 129 Abs. 2 StGB) gegründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen, und sich rädelsführerschaftlich an dieser Vereinigung beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4, § 52 Abs. 1 StGB).

In der Folgezeit hat der BGH jeweils die Fortdauer der U-Haft beschlossen. Am 30.11.2023, dem 173. Verhandlungstag, ist der Angeklagte dann wegen des im Haftbefehl angeführten Tatgeschehens zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden. Dagegen hat er Revision eingelegt (3 StR 100/25). Das insgesamt elf Angeklagte betreffende, 1.214 Seiten umfassende Urteil ist am 05.09.2024 auf der Geschäftsstelle des Staatsschutzsenats eingegangen. Es ist dem Verteidiger des Angeklagten am 30.09.2024 zugestellt worden, nachdem der Vorsitzende das Protokoll der Hauptverhandlung am 23.09.2024 fertiggestellt hatte. Die Verteidiger des Angeklagten haben das Rechtsmittel mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet. Am 31.01.2025 hat der Vorsitzende die Übersendung der Akten an den Generalbundesanwalt verfügt. Dieser hat unter dem 03.04.2025 eine Antragsschrift verfasst und diese mit bislang 43 Stehordnern Gerichtsakten, sechs Stehordnern Verhandlungsprotokoll sowie sieben Stehordnern Haft-Sachakten an den BGH, dem sie am 29.04.2025 zugegangen sind.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers hat der Angeklagte erneut Haftbeschwerde erhoben. Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Die hatte auch beim BGH keinen Erfolg.

„2. Die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität sind immer noch gegeben.

a) Die Würdigung sämtlicher Umstände macht es nach wie vor wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte dem weiteren Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung stellen wird (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

aa) Die Straferwartung hat sich angesichts des erstinstanzlichen Urteils auf die dort ausgesprochenen sechs Jahre Freiheitsstrafe konkretisiert. Die Untersuchungshaft dauert fünf Jahre und gut drei Monate, mithin deutlich mehr als zwei Drittel der noch nicht rechtskräftigen Strafe an. Damit hat der Angeklagte bei hypothetischer Rechtskraft seiner Verurteilung – nach Anrechnung erlittener Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB – mit einer Inhaftierung von weiteren annähernd neun Monaten zu rechnen.

bb) Zwar ist grundsätzlich auch eine mögliche Aussetzung des Strafrests zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu bedenken. Insoweit hat aber das Oberlandesgericht mit der Entscheidung über die Nichtabhilfe vom 29. April 2025 nach erneuter Prüfung an seinen – dem Senatsbeschluss vom 7. März 2024 (StB 14/24) zugrundeliegenden – Erwägungen vom 1. Februar 2024 festgehalten, wonach der Angeklagte mit einer Aussetzung nicht ernsthaft rechnen könne. Dem Oberlandesgericht, das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten aus der Hauptverhandlung gewonnen hat, kommt insoweit ein Beurteilungsspielraum zu (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2022 – StB 41/22, juris Rn. 14 mwN). Es hat eine hypothetische vorzeitige Haftentlassung nachvollziehbar als für mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit unvereinbar angesehen. Der Angeklagte sei in seiner ausländerfeindlichen, rechtsextremen sowie verfassungsfeindlichen Gesinnung nach wie vor verhaftet. Außer einem rigorosen Leugnen einer solchen Einstellung im seinerzeitigen Anhörungstermin lasse er bislang keine Anzeichen für eine kritische Auseinandersetzung hiermit erkennen. In den schriftlichen Gründen des Urteils findet diese ungünstige Legalprognose eine Stütze. Auf die Entscheidungen des Senats vom 25. August 2021 (StB 30/21, juris Rn. 15 f.), vom 20. September 2022 (StB 39/22, juris Rn. 12 ff.) und vom 7. März 2024 (StB 14/24, juris Rn. 8) wird ergänzend verwiesen.

cc) Danach verbleibt es voraussichtlich bei etwa neun weiteren Monaten Vollstreckungsdauer. Diese Zeitspanne übt bei Würdigung der hier maßgeblichen Umstände einen bedeutenden Fluchtanreiz aus; fluchthemmende Umstände stehen dem unverändert nicht entgegen. Dass der Angeklagte innerhalb Deutschlands nicht über tragkräftige familiäre oder sonstige soziale Beziehungen verfügt, hat das Oberlandesgericht in dem Erkenntnis vom 30. November 2023 schlüssig dargelegt. Bezüglich der – dort in Teilen bestätigten – Überlegungen des Angeklagten, für den Fall seiner Freilassung in das europäische oder nichteuropäische Ausland auszuwandern, wird zudem auf den Senatsbeschluss vom 7. März 2024 (StB 14/24, juris Rn. 9) Bezug genommen. Anlass für die Annahme, der Angeklagte könne sich bei Entlassung aus der Untersuchungshaft durch Aufenthalt an einem unbekannten Aufenthaltsort im Ausland dem Strafverfahren entziehen, bietet ferner sein entsprechende Andeutungen enthaltender Brief an eine Bekannte vom 20. und 21. März 2024, den das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 8. April 2024 durch Veraktung einer beglaubigten Fotokopie und Beförderung des Originals beschlagnahmt hat (§ 94 Abs. 1, § 98 Abs. 1 StPO). Die Ansicht des Angeklagten, die vorstehenden Erwägungen seien mit Blick auf sein Lebensalter und die Geringfügigkeit der rechnerisch verbleibenden Straferwartung gegenüber den „abgesessenen 5 ¼ Jahren“ „akademisch verkopft und völlig lebensfremd“, nimmt auf all dies nicht Bedacht.

b) Die zu würdigenden Umstände begründen weiterhin zugleich die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Angeklagten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. Schmitt/Köhler, StPO, 68. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) außerdem auf den dort geregelten Haftgrund gestützt werden kann.

c) Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft, wie bereits in den vorangegangenen Senatsbeschlüssen dargelegt, nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden. Eine – bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche – Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist nicht erfolgversprechend.

3. Der Vollzug der Untersuchungshaft steht nach wie vor nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO; zu den insoweit nach st. Rspr. geltenden Maßstäben s. etwa BGH, Beschluss vom 20. April 2022 – StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 210 mwN). Die in der Beschwerdeschrift und der weiteren Stellungnahme genannten Einwände verfangen nicht.

a) Zwar setzt die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung.

aa) Daraus folgt, dass mit der Dauer der Untersuchungshaft die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache und an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2023 – StB 43/23, BGHR StPO § 120 Verhältnismäßigkeit 2 Rn. 12 mwN). Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. März 2013 – StB 2/13, juris Rn. 13 f.; BVerfG, Beschlüsse vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BVerfGK 15, 474, 480; vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, BVerfGK 7, 140, 154 ff.; jeweils mwN). Je nach den Umständen des Einzelfalls (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2011 – 1 StR 21/11, wistra 2011, 348 Rn. 14) können die Schwere und die Art des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens, die Art und Weise der Ermittlungen, das Verhalten des Beschuldigten sowie das Ausmaß der mit dem andauernden Verfahren verbundenen Belastungen für den Beschuldigten von Bedeutung sein. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2003 – 1 StR 445/03, NStZ 2004, 504 Rn. 7 ff. mwN).

Dabei verliert das Beschleunigungsgebot seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Es gilt vielmehr für das gesamte Strafverfahren. Allerdings vergrößert sich mit der Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden ist. Der Umstand, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, steht dem nicht entgegen. Denn die Einlegung eines Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der durch das angegriffene Urteil ausgesprochenen Sanktionen; sie beseitigt indessen nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Umstand, dass auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis als gelungen erachtet worden ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BVerfGK 15, 474, 480 f. mwN; vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, BVerfGK 7, 140, 161 f.).

bb) An diesen Maßstäben gemessen, ist den Erfordernissen des Beschleunigungsgebots hier genügt. Das Verfahren und insbesondere die Hauptverhandlung sind mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden; auf die vorangegangenen Senatsbeschlüsse, insbesondere vom 20. September 2022 (StB 39/22, juris Rn. 21) und vom 25. August 2021 (StB 30/21, juris Rn. 20), wird verwiesen.

(1) Anders als vom Angeklagten vertreten, weisen die auf die Urteilsverkündung vom 30. November 2023 folgende Sachbearbeitung des Landgerichts sowie das bisherige Revisionsverfahren gleichfalls keine Verzögerungen auf.

Dabei geht der Angeklagte im Ansatz zutreffend davon aus, dass auch die Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 StPO Ausdruck des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatzes ist. Das Gebot der bestmöglichen Verfahrensförderung ergreift den Prozess der Urteilserstellung. § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO gibt keine Regelfristen, sondern Höchstfristen vor, welche nur ausgeschöpft werden dürfen, wenn zwingende Gründe dies erfordern (vgl. BGH, Urteil vom 12. Dezember 1991 – 4 StR 436/91, NStZ 1992, 398, 399; BVerfG, Beschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, BVerfGK 7, 140, 158 f.). Soweit es danach als mit dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen unvereinbar erachtet wird, die Urteilserstellung „von vornherein“ auf das zeitlich fixierte Ende der Frist des § 275 Abs. 1 StPO auszurichten (vgl. BVerfG aaO Rn. 69), besteht allerdings für eine solche Vorgehensweise hier kein Anhaltspunkt. Die – zumal lediglich weitgehende – Ausschöpfung der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 Alternative 2 StPO rechtfertigt angesichts der maßgeblich durch die Vielzahl der Beteiligten und den Umfang der Sache bestimmten Komplexität des Verfahrensstoffs nicht bereits für sich genommen die Annahme einer verfahrensrechtlich unzulässigen Fristenplanung. Die vorgenannte Vielschichtigkeit der Verfahrensführung trägt zugleich die Fertigstellung des Protokolls der sich über 173 Verhandlungstage erstreckenden Hauptverhandlung bis zum 23. September 2024 (§ 273 Abs. 4 StPO; vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, BVerfGK 7, 421, 430).

Der sich aus § 347 StPO ergebenden Verpflichtung, die Akten so schnell wie möglich dem Revisionsgericht zur Entscheidung vorzulegen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 1987 – 3 StR 104/87, BGHSt 35, 137, 138 f.), ist mit Blick auf die – hinsichtlich der einzelnen Revisionsführer teilweise differierenden – Fristläufe der § 345 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2, § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO gleichfalls genügt worden. Dabei war die Strafkammer gehalten, den Ablauf der Fristen zur Revisionsbegründung zunächst abzuwarten, um die Notwendigkeit der Abgabe dienstlicher Äußerungen auf etwa erhobene Verfahrensrügen hin prüfen zu können (vgl. Nr. 162 Abs. 2 Satz 7 RiStBV).

(2) Die verbleibende Straferwartung beträgt noch mehrere Monate. Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Inhaftierung liegt zwar häufig nahe, wenn die Dauer der Untersuchungshaft die zu erwartende Freiheitsstrafe annähernd erreicht oder sogar übersteigt. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass die Untersuchungshaft nicht bis zur Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe vollzogen werden darf, wenn das notwendig ist, um die noch nicht rechtskräftige Ahndung der Tat und die drohende Vollstreckung der Strafe zu sichern, existiert aber nicht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Oktober 2022 – StB 41/22, juris Rn. 21; vom 20. September 2022 – StB 39/22, juris Rn. 20; vom 20. April 2022 – StB 15/22, juris Rn. 25, und StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 211; jeweils mwN).

Zudem hat der Vorwurf der rädelsführerschaftlichen Gründung einer terroristischen Vereinigung, der rädelsführerschaftlichen Beteiligung an derselben und des unerlaubten Waffenbesitzes, jeweils im konkreten Zusammenhang mit Planungen zu todbringenden Anschlägen aus rechtsextremistischen, rassistischen und verfassungsfeindlichen Motiven, eine hohe Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kommt bei der Abwägung neben dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten dem ebenfalls im Grundgesetz verankerten Legalitätsprinzip ein besonderes Gewicht zu; dieses gebietet die Aufklärung und Ahndung von Straftaten (vgl. zur Unterstützung einer terroristischen Vereinigung BGH, Beschluss vom 20. April 2022 – StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 211).

b) Es trifft für sich genommen zu, dass mit Fortdauer der Untersuchungshaft die Dauer der noch zu verbüßenden Strafhaft und die Möglichkeit abnehmen, in diesem Rahmen auf einen Verurteilten im Sinne der Resozialisierung einzuwirken. Allerdings handelt es sich hierbei um einen der Untersuchungshaft immanenten Befund. Zudem besteht aufgrund der Fluchtgefahr gerade die Erwartung, der Angeklagte werde sich ansonsten dem Verfahren entziehen. Sollte er fliehen, wären Resozialisierungsbemühungen in Strafhaft ebenfalls der Boden entzogen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2023 – StB 43/23, BGHR StPO § 120 Verhältnismäßigkeit 2 Rn. 13). Ungeachtet dessen hat der Angeklagte, wie ausgeführt, eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen hochwahrscheinlichen Straftat bisher nicht erkennen lassen. Seine Erreichbarkeit für in der Strafhaft vorgesehene Resozialisierungsbemühungen des Staates ist vor diesem Hintergrund als niedrig einzustufen (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2022 – StB 41/22, juris Rn. 21).“

Na ja, da habe ich so meine Bedenken. Straferwartung von noch rund neun Monate reicht also für die Fluchtgefahr und macht die Haft nicht unverhältnismäßig. Ich weiß nicht, was die Kollegen vom Schloßplatz dazu sagen würden.

Haft II: Beschleunigungsgrundsatz bei Überhaft, oder: Schleppendes Ermittlungs- und Zwischenverfahren

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Die zweite Haftentscheidung befasst sich mit dem Beschleunigungsgrundsatz.

Ergangen ist die Entscheidung in einem Totschlagsverfahren. Mit Schreiben vom 31.03.2023, eingegangen bei der Staatsanwaltschaft am 05.04.2023, hatte der Geschädigte J. angezeigt, dass er am 25.03.2023 von zwei Personen in seinem Haftraum in der JVA angegriffen worden sei, weil er sich geweigert habe, Drogen in die JVA zu schmuggeln. Diese hätten zunächst versucht, ihn zu töten, indem einer der Angreifer ihn mit zwei Stiften in den Hals gestochen habe. Nachdem dies dadurch gescheitert sei, dass die Stifte jeweils zerbrochen seien, sei er mit Schlägen gegen den Kopf attackiert worden, so dass er einen Nasenbeinbruch erlitten habe. Sodann hätten die Angreifer ihm seinen Tabak weggenommen und versucht, ihn zu vergewaltigen.

Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin Ermittlungen wegen versuchten Totschlags ein. Diese ergaben, dass es sich bei den Angreifern um den Angeschuldigten O. und den Mitangeschuldigten L. und bei dem Auftraggeber des Angriffs um den Mitangeschuldigten Y. handeln soll. Als wesentliche Ermittlungshandlungen wurde der Geschädigte am 04.07.2023 und seine Ehefrau am 14.09.2023 vernommen. Ferner wurde am 29.01.2024 (auf Anregung der Staatsanwaltschaft vom 19.01.2024) die Einholung eines DNA-Gutachtens betreffend die sichergestellten Stifte beauftragt, erstellt durch das Landeskriminalamt am 08.04.2024, und am 15.04.2024 die Krankenunterlagen des Geschädigten angefordert.

Am 19.04.2024 erließ das AG auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom gleichen Tag gegen den Angeschuldigten O. Haftbefehl wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und versuchter Vergewaltigung (§§ 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Nr. 2, Abs. 8, 212 Abs. 1, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4, Nr. 5, 22, 23, 52 StGB). Der Haftbefehl ist auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gestützt (§ 112 Abs. 3 i.V.m. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und dem Angeschuldigten am 03.05.2024 verkündet worden. Da der Angeschuldigte O. sich bis zum 26.02.2025 in Strafhaft befindet, ist insoweit Überhaft notiert.

Unter dem 16.07.2024 erhob die Staatsanwaltschaft gegen den Angeschuldigten sowie die Mitangeschuldigten L., Y. und wegen einer weiteren Tat gegen den Angeschuldigten K. Anklage vor dem Schwurgericht des Landgerichts . Dem Angeschuldigten O. legte sie nunmehr versuchten Mord aus niedrigen Beweggründen in Tateinheit mit gefährlicher Köperverletzung, versuchter Vergewaltigung und besonders schwerem Raub zur Last.

Mit Verfügung vom 30.07.2024 setzte der Vorsitzende des Schwurgerichts eine Stellungnahmefrist zur Anklage von vier Wochen und fragte unter dem 24.09.2024 die terminliche Verfügbarkeit der Verteidiger im Zeitraum Februar bis Mai 2025 sowie die Bereitschaft zur psychiatrischen Exploration der Angeschuldigten ab. Nach entsprechenden Rückmeldungen der Verteidiger reservierte der Vorsitzende für den Fall der Eröffnung Termine ab dem 05.02.2025.

Am 14.01.2025 beantragte der Angeschuldigte O. mündliche Haftprüfung. Das LG erließ daraufhin am 21.01.2025 einen neuen Haftbefehl, welcher den ursprünglichen Haftbefehl ersetzte und der Anklageschrift angepasst auf die Vorwürfe des versuchten Mordes und des besonders schweren Raubes erweitert worden war. Dieser wurde dem Angeschuldigten im Haftprüfungstermin verkündet. Hiergegen richtet sich die (Haft-)Beschwerde des Angeschuldigten O. vom 21.01.2025. Gerügt wird insbesondere, dass von einem Rücktritt vom versuchten Tötungsdelikt auszugehen sei. Die Strafkammer hat der Beschwerde am 27.01.2025 nicht abgeholfen und mit Verfügung vom gleichen Tag mitgeteilt, dass die ursprünglich avisierten Termine nicht eingehalten werden können, da die Strafkammer in den Monaten Februar bis April 2025 insbesondere mindestens sechs Schwurgerichtssachen zu verhandeln habe, bei denen überwiegend der Ablauf der Sechs-Monats-Frist bevorstehe. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

Das OLG Hamm hat mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 20.02.2025 – 5 Ws 77/25 – die Haftbeschwerde als begründet angesehen. Das OLG verneint einen dringenden Tatverdacht gegen den Angeschuldigten O. im Hinblick auf ein versuchtes Tötungsdelikt, da nicht mit der erforderlichen Sicherheit ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24 Abs. 1 StGB ausgeschlossen werden könne. In dem Zusammenhang rügt es, dass die Ermittlungen trotz des gravierenden Tatvorwurfs äußerst oberflächlich und nachlässig geführt worden seien.

Im Übrigen führt es aus:

„2. Im Hinblick auf die verbleibenden weiteren, immer noch sehr gravierenden Tatvorwürfe – gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung und besonders schwerem Raub – kann die Anordnung der Untersuchungshaft jedenfalls aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht aufrechterhalten bleiben, da das Verfahren gegen den Angeschuldigten O. nicht in ausreichendem Maße gefördert wurde.

a) Der sogenannte Beschleunigungsgrundsatz gilt zwar in besonderem Maße für Haftsachen, findet als Ausdruck der allgemeinen Fürsorgepflicht der Strafjustiz aber auch allgemein, wenn auch in abgeschwächter Form Anwendung im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren (Fischer, in: Karlsruher Kommentar, 9. Aufl. 2023, Einleitung Rn. 29). Anerkannt ist in diesem Zusammenhang insbesondere, dass sich Gerichte bei Haftvollzug in anderer Sache dem besonderen Beschleunigungsgebot nicht dadurch entziehen können, dass sie die Entscheidung über den Haftbefehlsantrag hinausschieben (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 04.04.2006 – 2 BvR 523/06 -, BVerfGK 8, 1-9, Rn. 27; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Dezember 2018 – 1 Ws 341/18 -, Rn. 35 – 36, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – 1 Ws 569/10 -, juris). Gleiches muss nach Auffassung des Senats auch für die Staatsanwaltschaften in Bezug auf die Stellung des Haftbefehlsantrags gelten. Soweit sich der Staatanwaltschaft aufdrängen muss, dass gegen den Beschuldigten Antrag auf Erlass eines (Über-)Haftbefehls zu stellen ist, kann sie sich dem in Haftsachen in besonderem Maße geltenden Beschleunigungsgebot nicht dadurch entziehen, dass sie die Beantragung eines „Überhaft“-Haftbefehls ohne sachlichen Grund hinauszögert.

b) Dies ist indes vorliegend geschehen. Das Ermittlungsverfahren ist in besonderem Maße schleppend betrieben worden. Obgleich das Ermittlungsverfahren bereits mit Verfügung vom 13.04.2023 der staatsanwaltschaftlichen Abteilung für Kapitalsachen vorgelegt und sodann wegen Totschlagsversuchs geführt wurde (vgl. Schreiben der Staatsanwaltschaft Essen vom 11.05.2023; Bl. 32 d.A.), ist der Geschädigte, der aufgrund seiner Inhaftierung jederzeit zur Vernehmung zur Verfügung stand, erst am 04.07.2024 und damit nach 2 ½ Monaten als Zeuge vernommen worden. Auch im Folgenden sind die Ermittlungen äußerst zögerlich geführt worden. Die Ehefrau des Geschädigten wurde am 14.09.2023 (5 Monate nach Eingang der Strafanzeige) vernommen, war aber nicht bereit auszusagen. Die DNA-Auswertung der Asservate wurde – ohne dass hierfür ein sachlicher Grund ersichtlich wäre – erst im Januar 2024 (9 Monate nach Eingang der Strafanzeige) beauftragt, nahm 2 ½ Monate in Anspruch und die Krankenunterlagen wurden im April 2024 (12 Monate nach Eingang der Strafanzeige) angefordert. Wesentliche weitere Ermittlungshandlungen – etwa die Einholung eines rechtsmedizinischen Gutachtens oder von Gutachten zur Schuldfähigkeit – sind nicht in die Wege geleitet worden. Zudem führten die Vernehmung der Ehefrau sowie die DNA-Auswertung zu keiner Verdichtung des Tatverdachts. Vielmehr musste sich der Staatanwaltschaft – selbst wenn man das versuchte Tötungsdelikt unberücksichtigt lässt – spätestens im Juli 2023 aufdrängen, dass aufgrund der gravierenden Tatvorwürfe gegen den Angeschuldigten Haftbefehl zu beantragen ist. Gleichwohl stellte sie den Haftbefehlsantrag erst unter dem 19.04.2024 und verfasste die Anklageschrift – obgleich in den weiteren drei Monaten keine wesentlichen Ermittlungshandlungen mehr vorgenommen wurden – erst unter dem 16.07.2024. Selbst unter Berücksichtigung des Umstands, dass das Beschleunigungsgebot in Haftsachen während der Überhaft eine Abschwächung erfährt (vgl. hierzu: Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 11.02.2020 – 1 Ws 20/20 -, juris), ist dieser ungenutzte Zeitraum von ca. einem Jahr als außerordentliche Verfahrensverzögerung zu werten. Denn auch Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, sind zu nutzen, um das Verfahren nachhaltig zu fördern und es so schnell wie möglich abzuschließen (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2012 – III-3 Ws 37/12 -, juris; KG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2006 – 5 Ws 569/06 -, Rn. 2, juris).

c) Die im Ermittlungsverfahren zu verzeichnenden, wesentlichen Verfahrensverzögerungen sind im Zwischenverfahren jedenfalls nicht kompensiert worden. Obgleich die zur Anklageschrift gesetzten Stellungnahmefristen Ende August 2024 abgelaufen sind, ist nicht zeitnah über die Eröffnung entschieden worden, sondern es sind lediglich Termine für den Beginn der Hauptverhandlung ab dem Februar 2025 und damit fünf Monate später reserviert worden.

Der Senat kann in diesem Zusammenhang offenlassen, ob die jetzige Terminsfreigabe der Februartermine im Hinblick auf die außerordentlich hohe Belastung der Strafkammer mit Schwurgerichtsverfahren in den Monaten Februar bis April sachgerecht war. Hinzuweisen ist darauf, dass nur kurzfristige und vorübergehende Überlastungen des Spruchkörpers solche Terminsverschiebungen rechtfertigen können (vgl. Böhm, in: MünchKomm, 2. Aufl. 2023, § 121 StPO Rn. 87, beck-online). Denn in der vorzunehmenden Gesamtschau stellen sich die bereits eingetretenen erheblichen Verfahrensverzögerungen in Ermittlungs- und Zwischenverfahren von über einem Jahr auch unter Berücksichtigung des erheblichen Strafverfolgungsinteresses als so wesentlich dar, dass die Anordnung der Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig ist.“

Haft II: Entscheidung durch das Beschwerdegericht, oder: Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr

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Im zweiten Posting dann der OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.01.2025 – 1 Ws 1/25 (S). Entschieden hat das OLG über eine Beschwerde des Angeklagten gegen einen vom LG nach Verurteilung aufrecht erhaltenen Haftbefehl. Der Angeklagte befindet sich seit dem 27.03.2024 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Verurteilt worden ist er am 13.11.2024 u.a. wegen Nachstellung in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Zuwiderhandlung gegen gerichtliche Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt und Nachstellung in 47 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, der Angeklagte hat Revision dagegen eingelegt.

Gegen diese Haftentscheidung wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, mit der er die Aufhebung des Haftbefehls, zumindest dessen Außervollzugsetzung unter geeigneten Auflagen begehrt. Er macht geltend, in Bezug auf vier Tatvorwürfe des Haftbefehls – jeweils Vorwürfe der falschen Verdächtigung – sei das Verfahren in der Hauptverhandlung gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt worden, sodass dringender Tatverdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 S. 1 StPO nicht bestehe. Zudem fehle es an einem Haftgrund; weder könne Verdunkelungsgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Ziff. 3 StPO noch Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 StPO angenommen werden, denn er habe in der Hauptverhandlung ein umfassendes Geständnis abgegeben, eine weitere gerichtliche Tatsacheninstanz stehe nicht zur Verfügung und er lebe in einem sozial gefestigten Umfeld bei seiner neuen Lebenspartnerin und deren Kindern.

Das OLG hat die Beschwerde verworfen:

„2. In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg, es erweist sich als unbegründet.

a) Der Angeklagte ist der ihm mit dem Haftbefehl des Amtsgerichts Neuruppin vom 18. März 2024 (Az.: 89 Gs 474/24) vorgeworfenen Taten mit Ausnahme der vier Fälle falscher Verdächtigung (§ 164 StGB, Taten zu den Ziffern 7), 15), 16) und 18) des Haftbefehls), hinsichtlich derer in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht eine vorläufige Verfahrenseinstellung gemäß § 154 Abs. 2 StPO erfolgte, dringend verdächtig, § 112 Abs. 1 StPO.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Senats die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während der Hauptverhandlung vornimmt und die hier in die Haftentscheidung vom 13. November 2024 eingeflossen ist, im Haftbeschwerdeverfahren nur eingeschränkt durch das Beschwerdegericht überprüfbar ist. Allein das Tatgericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfand, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen, zu würdigen und auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand fortbesteht. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme (vgl. Senatsbeschlüsse vom 18. März 2024,1 Ws 31/24; vom 29. Mai 2020,1 Ws 70/20; vom 25. März 2019, 1 Ws 44/19; s. a. BGH StV 1991, 525; OLG Karlsruhe Justiz 2003, 475). Es kann die Bewertung des Tatgerichts deshalb nur dann durch eine eigene ersetzen, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Inhalt der angefochtenen Entscheidung grob fehlerhaft oder in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht vertretbar ist (vgl. BGHR StPO § 112 Tatverdacht 3; BGH NStZ-RR 2003, 368; OLG Koblenz StV 1994, 316).

Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Anhaltspunkte, die nach den aufgeführten Grundsätzen gegen die Aufrechterhaltung des Haftbefehls hinsichtlich der abgeurteilten Taten unter dem Blickpunkt des dringenden Tatverdachts sprechen könnten, sind weder von der Beschwerde vorgetragen noch sonst ersichtlich.

b) Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Ziff. 3 StPO kann nicht mehr angenommen werden.

Zwar ist das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 13. November 2024 aufgrund der Revision des Angeklagten nicht rechtskräftig mit der theoretischen Folge, dass eine neuerliche Beweisaufnahme nach seiner Aufhebung durch den Bundesgerichtshof erforderlich werden könnte. Verdunkelungsgefahr besteht gleichwohl nicht mehr.

Verdunkelungsgefahr liegt vor, wenn der Beschuldigte durch unlauteres Einwirken auf sachliche und persönliche Beweismittel die Feststellung des strafrechtlich relevanten Sachverhalts beeinträchtigt (OLG Frankfurt StV 2010, 583; OLG Karlsruhe StV 2001, 118; OLG Köln StV 1997, 27; Paeffgen in: SK, StPO, zu § 112 Rz. 25; Faßbender/Posthoff in: Gercke/Temming/Zöller, StPO, 7. Auflage, zu § 112 Rz. 34; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage, zu § 112, Rz. 26). Erforderlich ist, dass aufgrund bestimmter Tatsachen das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde eine der in § 112 Abs. 2 Ziff. 3 a) bis c) StPO umschriebenen, auf Beweisvereitelung zielenden Handlungen vornehmen, und wenn deshalb die konkrete Gefahr besteht, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert wird (Faßbender/Posthoff a. a. O.; Krauß in: Graf, StPO, 4. Auflage, zu § 112, Rz. 32 und 40).

An dieser konkreten Gefahr fehlt es hier. Der Angeklagte hat die den Gegenstand seiner Verurteilung bildenden Taten in der Hauptverhandlung durch Verlesung einer schriftlichen Erklärung seitens seiner Verteidiger und ergänzende persönliche Einlassung in weitem Umfang eingeräumt. Von der Richtigkeit dieser Einlassung hat sich die Strafkammer durch eine umfassende Beweisaufnahme überzeugt. So sind die Geschädigten EV, MV, NS, MK sowie die Eheleute D. und EE… zeugenschaftlich vernommen worden, ebenso die mit dem Sachverhalt befassten Polizeibeamten. In der Gesamtschau ergab sich für die Kammer der von ihr festgestellte Sachverhalt.

Ein allein auf Verdunkelungsgefahr gestützter Haftbefehl ist in der Regel mit dem Abschluss der letzten Tatsacheninstanz aufzuheben (OLG Celle NJW 1963, 1264; Senat, Beschluss vom 02. März 2020, 1 Ws 18/20, Rz. 15, juris; Lind in: Löwe-Rosenberg, StPO, 28. Auflage, zu § 112 Rz. 97, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., zu § 112, Rz. 35). Das gilt nach teils vertretener Auffassung zwar dann nicht, wenn aufgrund einer Revision eine neuerliche Hauptverhandlung in Betracht kommt (Lind a. a. O.), dieser Auffassung schließt sich der Senat indessen für den hier vorliegenden Fall eines durch die Beweisaufnahme bestätigten Geständnisses des Angeklagten nicht an. Verdunkelungsgefahr scheidet vielmehr aus, wenn der Sachverhalt durch ein umfängliches Geständnis des Beschuldigten und/oder gesicherte (Sach-)Beweise vollständig aufgeklärt ist (OLG Naumburg StV 1995, 259 Ls, juris; Faßbender/Posthoff a. a. O., Rz. 42; Paeffgen a. a. O., Rz. 39; Krauß a. a. O., Rz. 40).

So liegt der Fall hier. Sollte der Angeklagte in einer etwa erforderlich werdenden neuerlichen Hauptverhandlung sein Geständnis widerrufen oder auch nur relativieren, stehen insbesondere die an der jetzigen Urteilsfindung beteiligten Berufsrichter als Verhörspersonen zur Verfügung. Zudem könnten die bisherigen Angaben der Zeugen durch eine Vielzahl von Sachbeweismitteln, namentlich Briefe, E-Mails, Lichtbilder und andere Schriftstücke, bestätigt werden. Insgesamt besteht sonach eine gesicherte Beweislage, die durch etwaige Verdunkelungshandlungen des Angeklagten, insbesondere durch die befürchtete Einflussnahme auf Zeugen, nicht mehr beeinträchtigt werden könnte. Eine konkrete Gefahr, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert wird, besteht nicht mehr.

c) Die Voraussetzungen des subsidiären Haftgrunds der Wiederholungsgefahr, § 112a Abs. 1 Ziff. 1 StPO, liegen aber vor. Der Angeklagte ist der wiederholten Nachstellung im besonders schweren Fall im Sinne des § 238 Abs. 1 Ziff. 1, 2 und 7, Abs. 2 Ziff. 1 und 3 StGB und damit einer Katalogtat des § 112a Abs. 1 Ziff. 1 StPO schuldig gesprochen worden. Auch besteht die Gefahr, dass er im Fall seiner Freilassung vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begeht. Er hat sich weder von gerichtlichen Beschlüssen noch von Gefährderansprachen zu einer Verhaltensänderung bewegen lassen, sondern seine Annäherungen an die Zeugin EV unbeeindruckt fortgesetzt. Die Polizei in Perleberg hat eine Ordnungsverfügung gegen den Angeklagten erlassen, durch welche diesem untersagt wurde, sich in der Straße, in der die Zeugin wohnt, aufzuhalten. Auch diese Ordnungsverfügung, gegen die er im Übrigen erfolglos gerichtlich vorgegangen ist, hat den Angeklagten nicht davon abgehalten, sein strafbares Verhalten fortzusetzen. Stattdessen hat er noch im Februar 2024 die räumliche Nähe der Geschädigten EV gesucht und im März 2024, kurz vor einer Verhaftung, mit einem Fernglas ausgerüstet die Wohnhäuser der Geschädigten EV, NS und MK von einem Grundstück auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus beobachtet, um zu demonstrieren, dass er trotz bestehender Verbote über Möglichkeiten verfügt, in den Lebensraum der Geschädigten einzudringen. Bei seiner Festnahme führte er eine Strumpfmaske, einen Baseballschläger, ein Distanz-Elektroimpulsgerät, ein Fernglas und zwei Messer mit sich. Der Senat teilt nach eigener kritischer Prüfung die in der angefochtenen Entscheidung vertretene Auffassung, es bestehe Wiederholungsgefahr im Sinne des § 112a StPO.

Soweit der Angeklagte in seiner Beschwerdebegründung argumentiert, er lebe in einem sozial gefestigten Umfeld, ist dies nicht geeignet, dieser Wiederholungsgefahr zu begegnen. Bereits im verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum befand sich der Angeklagte in der von ihm in Bezug genommenen neuen Lebenspartnerschaft, diese hat ihn nicht von der Tatbegehung abhalten können.

d) Anordnung und weiterer Vollzug der Untersuchungshaft stehen zur Bedeutung der Sache und zur Höhe der erkannten Strafe nicht außer Verhältnis. Der Angeklagte ist einer Vielzahl schwerer Straftaten dringend verdächtig. Die Verhältnismäßigkeit ist nach Abwägung des Freiheitsgrundrechts des Angeklagten gegen das staatliche Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung gewahrt. Ein deutliches Übergewicht der mit dem Freiheitsentzug verbundenen Nachteile für den Angeklagten gegenüber den Belangen der Strafrechtspflege, das zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft führen würde, besteht unverändert nicht.

…“

Zwang II: Führung eines Anbahnungsgesprächs, oder: Kontaktaufnahme über einen Dritten

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Und als zweite Entscheidung dann auch noch einmal etwas zur U-Haft, nämlich den OLG Hamm, Beschl. v. 19.11.2024 – III 3 Ws 385/24 – zur Erteilung einer Besuchserlaubnis zur Führung eines Anbahnungsgesprächs mit dem potentiellen Mandanten, wenn die Kontaktaufnahme zu dem Rechtsanwalt über einen Dritten auf Veranlassung des Mandanten erfolgt ist. Da war das OLG Hamm ja früher recht restriktiv. Hier ist die Besuchserlaubnis erteilt worden, nachdem das LG abgelehnt hatte:

„Die Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache zumindest vorläufigen Erfolg. Der angefochtene Beschluss kann keinen Bestand haben.

Beschwerdebefugt ist auch der (angehende) Verteidiger (vgl. Jahn/Klie in LR-StPO, 27. Aufl. § 148 Rn. 57).

1. Gem. § 137 Abs. 1 StPO kann sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens eines oder mehrerer Verteidiger bedienen. Dieser durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleistete Anspruch umfasst das Recht des Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem gewählten Anwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen (BVerfG, NJW 1975, 1013, 1014).

a) Dem inhaftierten Beschuldigten muss deshalb zur Anbahnung – neben unüberwachten Gesprächen – die unüberwachte telefonische und schriftliche Kontaktaufnahme zur Antragung eines Verteidigungsverhältnisses ermöglicht werden – ggf. auch zu mehreren potentiellen Verteidigern, da nur so § 137 Abs. 1 S. 2 StPO und dem Wahlrecht aus § 142 Abs. 5 StPO genügt werden kann. Neben der Möglichkeit, potentielle Verteidiger zu kontaktieren, muss deren Besuch ohne Hürden ermöglicht werden (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 148 Rn. 8).

b) Eine Konstellation, in der Dritte den Rechtsanwalt beauftragt haben, ohne dass in irgendeiner Form ersichtlich wäre, dass dies auf den Wunsch des Anklagten zurückgeht, sondern sich aus der Begründung für die Besuchserlaubnis schließen lässt, dass der Angeklagte von der Kontaktaufnahme zu dem Rechtsanwalt nichts weiß (vgl. Senat, NStZ 2010, 471), liegt hier nicht vor. Vielmehr ergibt sich aus der vom Angeklagten selbst auf Nachfrage der Kammer abgegebenen Erklärung, dass dieser tatsächlich die Beauftragung eines weiteren Rechtsanwalts beabsichtigt und dass zu diesem Dritte mit seiner Billigung Kontakt aufgenommen haben. Die Bevollmächtigung eines Dritten zur Anbahnung des Mandatsverhältnisses war gem. § 167 Abs. 2 BGB formfrei möglich. Vor diesem Hintergrund ist angesichts der Angaben des Rechtsanwalts ohne weiteres davon auszugehen, dass die Kontaktaufnahme zu ihm auf Wunsch und Veranlassung des Angeklagten erfolgt ist — zumal dem Rechtsanwalt augenscheinlich die vorgesehenen Verhandlungstermine bekannt sind.“

Strafe I: Mal wieder Doppelverwertungsverbot, oder: I.d.R. keine Strafmilderung wegen U-Haft

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Und dann läuft es hier ab heute – 02.01.2025 – wieder normal, d.h.: Es gibt wie gewohnt drei Fachbeiträge, i.d.R. zu Entscheidungen. Und ich beginne das Neue Jahr und den Rest der Arbeitswoche mit Entscheidungen zur Strafzumessung.

Ich beginne mit zwei Entscheidungen, und zwar:

„Das Landgericht hat bei der Strafzumessung im engeren Sinne zulasten des Angeklagten berücksichtigt, dass er „an einer schwerwiegenden körperlichen Erkrankung leidet, die ihn aber nicht davon abgehalten hat, die vorliegende Tat zu planen und auszuführen.“ Dies erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft. Denn damit wirft das Landgericht dem Angeklagten letztlich die Begehung der Straftat als solche vor; dies verstößt gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Dezember 2014 – 3 StR 502/14, NStZ-RR 2015, 71; vom 8. Januar 2015 – 2 StR 233/14, NStZ 2015, 333; vom 6. Dezember 2018 – 1 StR 186/18 Rn. 8).“

1. Die erlittene Untersuchungshaft ist für die Strafzumessung regelmäßig ohne Bedeutung, weil sie nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet wird.

2. Etwas anderes kann gelten, wenn der Angeklagte konkrete Umstände der Untersuchungshaft als besonders beschwerend empfunden haben könnte. In diesem Fall können die belastenden Auswirkungen über die kompensierende Wirkung der gesetzlichen Anrechnung hinausgehen.