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U-Haft III: Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis, oder: Verdunkelungsgefahr bei der Ehefrau?

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Und als dritte und letzte Entscheidung des Tages dann hier noch der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 16.11.2023 – 7 Ws 207/23 – zur Versagung einer Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis in der Untersuchungshaft.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 05.10.2022 in Untersuchungshaft. Das AG hat  verschiedene Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO angeordnet, und zwar u.a. dass Besuche und die Telekommunikation der ausdrücklichen Erlaubnis bedürfen.

Vom AG ist der Angeklagte dann am 23.02.2023 wegen Betrugs in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Ferner wurde ein Betrag in Höhe von 229.087,41 EUR eingezogen. Der Haftbefehl wurde aufrechterhalten. Der Angeklagte hat Berufung eingelegt.

Die Staatsanwaltschaft hat nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung wegen des dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalts ein Ermittlungsverfahren gegen die Ehefrau des Angeklagten wegen Betrugs bzw. wegen Beihilfe zum Betrug eingeleitet.

Die Ehefrau des Angeklagten hat dann für Besuche und Telefonate bei bzw. mit ihrem Ehemann bei der nach der Einlegung der Berufung zuständigen Strafkammer mit Schreiben vom 08.05.2023 eine Dauerbesuchserlaubnis und eine Telefonerlaubnis beantragt. Diesen Antrag hat die Strafkammer wegen einer bestehenden Verdunkelungsgefahr abgelehnt. Zur Begründung hat die Kammer darauf abgestellt, dass eine Unterbrechung des Kontakts zwischen dem Angeklagten und seiner Ehefrau – mit Ausnahme eines überwachten postalischen Kontakts – angezeigt sei, da eine Gesprächsüberwachung bei Telefonaten und Besuchen nicht ausreichend sei.

Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte keinen Erfolg:

„Die mit dem angegriffenen Beschluss erfolgte Versagung der Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis für die Ehefrau des Angeklagten ist nach Ausübung des dem Senat gemäß § 309 Abs. 2 StPO zukommenden eigenen Ermessens zur Abwehr der Verdunkelungsgefahr im Sinne von § 119 Abs. 1 S. 1 StPO erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 1964 – AnwSt (B) 4/64 = NJW 1964, 2119; KK-Zabeck StPO, 9. Auflage 2023, § 309 Rn 6; MüKo-Neuheuser StPO, 2016, § 309 Rn 26 ff.).

Gemäß § 119 Abs. 1 S. 1 StPO können einem inhaftierten Beschuldigten Beschränkungen auferlegt werden, wenn dies zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr erforderlich ist. Die Beschränkungen zu Lasten eines Untersuchungsgefangenen können dabei nicht nur auf die im Haftbefehl ausdrücklich genannten Haftgründe gestützt werden, sondern sie kommen auch zur Abwehr aller übrigen in § 119 Abs. 1 S. 1 StPO aufgeführten Gefahren in Betracht. Das heißt, es kann – so wie hier geschehen – auch auf im Haftbefehl nicht genannte weitere Haftgründe zur Begründung einer Beschränkungsanordnung zurückgegriffen werden (OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22, vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23 sowie vom 11. Februar 2016 – 3 Ws 57/16 = BeckRS 2016, 11581 Rn 2; Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 66. Auflage § 119 Rn 5). Für die Annahme einer solchen Gefahr genügt nicht die bloße Möglichkeit der Gefährdung eines Haftzwecks; hierfür sind konkrete Anhaltspunkte erforderlich (allg. Meinung, vgl. z. B. BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 = NStZ-RR 2015, 79).

Das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte im vorgenannten Sinne erfordert allerdings keine konkreten Vertuschungs- oder Verdunkelungshandlungen (BeckOK-Krauß StPO, Stand: 1. Oktober 2023, § 119 Rn 12). Vielmehr ist angesichts der geringeren Eingriffsintensität solcher Beschränkungen gegenüber der Haft nicht dieselbe tatsächliche Verdichtung im Sinne eines dringenden Tatverdachts nötig (OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22 und vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23). Zur Beurteilung der einem Haftzweck zuwiderlaufenden Gefahr kann daher auch auf allgemeine kriminalistische Erfahrungen abgestellt werden (KG, Beschluss vom 7. August 2014 – 1 Ws 52/14 = NStZ-RR 2014, 377 m.w.N.). Insbesondere gilt der Erfahrungssatz, dass Absprachen unter Tatbeteiligten jedenfalls dann naheliegen, wenn diese nicht geständig sind (KG, Beschluss vom 20. Oktober 2022 – 5 Ws 41/22121 AR 50/22 = BeckRS 2022, 38740; OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22 und vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23). Dies gilt umso mehr, wenn Angehörige und Freunde involviert sind, da hier nicht nur ein gesteigertes Vertrauensverhältnis besteht, sondern diese sich zudem regelmäßig dem Angeklagten besonders emotional verpflichtet fühlen (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23). Schließlich kann eine entsprechende Gefahr auch konkret-typisierend durch die Art der zu Last gelegten Taten und deren Begehung begründet sein (OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22 und vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23; BeckOK-Krauß StPO, a.a.O., § 119 Rn 12).

Daran gemessen liegen konkrete Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr für den Fall eines persönlichen oder telefonischen Austauschs zwischen den Eheleuten W vor. Bereits die dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten des Betrugs durch das Einmieten in Hotels – im X gar über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren – sprechen für ein manipulatives Geschick des Angeklagten und damit für dessen grundsätzliche Bereitschaft zu aktiven Vertuschungshandlung. Entgegen der Auffassung des (vormaligen) Verteidigers in der Beschwerdeschrift spricht die Tatsache, dass der Angeklagte erstinstanzlich aufgrund von Zeugenaussagen und Urkunden verurteilt wurde, nicht gegen, sondern gerade für das Vorliegen der Verdunkelungsgefahr. Es ist davon auszugehen, dass die Motivation zu Verdunkelungshandlungen des in erster Instanz die Taten auf subjektiver Ebene in Abrede stellenden Angeklagten mit der erstinstanzlichen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten zugenommen hat, muss er doch bei unveränderter Beweislage mit der Verwerfung seiner Berufung rechnen. Dabei spricht auch die Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen die Ehefrau für ein gesteigertes Interesse sowohl des Angeklagten als auch seiner Ehefrau, einen Freispruch des Angeklagten im vorliegenden Verfahren zu erreichen, da beide anderenfalls nun mit einer Verurteilung auch von ihr wegen Betrugs bzw. Beihilfe zum Betrug rechnen müssen. Es kommt – abermals entgegen der Beschwerdeschrift – nicht darauf an, ob die Ehefrau des Angeklagten auf die bereits in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen einwirkt. Zu befürchten ist vielmehr eine Absprache zwischen den Eheleuten im Hinblick auf die ursprüngliche Zahlungsbereitschaft und die Zahlungsfähigkeit und nachfolgend eine entsprechend abgestimmte Aussage der – erstinstanzlich nicht vernommenen – Ehefrau als Zeugin in der noch bevorstehenden Berufungshauptverhandlung.

Die Versagung der Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis ist auch nicht unverhältnismäßig. Der Senat verkennt nicht, dass mit Blick auf den verfassungsrechtlich gewährten Schutz der Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) Besuchsanträge und Telefonerlaubnisse von Familienangehörigen nur aus schwerwiegenden Gründen abgelehnt werden dürfen und vorrangig mildere Maßnahmen der Überwachung, namentlich eine akustische Überwachung der Gespräche, zu prüfen sind (vgl. KK-Gericke StPO, 9. Auflage 2023, § 119 Rn 17). Bestehen allerdings – wie hier – konkrete Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr, genügt eine akustische Überwachung in der Regel nicht, besteht bei einem unlauteren Informationsaustausch doch allenfalls die Möglichkeit, das Gespräch abzubrechen, während die einmal gesprochene und wahrgenommene Mitteilung nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 24. November 2009 – 2 Ws 246/09 = NStZ-RR 2010, 159, 160; KK-Gericke, a.a.O., § 119 Rn 17). Außerdem ist zu bedenken, dass es aufgrund der langjährigen Ehe der Eheleute naheliegend ist, dass bloße Andeutungen oder vermeintlich unverbindliche Gesprächsinhalte genügen, um tatsächlich wichtige Informationen auszutauschen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 24. November 2009 – 2 Ws 246/09, a.a.O.; KK-Gericke, a.a.O., § 119 Rn 17), zumal für den im Raum stehenden Betrugsvorwurf sowie die Einziehungsentscheidung der weite Bereich der Lebensverhältnisse der Eheleute in der Vergangenheit, welche Aufschluss über die wirtschaftliche Situation geben könnten, betroffen ist. Schließlich wird – anders als dies im Rahmen der Beschwerdeschrift vorgetragen wurde – dem Angeklagten nicht der einzige soziale Kontakt in die Freiheit genommen. Die Eheleute haben weiterhin die Möglichkeit des schriftlichen Austauschs, wobei hier die Briefkontrolle durch den mit dem Verfahren vertrauten Vorsitzenden gewährleistet ist.“

U-Haft I: Überwachung von Telefongesprächen, oder: Auch noch, wenn es nur noch um die Rechtsfolgen geht

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Heute dann noch einmal Entscheidungen, die mit U-Haft zu tun haben. Allerdings nicht mit der Anordnung von U-Haft, sondern mit deren Vollzug, vor allem also mit U-Haft-Beschränkungen.

Und den Opener mache ich mit dem OLG München, Beschl. v. 25.05.2022 – 2 Ws 283/22 – zur Aufrechterhaltung von Haftbeschränkungen zur Abwendung von Verdunkelungsgefahr auch noch in einem Verfahren, in dem nur noch über den Rechtsfolgenausspruch zu verhandeln ist. Der Angeklagte befindet sich seit dem 28.06.2019 in U-Haft/Unterbringung wegen des dringenden Verdachts der Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes und Nötigung. Es ist u.a. bestimmt, dass Telekommunikation des Angeklagten der Erlaubnis bedarf und ggf. zu überwachen ist. In der Folge Erlaubnisse wurden für Telefonate zwischen dem Angeklagten und seinen Eltern Erlaubnisse erteilt.

Am 13.07.2021 ist der Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung und Nötigung schuldig gesprochen worden, gegen ihn wurde eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren verhängt und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Den Haftbefehl ist nach Maßgabe des Urteils aufrecht erhalten worden.

Auf Revision des Angeklagten hat der BGH das Urteil am 22.03.2022 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Inzwischen befinden sich die Akten wieder „in der Instanz“.

Der Verteidiger des Angeklagten hat beantragt, die Anordnung über die akustische Überwachung der Telefonate zwischen dem Angeklagten und dessen Eltern aufzuheben. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

„2. In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg. Denn die Voraussetzungen für eine Überwachung der Telekommunikation des Angeklagten mit seinen Eltern liegen weiterhin vor.

Gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 2 StPO kann das Haftgericht anordnen, dass Telekommunikation eines Untersuchungsgefangenen überwacht wird, soweit dies unter anderem zur Abwehr von Verdunkelungsgefahr erforderlich ist. Das gilt auch dann, wenn sich der Haftbefehl – wie hier – auf einen anderen Haftgrund stützt (Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, 2019, § 119, Rn 16).

Im vorliegenden Fall besteht nach wie vor die Gefahr, dass der Angeklagte unüberwachte Telefonate mit seinen Eltern zu Verdunkelungshandlungen missbrauchen würde. Dass er die verfahrensgegenständliche Tat eingeräumt hat und der gegen ihn ergangene Schuldspruch rechtskräftig ist, steht dem nicht entgegen. Denn aufgrund der Teilaufhebung des Urteils ist über den Rechtsfolgenausspruch neu zu verhandeln, und aus in dem Urteil wiedergegebenen Äußerungen des Angeklagten gegenüber seinen Therapeuten ergibt sich, dass er mit Nachdruck eine Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB auch im vorliegenden Verfahren anstrebt (vgl. insbesondere Bl. 51 der Urteilsgründe, sechster Absatz). Angesichts dessen liegt es nahe, dass der Angeklagte einen Wegfall der Telekommunikationsüberwachung zu nutzen versuchen würde, um in Telefonaten mit seinen Eltern manipulativ darauf hinzuwirken, dass diese in der neuen Verhandlung als Zeugen Angaben zu seiner psychischen Verfassung vor der Tat machen, die geeignet wären, den Rechtsfolgenausspruch im erläuterten Sinne zu seinen Gunsten zu beeinflussen (gemäß § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO stünde das Verschlechterungsverbot der Anordnung einer Unterbringungsmaßregel gemäß § 63 StGB in der neuen Verhandlung nicht entgegen).

Konkreter Anhalt dafür, dass der Angeklagte eine Aufhebung der Telekommunikationsüberwachungsanordnung zu entsprechenden Verdunkelungshandlungen nutzen würde, resultiert daraus, dass er im Ermittlungsverfahren gezielt eine angeordnete Haftbeschränkung umging: Aufgrund der diesbezüglichen Ausführungen im vorletzten Absatz auf Seite 3 des Nichtabhilfebeschlusses hat der Senat die seinerzeitige Berichterstatterin des Hauptsachverfahrens vor der 20. Strafkammer des Landgerichts München I, Frau Richterin am Landgericht P., zu dem konkreten Hintergrund des dort erwähnten Vorfalls befragt. Diese erklärte, dass eine als sachverständige Zeugin vernommene Ärztin des BKH S. im Hauptverhandlungstermin vom 14.04.2021 ausgesagt habe, der Angeklagte sei zu einem Zeitpunkt, zu dem ihm die erforderliche Erlaubnis, Telefonate zu führen, noch nicht vorlag, an einen im Besitz einer Telefonkarte befindlichen Mitpatienten herangetreten und habe diesen dazu überredet, ihm – dem Angeklagten – die Telefonkarte vorübergehend zu überlassen, um damit ein unüberwachtes Telefonat mit seinen Eltern zu führen. Der Senat hat keinen Grund daran zu zweifeln, dass Frau Richterin am Landgericht P. die Aussage der Ärztin zutreffend wiedergegeben hat. Dass deren Angaben nicht den Tatsachen entsprechen, sondern gleichsam aus der Luft gegriffen sind, ist auszuschließen. Der Senat teilt die Bewertung des Landgerichts, wonach aus jenem Vorfall eine grundsätzliche Bereitschaft des Angeklagten zu einer Gefährdung der Haftzwecke mittels gezielter Manipulationen abzuleiten ist.

Da mildere Mittel zur Verhinderung einer manipulativen Einflussnahme des Angeklagten auf seine in der neuen Verhandlung als Zeugen in Betracht kommenden Eltern nicht gegeben sind, ist die Aufrechterhaltung der beschwerdegegenständlichen Anordnung auch nicht unverhältnismäßig. Das durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation hat unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen.“

U-Haft III: Zulässigkeit von Beschränkungen der U-Haft, oder. Haftgrundbezogene Beschränkungen?

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Und als dritte Entscheidung stelle ich dann den OLG Bremen, Beschl. v. 10.05.2022 – 1 Ws 30/22 – zur Zulässigkeit von Beschränkungen in der U-Haft.

Folgender Sachverhalt: Mit Urteil vom 27.07.2021 hat das LG Bremen den Angeklagten wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 26 Fällen verurteilt und die Einziehung eines Betrages von 4.252.086,50 EUR als Wert des Erlangten angeordnet. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, der Angeklagte hat Revision eingelegt.

Das AG Bremen hatte in dieser Sache am 11.09.2020 einen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen, den es auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt hat, und zugleich auf Antrag der Staatsanwaltschaft Bremen gemäß § 119 Abs. 1 StPO folgende Beschränkungen angeordnet:

  1. Der Empfang von Besuchen bedarf der Erlaubnis.
  2. Besuche sind akustisch zu überwachen.
  3. Die Telekommunikation bedarf der Erlaubnis.
  4. Die Telekommunikation ist zu überwachen.
  5. Der Schrift- und Paketverkehr ist zu überwachen.
  6. Die Übergabe von Gegenständen mit Ausnahme geringwertiger Nahrungs- und Genussmittel bedarf der Erlaubnis.
  7. Der Beschuldigte ist zu trennen von folgenden Personen: B- K.
  8. Die Ausantwortung bedarf der Genehmigung.“

Nach dem ein Antrag des Angeklagten vom 12.01.2021 auf Aufhebung der Trennungsanordnung zunächst ohne Erfolg geblieben ist, hat auf einen weiteren Antrag des Angeklagten vom 03.06.2021 die Vorsitzende der Strafkammer die Trennungsanordnung hinsichtlich aller Personen aufgehoben, bis auf die Trennung des Angeklagten vom Mitangeklagten B. Im Übrigen wurden die Anordnungen aus dem Beschluss des aufrechterhalten. Mit Schriftsatz vom 02.02.2022 beantragte der Angeklagte erneut die Aufhebung der Beschränkungen nach § 119 StPO. Dieser Antrag wurde durch die Vorsitzende d zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, die keinen Erfolg hatte:

„…..

b) Gemessen an diesen Voraussetzungen ist der Antrag des Angeklagten vom 02.02.2022 auf Aufhebung der Beschränkungen nach § 119 StPO mit dem Beschluss vom 01.03.2022 in der Sache zu Recht zurückgewiesen worden.

Die Fortdauer der Beschränkungen nach § 119 StPO durfte zulässigerweise auf die Verdunkelungsgefahr gestützt werden, auch wenn der gegen den Angeklagten fortbestehende Haftbefehl lediglich den Haftgrund der Fluchtgefahr nennt, da – wie vorstehend unter 2.a.aa. ausgeführt – die Anordnung von Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO nicht auf die im Haftbefehl angenommenen Haftgründe eingeschränkt ist.

Eine solche Verdunkelungsgefahr, der durch die Anordnung der Beschränkungen zu begegnen ist, ist vorliegend zu bejahen, dies auch unter Berücksichtigung der erhöhten Anforderungen an die Annahme einer solchen Gefahr bei Vorliegen einer, wenn auch mit der Revision angegriffenen, Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz. Die Annahme der Verdunkelungsgefahr ergibt sich vorliegend nicht nur aus dem allgemeinen Erfahrungssatz, dass bei mehreren mutmaßlichen Beteiligten als Mitangeklagten der unkontrollierte Informationsaustausch die Gefahr der Erschwerung oder sogar Vereitelung der Wahrheitsfindung durch eine Absprache des Einlassungsverhaltens mit sich bringt. Vorliegend sprechen auch weitere Umstände des Einzelfalls dafür, hier abweichend vom Regelfall eine fortbestehende Verdunkelungsgefahr anzunehmen: Bei dem Angeklagten ist während der Zeit der Untersuchungshaft ein Smartphone in seinem Haftraum aufgefunden worden, welches er unerlaubt in Besitz hatte und womit seine Neigung zur unerlaubten und nicht offengelegten Kommunikation belegt wurde, die auch der Annahme des Bestehens einer Verdunkelungsgefahr zugrunde liegt. Das Landgericht hat in seinem Urteil auf eine bandenmäßige Begehung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln erkannt und damit die Angeklagten dem Kreis der organisierten Kriminalität zugeordnet, bei der in besonderem Maße das Bestehen einer Verdunkelungsgefahr zu besorgen ist. Die Angeklagten haben sich zudem vor dem Landgericht nicht eingelassen und die Verurteilung ist maßgeblich auf die Ergebnisse der Verwertung der Encrochat-Daten gestützt. Daher ergibt sich in besonderem Maße die Gefahr, dass für den Fall einer Aufhebung des Urteils in der Revision die Angeklagten in einer erneuten Tatsacheninstanz durch dann abgestimmte Einlassungen die Wahrheitsermittlung erschweren. Dass die Beschränkungsanordnung auch die Kommunikation mit der Familie des Angeklagten betrifft, ist der bestehenden Verdunkelungsgefahr geschuldet, da auch die Möglichkeit einer Abstimmung des Einlassungsverhalten durch Kommunikation über Dritte zu besorgen ist.

Die Beschränkungsanordnung ist schließlich auch im Hinblick auf die betroffenen Interessen und Rechtsgüter angemessen. Hier ist namentlich zu berücksichtigen die Schwere und die Vielzahl der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität, wegen derer das Landgericht gegen ihn eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren und sechs Monaten verhängt hat. Es ist daher auch bei einer Dauer der Untersuchungshaft unter den Bedingungen der Beschränkungen von nunmehr mehr als 20 Monaten nicht festzustellen, dass die Belastungen hierdurch außer Verhältnis zur Tatschwere stünden sowie zu der Gefahr, dass wegen Verdunkelungshandlungen die Wahrheitsfindung hinsichtlich dieser Taten erschwert oder vereitelt werden könnte. Der Angeklagte kann – wenn auch überwacht – Besuche empfangen und telefonieren und somit insbesondere den Kontakt zu seiner Familie halten. Dass die Anstalt derzeit offenbar Skype-Gespräche nicht ermöglichen kann, beruht auf mangelnden Kapazitäten der JVA, nicht dagegen auf den angeordneten Beschränkungen.“

Haft II: BVerfG u.a. zur Fluchtgefahr, oder: „Butter bei die Fische“

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Bei der zweiten Haftentscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 25.06.2018 – 2 BvR 631/18. Entschieden hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde eines Beschuldigten gegen Haft(fort)dauerbeschlüsses des LG Augsburg und des OLG München. Der Beschuldigte befindet sich seit dem 18.12.2017 inHaft. Der Haftbefehl ist auf den dringenden Tatverdacht einer Geiselnahme, gefährlichen Körperverletzung und Bedrohung gemäß §§ 239b, 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 4, 240 StGB und die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr gestützt. Das BVerfG moniert – mal wieder – eine nicht ausreichende Begründung der ergangenen Haftentscheidungen, also Stichwort: Begründungstiefe:

„2. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts Augsburg vom 13. Februar 2018 und des Oberlandesgerichts München vom 9. März 2018 nicht gerecht, weil sie die von Verfassungs wegen gebotene Begründungstiefe nicht erreichen.

a) Die Entscheidung des Landgerichts vom 13. Februar 2018 enthält über eine lediglich formelhafte Begründung hinaus keine näheren Ausführungen zur Flucht- und Verdunkelungsgefahr sowie zur Verhältnismäßigkeit der Haft; sie genügt verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen offensichtlich nicht.

b) Die Erwägungen des Oberlandesgerichts zu den Haftgründen der Flucht- und Verdunkelungsgefahr sowie zur Verhältnismäßigkeit der Haft sind abstrakt gehalten, tragen den Umständen des Einzelfalles nicht angemessen Rechnung, sind zudem lückenhaft und insgesamt nicht hinreichend nachvollziehbar.

aa) Von der dem Beschwerdeführer drohenden erheblichen Freiheitsstrafe abgesehen, benennt die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts keine konkreten Anhaltspunkte, die die Gefahr einer Flucht – insbesondere ins Ausland – zumindest nahelegen würden. Maßgebliche, gegen eine Flucht sprechende Umstände werden nicht erörtert. Es bleibt daher unklar, ob diese durch das Gericht zutreffend berücksichtigt worden sind. Der Beschwerdeführer ist nach den – insoweit nicht zu beanstandenden – Ausführungen des Oberlandesgerichts sozial und beruflich in Deutschland fest verankert. Nach seinen unwiderlegten Ausführungen mit Schriftsatz vom 9. März 2018 hat er in jüngerer Zeit erhebliche finanzielle Investitionen in seine Zahnarztpraxis getätigt. In Kenntnis der durch den Geschädigten unmittelbar nach der Tat erstatteten Anzeige hat er sich noch kurz vor seiner Festnahme mit der gesondert verfolgten P. zu zukünftigen Abrechnungsfragen in der Gemeinschaftspraxis ausgetauscht, was gegen die Annahme des Oberlandesgerichts spricht, er werde die Praxis nicht fortführen, sondern sich ins Ausland absetzen. Auch nach dem durch die Kriminalpolizei telefonisch erfolgten Hinweis auf laufende Durchsuchungsmaßnahmen ist der Beschwerdeführer nicht geflüchtet, sondern hat sich mit seinem Verteidiger unverzüglich zu seiner zu diesem Zeitpunkt noch in Durchsuchung befindlichen Wohnung begeben. Konkrete Feststellungen zu Erfahrungen oder Kontakten des Beschwerdeführers, die ein Leben im Ausland „auf der Flucht“ ermöglichen könnten, sind ebensowenig getroffen wie zu seinen nach der Auffassung des Oberlandesgerichts eine solche Flucht ermöglichenden finanziellen Ressourcen. Dass diese letztlich auf Vermutungen statt auf gesicherter Grundlage beruhen, zeigt der Umstand, dass in den polizeilich ausgewerteten Telekommunikationsvorgängen zwischen dem Beschwerdeführer und der Beschuldigten P. erhebliche Ausgleichsverpflichtungen des Beschwerdeführers an seinen Sozius erwähnt werden, die er mit dem Hinweis kommentierte, er könne diesen nicht nachkommen. Die in der angegriffenen Entscheidung aufgezeigte Möglichkeit einer zahnärztlichen Tätigkeit „im Ausland“ bleibt rein spekulativ.

Im Hinblick auf eine angenommene Verdunkelungsgefahr genügt die angegriffene Entscheidung verfassungsrechtlich gebotenen Begründungsanforderungen ebenfalls nicht. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer beabsichtigt hat, die Aufklärung der Tat unlauter zu verhindern oder zu erschweren, hat das Oberlandesgericht in seiner angegriffenen Entscheidung nicht benannt. Darüber hinaus ist nicht dargetan, dass etwaige Verdunkelungshandlungen angesichts des in dem hier maßgeblichen Zeitraum der Untersuchungshaft bereits fortgeschrittenen Ermittlungsstadiums überhaupt noch erfolgversprechend hätten sein können. Soweit das Gericht bei Herleitung der Verdunkelungsgefahr auf das vorangegangene Verhalten des Beschwerdeführers abstellt, hat es dieses lediglich punktuell gewürdigt. Im Hinblick auf mögliche Verdunkelungshandlungen des Beschwerdeführers durch eine Beeinflussung des Geschädigten fehlt eine erkennbare Befassung mit dem Umstand, dass der Geschädigte sich nach der Tat weiterhin (auch) in München aufgehalten hat, ohne dass der Beschwerdeführer bis zu seiner Festnahme versucht hätte, auf ihn einzuwirken. Durch das Oberlandesgericht unerwähnt bleibt ferner, dass der Geschädigte seinerseits den unmittelbaren Kontakt zu dem Beschwerdeführer gesucht und ihn in dessen Zahnarztpraxis aufgesucht hatte. Kurz nach der Tat hatte der Geschädigte den Beschwerdeführer zudem in einer elektronischen Nachricht von seiner Strafanzeige berichtet, ihm seine Adresse in Frankreich mitgeteilt und – nach Aktenlage – versucht, den Beschwerdeführer dazu zu provozieren, ihn – den Geschädigten – aufzusuchen („P., this is my address … Come and kill me“). Ferner setzt sich der Beschluss des Oberlandesgerichts nicht damit auseinander, dass der Beschwerdeführer anlässlich der Durchsuchungsmaßnahme freiwillig den Tresor öffnete, in dem sich eine Schreckschusspistole mit DNA-Anhaftungen des Geschädigten befand, und insoweit Kooperationsbereitschaft mit den Ermittlungsbehörden zeigte.

bb) Schließlich ist die Verhältnismäßigkeit der Haft nicht hinreichend begründet. Der Hinweis auf die bis dahin lediglich kurze Dauer der Haft genügt schon deshalb nicht, weil der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 9. März 2018 detailliert dargelegt hatte, auch eine bereits kurze Haft könne sich für seine Praxis und ihn irreparabel existenzvernichtend auswirken. Ob dieser Umstand in die Abwägung eingeflossen ist, lässt sich dem Beschluss des Oberlandesgerichts nicht entnehmen.2

Also: „Butter bei die Fische“ ist die Devise bei Haftentscheidungen. Ich frage mich, warum das BVerfG das immer wieder betonen muss…..

Wenn das LG gegen das OLG aufmuckt, oder: „Pendeltür in Braunschweig“

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Der regelmäßige Leser dieses Blogs weiß, dass ich gerne Geschichten erzählen = von weiteren Abläufen in Verfahren berichte. Und das will ich auch heute tun. Ich erinnere dazu zunächst an den LG Braunschweig, Beschl. v. 05.03.2015 – 15 Ns 53/15 – mit: Verdunkelungsgefahr? – aber nicht mehr nach Vernehmung. Da hatte das LG Braunschweig einen vom AG Wolfenbüttel nach einer Hauptverhandlung wegen Verdunkelungsgefahr erlassenen Haftbefehl aufgehoben mit der Begründung: Da ist nichts mehr zu verdunkeln, denn die Zeugen, um die es geht, sind verwertbar richterlich vernommen. So weit, so gut?

Nun, nicht ganz. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat das nicht hingenommen und ist in die Beschwerde gegangen. Ergebnis: Das OLG Braunschweig hat im OLG Braunschweig, Beschl. v. 23.03.2015 – 1 Ws 73 15 – den landgerichtlichen Aufhebungsbeschluss aufgehoben. Begründung: Es bestehe doch Verdunkelungsgefahr, denn: Die Aussage eines der (bedrohten [?] Zeugen sei nicht nur inhaltlich von Bedeutung ist, sondern auf dessen Aussageverhalten und Glaubwürdigung komme es bei der Beweiswürdigung in entscheidender Weise an. Und das OLG hat dann gleich ein weiteres Netz gespannt und einen weiteren Haftgrund ins Feld geführt, nämlich § 112a StPO – also Wiederholungsgefahr. Nach der Entscheidung dürfte der Angeklagte wieder in Haft genommen worden sein.

Nun, da wird er aber wahrscheinlich nicht mehr sein. Denn das LG Braunschweig hat aufgemuckt und hat im LG Braunschweig, Beschl. v. 01.04.2015 – 15 Ns 53/15 – den vom OLG aufrecht erhaltenen Haftbefehl des AG Wolfenbüttel erneut aufgehoben (nein, das ist trotz des Beschlussdatums kein Aprilscherz). Begründung: Der Beschluss des OLG setze sich „mit zwei Aspekten, die der Annahme von Verdunkelungsgefahr entgegenstehen, aus Sicht der Kammer nicht auseinander.“ Denn:

a) Wenn Verdunkelungshandlungen nicht geeignet sind, die Wahrheitsfindung zu erschweren, darf die Untersuchungshaft nicht angeordnet werden (Meyer-Goßner/Schmitt, a.O., § 112, Rn. 35): Die Zeugen B und S. haben trotz der behaupteten (versuchten) Einwirkung des Angeklagten belastend ausgesagt. Warum sollten sie sich in Zukunft „beeindruckter“ zeigen? Zudem: Der – wichtigere – Zeuge S. wohnt inzwischen in einem weit entfernten soweit ersichtlich dem Angeklagten unbekannten Umfeld. Wie soll der Angeklagte faktisch überhaupt auf den Zeugen einwirken können?

b) Etwaige Einwirkungshandlungen des Angeklagten auf die Zeugen S. und B. sind schließlich auch angesichts der im Verfahr n eingetretenen Beweislage nicht geeignet, die Ermittlung der Wahrheit im Sinne des § 112 StPO zu erschweren…..“

Und dazu gibt es dann ein wenig Verfassungsrecht:

„Indes stellt die Anordnung der Untersuchungshaft einen massiven Grundrechtseingriff dar. § 112 StPO ist daher als Ermächtigungsgrundlage für einen Grundrechtsrechtseingriff – wie alle zu Grundrechtseingriffen ermächtigenden Gesetze – „im Lichte des Grundrechtseingriffs“ restriktiv auszulegen. Nicht jede Erschwernis der Wahrheitsfindung rechtfertigt einen Grundrechtseingriff, sondern nur solche, die über das normale Maß an Schwierigkeiten hinausgeht, mit denen der Tatrichter üblicherweise bei der Wahrheitsfindung zu „kämpfen“ hat. Die Situation aber, dass der Tatrichter bei abweichenden/fehlenden Angaben des Zeugen auf dessen frühere Angaben gegenüber einem (Ermittlungs-)richter zurückgreifen muss, ist der StPO jedoch nicht fremd und wird auch über die freie Beweiswürdigung des Tatrichters gelöst (im Ergebnis ebenso auch schon LG Verden, StV 1983 248, 249).“

Und auch mit dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr hat das LG Probleme:

„Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr besteht aus Sicht der Kammer ebenfalls nicht. Zwar besteht Anlass zur Besorgnis, dass der Angeklagte weiterhin Betäubungsmittelstraftaten der verfahrensgegenständlichen Art und damit Katalogstraftaten des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO begeht. Die erwartete Begehung von Katalogstraftaten des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO rechtfertigt aber nur dann den Erlass eines Haftbefehls, wenn es sich bei diesen Taten um solche handelt, die jede für sich eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung darstellt. Die Taten müssen vom Unrechtsgehalt und im Schweregrad überdurchschnittlich und geeignet sein, in weiten Kreisen der Bevölkerung das Gefühl der Geborgenheit zu beeinträchtigen (vgl. zu alledem Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 112a, Rn. 9). Zwar war das Amtsgericht der Meinung, dass die Begehung von Taten der Art, deren Begehung auch für die Zukunft zu erwarten ist, die Verhängung einer Freiheitsstrafe von jeweils 1 Jahr und 2 Monaten rechtfertigt. Rein tatsächlich ging es aber jeweils nur um den Verkauf von 1 g Marihuana. Solche Taten sind aus Sicht der Kammer nicht geeignet, die beschriebenen Irritationen tief der Bevölkerung. hervorzurufen. Ob sich der Senat des vorgenannten Tatsachenhintergrundes bewusst war, erschließt sich dem o.g. Beschluss nicht.

Wird man alles beim OLG nicht so gerne lesen. Was mir im landgerichtlichen Beschluss nur fehlt, ist ein deutlicherer Hinweis des Vorsitzenden zur Strafhöhe. Verhängt worden sind nämlich jeweils 1 Jahr und 2 Monate für den Verkauf von 1 g Marihuana. Wenn man den Beschluss vom 01.04.2015 richtig liest, dürfte dem LG das aber zu hoch sein. Das OLG scheint damit keine Problem zu haben, denn dazu findet man im OLG Braunschweig, Beschl. v. 23.03.2015 – 1 Ws 73/15 nichts.

Die Sache ist wahrscheinlich noch nicht zu Ende, dürfte inzwischen nämlich eine „Kopfsache“ geworden sein. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die StA den Beschluss vom 01.04.2015 hinnimmt. Ich denke, der Kollege, der mir die Entscheidungen übersandt hat, wird weiter berichten. Ich dann auch.

Ach so: Hut ab vor dem LG und bemerkenswert, dass der Kollege dort nicht so einfach einknickt.

Nachtrag um 12.00 Uhr: Ich werde dann gerade auf den OLG Braunschweig, Beschl. v. 16.04.2015 – 1 Ws 90/15 – aufmerksam gemacht. Die Sache ist/war also nicht zu Ende. Die StA hat Beschwerde eingelegt und beim OLG Braunschweig dann Recht bekommen. Allerdings mit der formalen Begründung: Bindungswirkung der Entscheidung des Beschwerdegerichts. Ob das für Haftentscheidungen auch gilt, wage ich zu bezweifeln, kann ich derzeit aber nicht abschließend prüfen. Jedenfalls hält das OLG an der Verdunkelungsgefahr fest, ohne im Einzelnen auf die Argumente des LG einzugehen. Und zur Wiederholungsgefahr: „Es kommt vor diesem Hintergrund nicht darauf an, ob die Voraussetzungen des gemäß § 112 a Abs. 2 StPO subsidiären Haftgrundes der Wiederholungsgefahr ebenfalls gegeben sind.“