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U-Haft I: Sechs-Monats-Prüfung durch das OLG, oder: Das dürfte dem BVerfG wohl nicht reichen

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Und dann Wochenstart, und zwar geht es in die 10.KW mit zwei Haftentscheidungen.

Zunächst kommt hier der OLG Köln, Beschl. v. 06.02.2025 – 2 Ws 48-51/24 – zum Haftgrund der Fluchtgefahr.

Ergangen ist der Beschluss im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 120 ff. StPO, also Sechs-Monats-Prüfung. Das OLG hat die Fortdauer der U-Haft für weitere drei Monate angeordnet und führt aus:

„Zur Begründung wird auf die den Angeschuldigten und deren Verteidigungen bekannt gemachte Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 21.01.2025 sowie deren den Angeschuldigten zu 3. betreffende und dessen Verteidigung übermittelte – ergänzende -Stellungnahme vom 31.01.2025 verwiesen.

Im Hinblick auf die im Haftprüfungsverfahren seitens des Angeschuldigten zu 3. vorgebrachten Einwendungen, die sich gegen die Annahme eines Haftgrundes sowie die Verhältnismäßigkeit der Vollziehung des Haftbefehls richten, bemerkt der Senat ergänzend das Folgende:

1. Auch hinsichtlich des Angeschuldigten zu 3. besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Aus dem dringenden Verdacht der Begehung von – den dem Haftbefehl des Amtsgerichts Aachen vom 17.05.2024 in Abweichung von der Anklageschrift vom 13.12.2024, die für seine Person von vier Taten ausgeht, zu Grunde liegenden und damit für den Senat im Haftprüfungsverfahren maßgeblichen – drei Taten nach §§ 259 Abs. 1, 260 Abs. 1 Nr. 1, 2, 260a Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB resultiert für den bislang nicht vorbestraften und damit besonders haftempfindlichen Angeschuldigten ein ganz erheblicher Fluchtanreiz. Dieser wird dadurch, dass ihm nach dem weiteren Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens mit der Anklage noch ein weiterer Fall der gewerbsmäßigen Bandenhehlerei zur Last gelegt wird, noch verstärkt. Die Taten sind jeweils mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu ahnden, wobei für die Annahme minder schwerer Fälle bislang nichts ersichtlich ist. Der Angeschuldigte zu 3., der nach dem Ermittlungsergebnis Teil einer professionell vorgehenden Bande ist, durch deren Taten – auch in den dem Angeschuldigten zu 3. konkret zur Last gelegten Fällen – erhebliche Schäden entstanden sind, muss vor diesem Hintergrund mit einer empfindlichen, nicht aussetzungsfähigen Freiheitsstrafe rechnen. Ausreichende und hinreichend tragfähige fluchthemmende Umstände bestehen aus den in dem Haftbefehl ausgeführten Gründen sowie aus den von der Generalstaatsanwaltschaft im hiesigen Haftprüfungsverfahren in den Verfügungen vom 17.01.2025 und 31.01.2025 aufgezeigten Gründen nicht. Dabei hat der Senat gesehen, dass der Angeschuldigte zu 3. über familiäre Bindungen und einen Wohnsitz in den Niederlanden verfügt. Weder diese noch die in den Niederlanden ausgeübte selbständige Tätigkeit als Leiter eines Baggerbetriebes erscheinen nach derzeitigem Erkenntnisstand indes hinreichend tragfähig, um den aufgezeigten Fluchtanreiz auszuräumen bzw. diesem ausreichend entgegenzuwirken. Die Generalstaatsanwaltschaft hat insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass der Angeschuldigte zu 3. hinsichtlich seines Wohnsitzes selbst einschränkend erklärt hat, dass der Verlust seines kreditfinanzierten Eigenheimes drohe, und hinsichtlich seiner selbständigen Tätigkeit zu berücksichtigen sei, dass die ihm zur Last gelegten Taten auf seinem Betriebsgelände begangen worden sein sollen und davon auszugehen ist, dass seine berufliche Tätigkeit zumindest teilweise mit den verfahrensgegenständlichen Taten zusammenhing. In der Gesamtschau, insbesondere mit Blick auf die beträchtliche Straferwartung, rechtfertigt schließlich auch der Umstand, dass der Angeschuldigte zu 3. am 21.06.2024 in den Niederlanden vom Vollzug der Auslieferungshaft verschont worden, den ihm in diesem Zusammenhang erteilten Weisungen nachgekommen ist und er sich insbesondere am 22.08.2024 zur Auslieferung in die Bundesrepublik freiwillig gestellt hat, derzeit weder eine Aufhebung noch eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls. Angesichts des kurzen Zeitraums von nur wenigen Wochen, in dem sich der Angeschuldigte zu 3. auf freiem Fuß befand, kommt allein diesem Umstand aktuell keine ausschlaggebende Bedeutung zu, zumal der Senat nicht auszuschließen vermag, dass der freiwilligen Gestellung zur Auslieferung die Hoffnung zugrunde lag, dass die Verschonung in der Bundesrepublik fortgesetzt bzw. beibehalten wird.

2. Der Vollzug der Untersuchungshaft steht vor diesem Hintergrund zu der Bedeutung der Sache, der Schwere der Taten, derer der Angeschuldigte zu 3. dringend verdächtig ist, und der zu erwartenden Strafe auch nicht außer Verhältnis (vgl.§§ 112 Abs. 1 S. 2, 120 Abs. 1 S. 1 StPO). Insbesondere liegen die Voraussetzungen für eine Verschonung des Angeschuldigten zu 3. vom Vollzug der Untersuchungshaft nach dem bisherigen Erkenntnisstand und der Aktenlage bislang nicht vor. Es kann jedenfalls derzeit nicht hinreichend tragfähig angenommen werden, dass der Zweck der Untersuchungshaft durch weniger einschneidende Maßnahmen, ggf. auch die Leistung einer von dem Angeschuldigten zu 3. angebotenen Sicherheit in Höhe von 10.000-15.000,- EUR, erreicht werden kann. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls — insbesondere mit Blick auf die von der Verteidigung im Schriftsatz vom 30.01.2025 aufgezeigten Umstände, insbesondere die freiwillige Gestellung im Auslieferungsverfahren – in Betracht kommen und gerechtfertigt erscheinen kann, wird indes in der in Kürze beginnenden Hauptverhandlung und deren weiteren Verlauf auf der Grundlage der dort zur Verfügung stehenden, ggf. weiteren Erkenntnismöglichkeiten einer erneuten Überprüfung durch das Tatgericht zu unterziehen sein.

Inwieweit daneben auch der (subisdiäre) Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO) den Vollzug der Untersuchungshaft rechtfertigt, muss der Senat vor diesem Hintergrund nicht entscheiden.“

Ja, richtig gelesen, mehr steht nicht im Beschluss. Ich bin mir nicht so sicher, ob die Ausführungen des OLG betreffend die Angeschuldigten 1 und 2 dem entsprechen, was das BVerfG unter „Begründungstiefe“ bei Haftfortdauerentscheidungen versteht. Ich habe da erhebliche Zweifel. Mich hätte die Ansicht des BVerfG dazu schon interessiert :-).

StrEG I: Entschädigung wegen erlittener U-Haft, oder: Zumindest grob fahrlässige Mitverusachung?

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Heute ist es Freitag und an den Freitagen geht es immer ums Geld. Dazu gibt es meist RVG-Entscheidung. Heute gibt es die aber nicht. Es geht zwar auch ums Geld, aber es geht um die Strafrechtsentschädigung nach dem StREG. Dazu stelle ich zwei Entscheidungen vor.

Hier kommt zunächst der LG Bonn, Beschl. v. 12.12.2024 – 64 Qs 69/24 – zur Frage einer Strafrechtsentschädigung wegen erlittener Untersuchungshaft. Der ehemalige Beschuldigte hat sich in der Zeit 14.04.2024 bis zum 09.09.2024 in Untersuchungshaft befunden. Gegen ihn war Haftbefehl wegen Vergewaltigung erlassen worden. Der dringende Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer gründete „auf den Angaben der Geschädigten, das sonstige Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen und „das Geständnis“ des Beschwerdeführers.“ Im Ermittlungsverfahren ist es sowohl hinsichtlich der Angaben der Geschädigten als auch der des Beschuldigten, der zunächst keinen Verteidiger hatte, hin und her gegangen. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Es ist dann schließlich Anklage erhoben worden. Mit Urteil vom 09.09.2024 wurde der Angeklagte dann freigesprochen. Der Haftbefehl gegen ihn wurde aufgehoben. In der Urteilsformel ist ein Ausspruch zur Entschädigungspflicht ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls und der schriftlichen Urteilsgründe unterblieben. In den Urteilsgründen heißt es dann aber:

„Die Staatskasse ist gemäß § 5 Abs. 2 StrEG nicht verpflichtet, den Angeklagten für die erlittene Untersuchungshaft zu entschädigen. Denn der Angeklagte hat die Strafverfolgungsmaßnahme – hier insbesondere die Festnahme und Inhaftierung aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Siegburg vom 15.04.2024 – vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht. Denn der Haftbefehl des Amtsgerichts Siegburg erging auf Grundlage der bis dahin geführten Ermittlungen, insbesondere aufgrund des gegenüber der Polizei durch den Angeklagten eingeräumten Tatgeschehens, welches identisch war mit dem in der Anklageschrift erhobenen Tatvorwurf. Durch seine im Anschluss hieran widersprüchlichen Einlassungen konnte der Angeklagte den Tatvorwurf nicht entkräften, sondern verstärkte den gegen ihn bestehenden Tatverdacht. Erst durch die in der Hauptverhandlung durchgeführte Beweisaufnahme erhärteten sich die Zweifel an dem Tatvorwurf, ohne dass das Gericht von der Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten überzeugt war. Da im Übrigen der Haftgrund der Fluchtgefahr auch zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens gegeben war;, hat der Angeklagte sowohl durch seine Lebensumstände als auch durch sein eigenes Einlassungsverhalten eine Entschädigung für erlittene Untersuchungshaft grob fahrlässig verwirkt.“

Dagegen die sofortige Beschwerde des Beschuldigten, die Erfolg hatte:

„Die gemäß § 9 Abs. 2 StrEG i.V.m. § 311 Abs. 2 StPO zulässige sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Die Kammer ist nicht davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer seine Inhaftierung durch seine widersprüchlichen und lebensfremd wirkenden Einlassungen mitverursacht hat.

Beurteilungsgrundlage ist nicht das Ergebnis der Hauptverhandlung, sondern es ist regelmäßig darauf abzustellen, wie sich der Sachverhalt in dem Zeitpunkt dargestellt hat, in dem die Maßnahme angeordnet oder aufrechterhalten wurde. Es sind dabei alle zu diesem Zeitpunkt bekannten Umstände zu würdigen und in Beziehung zu dem Verhalten des Beschuldigten und zum jeweiligen Tatvorwurf zu setzen (BVerfG, Beschluss vom 12.09.1995 — 2 BvR 2475/94 -; OLG Düsseldorf, Beschlüsse vom 06.06.2012 — III – 1 Ws 111/12 — sowie vom 25.06.2013 — III – 2 Ws 275/13 -; Meyer-Goßner / Schmitt, 67. Aufl., § 5 StrEG, Rdnr: 10).

Nicht oder nicht mehr ursächlich für die Strafverfolgungsmaßnahme ist das Verhalten des Beschuldigten, wenn die Maßnahme auch ohne sein Verhalten angeordnet worden wäre (Meyer-Goßner / Schmitt, aaO, Rn. 7, mwN).

So liegt der Fall hier. Der Haftbefehl wäre bei vernünftiger Würdigung der den Beschwerdeführer belastenden Aussage der Anzeigeerstatterin und der objektiven Gesamtumstände mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch ohne dessen später widerrufener Angaben in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung vom 15.04.2024 ergangen.

Auch für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls gegen den Beschwerdeführer im Haftprüfungstermin am 25.07.2024 waren dessen widersprüchliche Einlassungen vor dem Hintergrund der bisherigen Ermittlungsergebnisse und der Angaben der Zeugen pp. und pp. nicht ausschlaggebend.

Der Beschwerdeführer hatte sich in eine Situation begeben, die sich im Zeitpunkt der Haftentscheidung ohnehin als in hohem Maße erklärungsbedürftig und verfänglich darstellte, indem er gemeinsam mit einer fremden, sichtlich betrunkenen Frau aus dem Bus an einer ihm nicht bekannten Haltestelle ausstieg und dieser in eine vom Weg aus schlecht einsehbare Weihnachtbaumplantage folgte, wo beide ihre Kleidung infolge des Kontaktes mit dem Gras und Waldboden beschmutzten. Zudem sprachen die Kratzspuren im Gesicht des Beschwerdeführers und die Hilferufe der Geschädigten gegen einen einvernehmlichen Sexualkontakt. Auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer sich vom Tatort entfernte, trug nicht eben dazu bei, den Tatverdacht gegen ihn zu verringern.

Angesichts dieser Ausgangssituation und der auf die Ermittlungsbeamten glaubhaft wirkenden Aussage der Geschädigten kam es für die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft bei der gebotenen ex-ante-Betrachtung schon nicht mehr darauf an, dass der Beschwerdeführer sich in seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung in erheblichem Maße selbst belastet hat, indem er erklärte, er habe die Anzeigeerstatterin unbedingt küssen wollen und seine Finger in ihre Scheide eingeführt. Als sie Anstalten gemacht habe zu schreien, habe er ihr den Mund zugehalten. Auch seine ausweichende Antwort auf die Frage, ob er nicht gemerkt habe, dass die Frau das nicht gewollt habe, war letztlich für die Haftentscheidung ohne Bedeutung.“

Bei der Gelegenheit: Wer sich fragt, was eigentlich aus der geplanten Novellierung des StREG geworden ist ( vgl. hier: Neues aus Berlin II: Strafverfolgungsentschädigung, oder: Kommt endlich eine Reform des StrEG?): Das lässt sich leicht beantworten, nämlich: Nichts. Die ist im Ampelaus untergegangen. Vielleicht kommt ja dann in der 21. Legislaturperiode wieder etwas.

StPO II: Überwachung von Besuchen/Schriftverkehr, oder: Verdunkelungsgefahr?

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Die zweite Entscheidung kommt mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 26.03.2024 – 1 Ws 26/24 – aus Baden Württemberg. Das OLG hat Stellung genommen zu Beschränkungen während der Untersuchungshaft, nämlich Überwachung des Schriftverkehrs und von Besuchen nach Verurteilung:

„Der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer, der nach § 126 Abs. 2 S. 2 und 3 StPO während des Revisionsverfahrens für Entscheidungen über Maßnahmen nach § 119 StPO zuständig bleibt (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 126 Rn. 11, 12), hat die Aufhebung der Haftbeschränkungen zu Recht abgelehnt. Diese sind weiterhin erforderlich und verhältnismäßig.

1. Beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO sind zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht, die nicht anders abgewehrt werden kann (BVerfG, NStZ-RR 2015, 79; OLG Stuttgart, BeckRS 2022, 2423). Für diese Beurteilung sind nicht nur Haftgründe zu berücksichtigen, auf die der Haftbefehl gestützt ist. Herangezogen werden können auch in den Haftbefehl nicht aufgenommene Haftgründe (OLG Stuttgart aaO). Insbesondere sind Beschränkungsanordnungen zur Vermeidung der Verdunkelungsgefahr zulässig, auch wenn der Haftbefehl nur den Haftgrund der Fluchtgefahr enthält (KG, StV 2010, 370; OLG Celle, NStZ-RR 2010, 159; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 119 Rn. 5).

Da bei der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb nur unvermeidlichen Einschränkungen seiner Grundrechte unterworfen werden darf, genügt die bloße, rein theoretische Möglichkeit, dass er seine Freiheiten missbrauchen könnte, nicht. Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Prüfung, ob konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der in § 119 Abs. 1 StPO bezeichneten öffentlichen Interessen bestehen (BVerfG aaO; KG, NStZ-RR 2014, 377 und BeckRS 2022, 38740 jew. mwN).

Solche Anhaltspunkte erfordern aber weder schon begangene Vertuschungs- oder Verdunkelungshandlungen (OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2024, 2765; 2023, 34377; BeckOK-StPO/Krauß, Stand: 1.1.2024, § 119 Rn. 12) noch Hinweise auf konkrete Vorhaben des Gefangenen (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 119 Rn. 10). Vielmehr können zur Beurteilung der einem Haftzweck zuwiderlaufenden Gefahr etwa das Vortat-, Tat- und Nachtatverhalten, sonstige Umstände der Tatbegehung, die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten und die Art der ihm zur Last gelegten Tat(en) herangezogen werden (Löwe-Rosenberg/Gärtner, StPO, 27. Aufl., § 119 Rn. 21, 22). Ebenso darf auf allgemeine kriminalistische Erfahrungen abgestellt werden. So ist etwa anerkannt, dass Absprachen unter Tatbeteiligten jedenfalls dann naheliegen, wenn diese nicht geständig sind. Umso mehr gilt dies, wenn Berührungspunkte zu Angehörigen und Freunden bestehen, sodass nicht nur ein gesteigertes Vertrauensverhältnis besteht, sondern diese sich zudem regelmäßig dem Angeklagten besonders emotional verpflichtet fühlen (OLG Frankfurt a.M., BeckRS 2023, 34377).

a) Danach besteht Verdunkelungsgefahr im Sinne des § 119 Abs. 1 S. 1 StPO in Fällen schwererer Kriminalität schon dann, wenn kein Geständnis vorliegt und ein Näheverhältnis entweder zwischen einem Untersuchungsgefangenen und einem bzw. weiteren Tatbeteiligten oder zwischen dem Untersuchungsgefangenen und einer oder mehreren Beweispersonen besteht, etwa weil Familienangehörige, Verwandte, Freunde oder Bekannte in die Tat involviert sind und/oder ihnen innerhalb der Beweisführung eine zentrale oder jedenfalls nicht unbedeutende Rolle zukommen kann. Dies gilt nicht nur bei terroristischen Straftaten, Bandendelikten, Clan-Kriminalität und Formen der organisierten Kriminalität, sondern allgemein für gewichtige Vorwürfe, namentlich von Verbrechenstatbeständen.

In diesen Fallgruppen liegt bei fehlendem Geständnis und einem Näheverhältnis im oben dargelegten Sinne nach allgemeiner Erfahrung die Gefahr einer die Wahrheitsermittlung erschwerenden Beeinflussung auf der Hand, die Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO ohne Weiteres rechtfertigt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um ein Näheverhältnis unter Tatbeteiligten oder zu im Hauptverfahren zu vernehmenden Zeugen, deren Aussagen nach den Ermittlungsergebnissen eine nicht nur unwesentliche Bedeutung zukommt, handelt. Denn in Fällen schwererer Kriminalität besteht eine Gefahr der Erschwerung oder gar Vereitelung der Wahrheitsfindung nicht nur bei unkontrolliertem Informationsaustausch zwischen nicht geständigen Tatbeteiligten untereinander, sondern ebenso, wenn der Untersuchungsgefangene unüberwacht mit Dritten oder über Dritte kommunizieren könnte. Die Praxis zeigt, dass Untersuchungsgefangene immer wieder versuchen, ihnen nahestehende Zeugen – auch unter Einsatz von Drohungen – dahin zu beeinflussen, sich allein im Interesse des Inhaftierten auf die Rechte aus §§ 52, 55 StPO zu berufen, von diesen Rechten in einer bestimmten Weise Gebrauch zu machen oder sich bei Dritten für ein bestimmtes Aussageverhalten einzusetzen.

b) Auch der Zweck der Untersuchungshaft und der sie flankierenden Anordnungen gebietet, die Verdunkelungsgefahr im Sinne des § 119 Abs. 1 S. 1 StPO weit auszulegen und der Vorschrift einen breiten Anwendungsbereich zu verschaffen, zumal der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 119 StPO keine inhaltliche Einschränkung der Überwachungsmöglichkeiten beabsichtigte (vgl. KK-StPO/Gericke aaO § 119 Rn. 23). Neben der Gewährleistung der Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und der Sicherung der Anwesenheit des Angeklagten im Strafverfahren zielen die Haftanordnung und die Beschränkungen darauf ab, eine – im Falle unkontrollierten Informationsaustauschs mit nahestehenden Dritten naheliegende – Störung der Tatsachenermittlungen durch Beweiserschwerung oder -vereitelung zu verhindern (vgl. KG NStZ-RR 2014, 377; MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl., § 119 Rn. 8, 10).Die Möglichkeit, Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO zu treffen, die die Einflussnahme auf mögliche Zeugen verhindern sollen, ist zudem vor dem Hintergrund der Regelung des § 243 Abs. 2 S. 1 StPO zu sehen, die ebenfalls die Unbefangenheit der Zeugen bewahren und schützen will, die unbeeinflusst bzw. ohne Kenntnis der Einlassung des Angeklagten und der Bekundungen anderer Beweispersonen aussagen sollen (KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 243 Rn. 14). Das Gebot bestmöglicher Aufklärung (vgl. MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 243 Rn. 19) ist nur gewahrt, wenn mit der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO und des § 243 Abs. 2 S. 1 StPO dafür Sorge getragen wird, dass Beeinflussungen der Beweispersonen nicht erst im Zuge der Hauptverhandlung, sondern schon während der Untersuchungshaft ausgeschlossen werden. All dies spricht ferner dafür, die Anforderungen an die Begründung für angeordnete Beschränkungsmaßnahmen nicht zu überspannen.c) An alldem vermag ein bereits ergangenes nicht rechtskräftiges Urteil nichts zu ändern. Beruht das angefochtene Urteil nicht auf einem Geständnis, sodass im Falle einer Urteilsaufhebung erneut die verfügbaren Beweismittel herangezogen werden müssen, um die notwendigen Feststellungen treffen zu können, besteht bei unkontrolliertem Informationsaustausch die Verdunkelungsgefahr regelmäßig fort, sodass Beschränkungsanordnungen unverändert erforderlich sind. Denn dass ein nicht geständiger Angeklagter aufgrund von Beweismitteln verurteilt wurde, spricht nicht gegen, sondern gerade für das Vorliegen einer Verdunkelungsgefahr (OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2023, 34377).

Anders verhält es sich nur dann, wenn der Sachverhalt in vollem Umfang und durch gesicherte Beweise in einer Weise aufgeklärt ist, dass der Angeklagte die Wahrheitsermittlung nicht mehr erfolgreich wird behindern können (KG, BeckRS 2022, 38740). So besteht etwa dann, wenn ein Angeklagter in der letzten Tatsacheninstanz den gesamten Tatvorwurf einschließlich des Vor- und Nachtatgeschehens, der Tathintergründe und aller relevanten Begleitumstände umfassend eingeräumt hat, keine begründete Gefahr mehr, dass anlässlich nicht überwachter Kontakte Verdunkelungshandlungen abgesprochen werden mit der Folge, dass angeordnete Beschränkungen nur noch daran zu messen sind, ob sie zur Abwehr einer Fluchtgefahr erforderlich sind (OLG Stuttgart aaO).

Die Erwägung, eine Verdunkelungsgefahr könnte nach einem ergangenen Urteil schon deshalb entfallen, weil Inhalte bisheriger Zeugenaussagen durch Bekundungen der am Verfahren beteiligten Richter und Staatsanwälte eingeführt werden können (offengelassen von KG, BeckRS 2022, 38740), überzeugt nicht und ließe den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr leerlaufen. Verfahrensbeteiligte vorangegangener Instanzen bieten als Zeugen vom Hörensagen schon keinen vollwertigen Ersatz für die Vernehmung unmittelbarer Zeugen. Die Möglichkeit, Aussagen mittelbarer Zeugen, denen häufig nur minderer Beweiswert zukommt, ersatzweise einzuführen, beseitigt für sich genommen die – vom Gefangenen ausgehende – Verdunkelungsgefahr nicht. Überdies müssten mit der Prüfung des § 119 Abs. 1 StPO befasste Strafkammervorsitzende bzw. Beschwerdegerichte entweder die Erfolgsaussichten des Rechtsmittelangriffs gegen das ergangene Urteil prognostizieren oder – den Erfolg des Rechtsmittels unterstellt – den Beweisaufnahmeverlauf einer erneuten Hauptverhandlung antizipieren. Abgesehen davon, dass dies kaum praktikabel und mit dem im Instanzenzug vorgesehenen Zuständigkeitsgefüge schwerlich vereinbar erscheint, ist zu bedenken, dass in größeren Fällen die schriftlichen Urteilsgründe als Prüfungsgrundlage nicht sofort, sondern oft erst nach Monaten vorliegen werden.

d) Der Senat hat bei alledem weder die gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung außer Acht gelassen noch verkannt, dass bis zur Rechtskraft des Urteils für Untersuchungsgefangene die Unschuldsvermutung gilt und die Beschränkungen deren Grundrechte tangieren. Allerdings ist zu beachten, dass der Sicherstellung der Aburteilung von Straftätern als Teil des Rechtsstaatsprinzips ebenfalls Verfassungsrang zukommt (vgl. nur BVerfG NJW 2013, 1058, 1060; KK-StPO/Fischer, 9. Aufl., Einl. Rn. 88) und Beschränkungen in Form von Überwachungen der Außenkontakte nur einen vergleichsweise geringfügigen Eingriff darstellen, da Kontakt und Kommunikation des Untersuchungsgefangenen gerade nicht unterbunden werden.

2. Ausgehend von diesen Maßstäben liegen hier ausreichende Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr vor, die die angeordneten Beschränkungen rechtfertigen. Gegen die nicht geständige Angeklagte wurde wegen eines Kapitalverbrechens eine langjährige Freiheitsstrafe verhängt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Gefahr des unkontrollierten Informationsaustausches mit nahestehenden, als Zeugen in Betracht kommenden Personen besteht unverändert fort. Der Verdunkelungsgefahr kann nicht anderweitig begegnet werden. Die angeordneten Beschränkungen sind im Hinblick auf die betroffenen Interessen und Rechtsgüter weiterhin erforderlich und angesichts des Tatvorwurfs aus dem Bereich der Schwerkriminalität und der Gefahren für die Wahrheitsfindung verhältnismäßig. Darauf, dass bereits konkrete Vertuschungs- bzw. Verdunkelungshandlungen festgestellt wurden – die Angeklagte tauschte sich vor ihrer Inhaftierung mit Dritten über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage betreffende Umstände aus – kommt es demgegenüber nicht mehr an.“

Na ja, kann man m.e. auch anders sehen-

Haft I: (Wieder)Invollzugsetzung eines Haftbefehls, oder: Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe

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Ich stelle heute drei Entscheidungen zur StPO vor, und zwar zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 30.01.2024 – 2 Ws 12/24 – zu den Anforderungen an die „neu hervorgetretenen Umstände“ als Grundlage für eine Wiederinvollzugsetzung eines Hafbefehls bei erfolgter Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe.

Folgender Sachverhalt: Das AG hat am 06.01.2023 gegen den Angeklagten Haftbefehl wegen des Verdachts des versuchten besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung erlassen. Der Angeklagte wurde am 15.02.2023 festgenommen, der Haftbefehl wurde ihm am 16.02.2023 eröffnet. Auf den am 16.2.2023 durch den Angeklagten gestellten Haftprüfungsantrag und die Anträge auf Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung hat das AG dann am 02.03.2023, nachdem der Verteidiger des Angeklagten Unterlagen übergeben hatte, die einen festen Wohnsitz der Angeklagten mit seiner schwangeren Verlobten und ein seit Sommer 2021 bestehenden Arbeitsverhältnis belegten, den Haftbefehl außer Vollzug gesetzt und dem Angeklagten aufgegeben, sich dreimal wöchentlich bei der zuständigen Polizeiwache zu melden, allen Ladungen Folge zu leisten und sich straffrei zu führen.

Die Staatsanwaltschaft hat am 15.4.2023 Anklage erhoben, welche das LG zur Hauptverhandlung zugelassen hat. Zugleich hat das LG den Haftbefehl aufrechterhalten und weiterhin außer Vollzug gelassen. Die Hauptverhandlung beim LG hat an elf Verhandlungstagen zwischen dem 30.08.2023 und dem 13.12.2023, zu denen der Angeklagte sämtlich erschien ist, stattgefunden. Im Termin am 13.12.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft, den Angeklagten wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren zu verurteilen. Der Verteidiger des Angeklagten beantragte Freispruch. Nach Unterbrechung der Hauptverhandlung zwischen 12:15 und 14:31 Uhr verkündete das LG ein Urteil, mit dem der Angeklagten wegen versuchten besonders schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Im Anschluss an die Urteilsverkündung hat das LG den Außervollzugsetzungsbeschluss aufgehoben und den Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt hat. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, es lägen neu hervorgetretene Umstände vor, die die Verhaftung des Angeklagten erforderlich machten. der Angeklagte sei von einem Freispruch ausgegangen, dann aber verurteilt worden.

Gegen das Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt und gegen die Invollzugsetzung Beschwerde. Diese hatte beim OLG Hamm Erfolg. Das OLG führt u.a. aus:

„Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht (vgl. OLG Hamm Beschl. v. 30.06.2016, Az. III-3 Ws 242/16). Wenn demgegenüber zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit der späteren Strafe zu rechnen gewesen ist und der Angeklagte die ihm erteilten Auflagen korrekt erfüllt und sich dem Verfahren gestellt hat, darf die Haftverschonung nicht widerrufen werden. Selbst der Umstand, dass der um ein günstiges Ergebnis bemühte Angeklagte durch das Urteil die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern der Angeklagte die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Verfahrensausgangs während der Zeit der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen hatte und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachgekommen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.07.2012, 2 BvR 1092/12, BeckRS 2012, 55231; Senatsbeschluss vom 07.08.2012, Az. 2 Ws 252/12, BeckRS 2012, 18209).

b) Die letztgenannte Fallgestaltung ist nach Einschätzung des Senas vorliegend gegeben.

Die Strafkammer ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass eine erhebliche Abweichung zwischen der durch den Haftrichter prognostizierten Straferwartung und der durch den Tatrichter verhängten Freiheitsstrafe nicht feststellbar ist, eine Invollzugsetzung vorliegend daher nicht zu begründen vermag. Denn der Haftrichter ist bei Erlass des Haftbefehls von einer für die Tat einschlägigen Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren ausgegangen, da sich eine Milderung wegen Versuchs nicht aufdränge. Dass die durch die Strafkammer tatsächlich verhängte Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten erheblich nach oben von der Prognose des Haftrichters abweicht, ist – unter Würdigung der bereits im Haftbefehl genannten konkreten Tatumstände und Tatfolgen sowie der Person des (erheblich einschlägig vorbestraften) Angeklagten – nicht anzunehmen.

Soweit die Strafkammer sodann aber ausführt, der die Invollzugsetzung rechtfertigende Umstand liege in der enttäuschten Erwartung des Angeklagten, freigesprochen zu werden, vermag dies nach Einschätzung des Senats eine Invollzugsetzung des Haftbefehls nicht zu begründen.

Denn der Senat geht davon aus, dass der Angeklagte die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Verfahrensausgangs während der Zeit der Außervollzugsetzung im o. g. Sinne sowohl mit Blick darauf, dass er wegen der verfahrensgegenständlichen Tat verurteilt werden könnte, als auch mit Blick auf die im Falle einer Verurteilung zu erwartende Strafhöhe vor Augen gehabt haben muss, wenngleich er die Hoffnung gehabt haben mag, mittels entlastender Beweismittel durchgreifende Zweifel an seiner Täterschaft zu wecken. Die Möglichkeit einer Verurteilung kann dem durch einen Verteidiger verteidigten Angeklagten bereits deshalb als naheliegende Möglichkeit des erstinstanzlichen Verfahrensabschlusses nicht verborgen geblieben sein, weil gegen ihn wegen der ihm zur Last gelegten Tat ein Haftbefehl ergangen war, welcher nach seinem Erlass auch nicht wieder aufgehoben wurde. Die Außervollzugsetzung des Haftbefehls lässt die Frage des dringenden Tatverdachts unberührt und hat ihren Grund einzig darin, dass weniger einschneidende Mittel zur Ausräumung der angenommenen Fluchtgefahr für ausreichend erachtet wurden. Der letztlich bis zum 13.12.2023 fortbestehende Haftbefehl vom 06.01.2023 führt hinsichtlich des angenommenen dringenden Tatverdachts aus, dass von der Innenseite der durch den Täter bei der Tat getragenen Sturmhaube im Mundbereich eine serologische Spur gesichert worden sei, deren Auswertung eine Zuordnung zum Angeklagten ergeben habe. Zunächst sei eine Zuordnung dieser Spur zu dem bereits in der DNA-Datenbank NRW vorhandenen DNA-Profil des Angeklagten erfolgt; ein später durchgeführter Abgleich mit einer erneut beim Angeklagten entnommenen serologischen Probe habe dieses Ergebnis bestätigt. Die Aufrechterhaltung dieses auf einem DNA-Abgleich basierenden Haftbefehls bis zur Urteilsverkündung durch die 9. Strafkammer dokumentiert, dass diese von fortbestehendem dringenden Tatverdacht ausgegangen ist; bereits deshalb verbietet sich nach Einschätzung des Senats die durch das Landgericht vorgenommene Argumentation, aus dem Verteidigungsverhalten des Angeklagten, namentlich der Beteuerung seiner Unschuld und der Präsentation entlastender Beweismittel, folge, dass er bis zuletzt mit einem Freispruch gerechnet habe, mit der Folge einer so wesentlichen Erhöhung der Fluchtgefahr durch die gleichwohl erfolgte (erstinstanzliche) Verurteilung, dass sie eine Invollzugsetzung rechtfertige. Auch wenn er auf einen Freispruch gehofft haben mag, muss dem durch seinen Verteidiger anwaltlich beratenen Angeklagten bereits aufgrund des fortbestehenden Haftbefehls die Möglichkeit einer Verurteilung bewusst gewesen sein und ihn gleichwohl nicht davon abgehalten haben, sich dem Verfahren zu stellen. Dies wird auch dadurch belegt, dass der Angeklagte auch nach dem Stellen des Schlussantrages der Staatsanwaltschaft, der auf Verurteilung des Angeklagten wegen Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren lautete und welcher ihm die Möglichkeit einer Verurteilung erneut eindringlich vor Augen geführt haben dürfte, nach mehr als zwei Stunden Unterbrechung der Hauptverhandlung zur Urteilsverkündung erschienen ist und sich weiterhin dem Verfahren gestellt hat.

Auch die durch die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 24.01.2024 angestellte Hilfserwägung, dass auch eine Vergleichbarkeit mit der Konstellation einer unlauteren Einwirkung auf Verfahrensbeteiligte, welche ebenfalls als neu hervorgetretener Umstand i. S. d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO anerkannt sei, vorliegend eine Invollzugsetzung rechtfertige, verfängt nach Ansicht des Senats nicht. Zwar vermag das Hinzutreten eines weiteren Haftgrundes im Einzelfall die Wiederinvollzugsetzung zu begründen (Schmitt in: Meyer-Goßner, a. a.O. § 116 Rn. 28). Die durch das Landgericht im angefochtenen Beschluss gemachten Ausführungen lassen indes nicht erkennen, dass der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr bestünde; das Landgericht selbst hat die Invollzugsetzung auch nicht auf diesen Haftgrund gestützt. Für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sind nach Ergehen eines erstinstanzlichen, mit der Revision angegriffenen Urteils, Erwägungen anzustellen, welche das bisherige Verhalten des Angeklagten und etwaiger Mitbeschuldigter ebenso wie die Frage der Rekonstruierbarkeit der den Feststellungen zugrunde liegenden Beweisergebnisse in den Blick nehmen (vgl. für die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen gem. § 119 StPO aus Gründen der Verdunkelungsgefahr OLG Köln, Beschluss v. 15.03.2021, Az. 2 Ws 133/21, zitiert nach beckonline). Ein nur auf Verdunkelungsgefahr gestützter Haftbefehl muss in der Regel nach Abschluss des Verfahrens im letzten Tatsachenrechtszug aufgehoben werden (vgl. Schmitt in: Meyer/Goßner, a. a. O., § 112 Rn. 35).

In Anwendung dieser Grundsätze genügen die Ausführungen im angefochtenen Beschluss nicht für die Annahme nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils fortgeltender Verdunkelungsgefahr und damit eines neu hervortretenden Umstandes. …… „

Und dann gibt es noch – für zukünftige Fälle – einen Verfahrenshinweis für das LG:

„Abschließend weist der Senat darauf hin, dass der Angeklagte nach seiner (erneuten) Inhaftierung am 13.12.2023 nach Erlass des (Wieder-)Invollzugsetzungsbeschlusses vom gleichen Tage der 9. großen Strafkammer gem. § 115 Abs. 1 StPO spätestens am 14.12.2023 vorzuführen gewesen wäre. Wird ein Beschuldigter – wie hier – aufgrund der wieder in Vollzug gesetzten Haftanordnung festgenommen, ist er grundsätzlich nach §§ 115, 115 a StPO dem zuständigen Richter vorzuführen, zu vernehmen und ist ihm Gelegenheit zu geben, alle Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen. Vorliegend war der Angeklagte zwar bereits im Rahmen der Hauptverhandlung von der Kammer vernommen worden und es waren ihm alle Umstände bekannt, die der neuerlichen Haftanordnung zugrunde lagen, einschließlich der erfolgten Verurteilung durch die Kammer vom selben Tage. Der Angeklagte hatte allerdings dennoch einen erneuten Anspruch auf die Gewährung umfassenden rechtlichen Gehörs, zumal ihm solches insbesondere in Bezug auf die Umstände, aufgrund derer die Kammer das Vorliegen neuer Umstände und die Erforderlichkeit der Verhaftung des Angeklagten nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO als begründet ansah, auch im Rahmen der Hauptverhandlung nicht gewährt worden sein dürfte. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gilt in jeder Verfahrenslage, selbst dann, wenn bereits ein Urteil gegen den Beschuldigten bzw. Angeklagten ergangen ist (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 30.06.201, Az. III-3 Ws 242/16; Posthoff/Faßbender in: Gercke/Tamming/Zöller, StPO 7. Aufl. 2013, § 115 Rdn. 13 m. w. N.).“

U-Haft III: Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis, oder: Verdunkelungsgefahr bei der Ehefrau?

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Und als dritte und letzte Entscheidung des Tages dann hier noch der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 16.11.2023 – 7 Ws 207/23 – zur Versagung einer Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis in der Untersuchungshaft.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 05.10.2022 in Untersuchungshaft. Das AG hat  verschiedene Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO angeordnet, und zwar u.a. dass Besuche und die Telekommunikation der ausdrücklichen Erlaubnis bedürfen.

Vom AG ist der Angeklagte dann am 23.02.2023 wegen Betrugs in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Ferner wurde ein Betrag in Höhe von 229.087,41 EUR eingezogen. Der Haftbefehl wurde aufrechterhalten. Der Angeklagte hat Berufung eingelegt.

Die Staatsanwaltschaft hat nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung wegen des dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalts ein Ermittlungsverfahren gegen die Ehefrau des Angeklagten wegen Betrugs bzw. wegen Beihilfe zum Betrug eingeleitet.

Die Ehefrau des Angeklagten hat dann für Besuche und Telefonate bei bzw. mit ihrem Ehemann bei der nach der Einlegung der Berufung zuständigen Strafkammer mit Schreiben vom 08.05.2023 eine Dauerbesuchserlaubnis und eine Telefonerlaubnis beantragt. Diesen Antrag hat die Strafkammer wegen einer bestehenden Verdunkelungsgefahr abgelehnt. Zur Begründung hat die Kammer darauf abgestellt, dass eine Unterbrechung des Kontakts zwischen dem Angeklagten und seiner Ehefrau – mit Ausnahme eines überwachten postalischen Kontakts – angezeigt sei, da eine Gesprächsüberwachung bei Telefonaten und Besuchen nicht ausreichend sei.

Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte keinen Erfolg:

„Die mit dem angegriffenen Beschluss erfolgte Versagung der Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis für die Ehefrau des Angeklagten ist nach Ausübung des dem Senat gemäß § 309 Abs. 2 StPO zukommenden eigenen Ermessens zur Abwehr der Verdunkelungsgefahr im Sinne von § 119 Abs. 1 S. 1 StPO erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 1964 – AnwSt (B) 4/64 = NJW 1964, 2119; KK-Zabeck StPO, 9. Auflage 2023, § 309 Rn 6; MüKo-Neuheuser StPO, 2016, § 309 Rn 26 ff.).

Gemäß § 119 Abs. 1 S. 1 StPO können einem inhaftierten Beschuldigten Beschränkungen auferlegt werden, wenn dies zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr erforderlich ist. Die Beschränkungen zu Lasten eines Untersuchungsgefangenen können dabei nicht nur auf die im Haftbefehl ausdrücklich genannten Haftgründe gestützt werden, sondern sie kommen auch zur Abwehr aller übrigen in § 119 Abs. 1 S. 1 StPO aufgeführten Gefahren in Betracht. Das heißt, es kann – so wie hier geschehen – auch auf im Haftbefehl nicht genannte weitere Haftgründe zur Begründung einer Beschränkungsanordnung zurückgegriffen werden (OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22, vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23 sowie vom 11. Februar 2016 – 3 Ws 57/16 = BeckRS 2016, 11581 Rn 2; Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 66. Auflage § 119 Rn 5). Für die Annahme einer solchen Gefahr genügt nicht die bloße Möglichkeit der Gefährdung eines Haftzwecks; hierfür sind konkrete Anhaltspunkte erforderlich (allg. Meinung, vgl. z. B. BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 = NStZ-RR 2015, 79).

Das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte im vorgenannten Sinne erfordert allerdings keine konkreten Vertuschungs- oder Verdunkelungshandlungen (BeckOK-Krauß StPO, Stand: 1. Oktober 2023, § 119 Rn 12). Vielmehr ist angesichts der geringeren Eingriffsintensität solcher Beschränkungen gegenüber der Haft nicht dieselbe tatsächliche Verdichtung im Sinne eines dringenden Tatverdachts nötig (OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22 und vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23). Zur Beurteilung der einem Haftzweck zuwiderlaufenden Gefahr kann daher auch auf allgemeine kriminalistische Erfahrungen abgestellt werden (KG, Beschluss vom 7. August 2014 – 1 Ws 52/14 = NStZ-RR 2014, 377 m.w.N.). Insbesondere gilt der Erfahrungssatz, dass Absprachen unter Tatbeteiligten jedenfalls dann naheliegen, wenn diese nicht geständig sind (KG, Beschluss vom 20. Oktober 2022 – 5 Ws 41/22121 AR 50/22 = BeckRS 2022, 38740; OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22 und vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23). Dies gilt umso mehr, wenn Angehörige und Freunde involviert sind, da hier nicht nur ein gesteigertes Vertrauensverhältnis besteht, sondern diese sich zudem regelmäßig dem Angeklagten besonders emotional verpflichtet fühlen (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23). Schließlich kann eine entsprechende Gefahr auch konkret-typisierend durch die Art der zu Last gelegten Taten und deren Begehung begründet sein (OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22 und vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23; BeckOK-Krauß StPO, a.a.O., § 119 Rn 12).

Daran gemessen liegen konkrete Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr für den Fall eines persönlichen oder telefonischen Austauschs zwischen den Eheleuten W vor. Bereits die dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten des Betrugs durch das Einmieten in Hotels – im X gar über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren – sprechen für ein manipulatives Geschick des Angeklagten und damit für dessen grundsätzliche Bereitschaft zu aktiven Vertuschungshandlung. Entgegen der Auffassung des (vormaligen) Verteidigers in der Beschwerdeschrift spricht die Tatsache, dass der Angeklagte erstinstanzlich aufgrund von Zeugenaussagen und Urkunden verurteilt wurde, nicht gegen, sondern gerade für das Vorliegen der Verdunkelungsgefahr. Es ist davon auszugehen, dass die Motivation zu Verdunkelungshandlungen des in erster Instanz die Taten auf subjektiver Ebene in Abrede stellenden Angeklagten mit der erstinstanzlichen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten zugenommen hat, muss er doch bei unveränderter Beweislage mit der Verwerfung seiner Berufung rechnen. Dabei spricht auch die Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen die Ehefrau für ein gesteigertes Interesse sowohl des Angeklagten als auch seiner Ehefrau, einen Freispruch des Angeklagten im vorliegenden Verfahren zu erreichen, da beide anderenfalls nun mit einer Verurteilung auch von ihr wegen Betrugs bzw. Beihilfe zum Betrug rechnen müssen. Es kommt – abermals entgegen der Beschwerdeschrift – nicht darauf an, ob die Ehefrau des Angeklagten auf die bereits in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen einwirkt. Zu befürchten ist vielmehr eine Absprache zwischen den Eheleuten im Hinblick auf die ursprüngliche Zahlungsbereitschaft und die Zahlungsfähigkeit und nachfolgend eine entsprechend abgestimmte Aussage der – erstinstanzlich nicht vernommenen – Ehefrau als Zeugin in der noch bevorstehenden Berufungshauptverhandlung.

Die Versagung der Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis ist auch nicht unverhältnismäßig. Der Senat verkennt nicht, dass mit Blick auf den verfassungsrechtlich gewährten Schutz der Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) Besuchsanträge und Telefonerlaubnisse von Familienangehörigen nur aus schwerwiegenden Gründen abgelehnt werden dürfen und vorrangig mildere Maßnahmen der Überwachung, namentlich eine akustische Überwachung der Gespräche, zu prüfen sind (vgl. KK-Gericke StPO, 9. Auflage 2023, § 119 Rn 17). Bestehen allerdings – wie hier – konkrete Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr, genügt eine akustische Überwachung in der Regel nicht, besteht bei einem unlauteren Informationsaustausch doch allenfalls die Möglichkeit, das Gespräch abzubrechen, während die einmal gesprochene und wahrgenommene Mitteilung nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 24. November 2009 – 2 Ws 246/09 = NStZ-RR 2010, 159, 160; KK-Gericke, a.a.O., § 119 Rn 17). Außerdem ist zu bedenken, dass es aufgrund der langjährigen Ehe der Eheleute naheliegend ist, dass bloße Andeutungen oder vermeintlich unverbindliche Gesprächsinhalte genügen, um tatsächlich wichtige Informationen auszutauschen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 24. November 2009 – 2 Ws 246/09, a.a.O.; KK-Gericke, a.a.O., § 119 Rn 17), zumal für den im Raum stehenden Betrugsvorwurf sowie die Einziehungsentscheidung der weite Bereich der Lebensverhältnisse der Eheleute in der Vergangenheit, welche Aufschluss über die wirtschaftliche Situation geben könnten, betroffen ist. Schließlich wird – anders als dies im Rahmen der Beschwerdeschrift vorgetragen wurde – dem Angeklagten nicht der einzige soziale Kontakt in die Freiheit genommen. Die Eheleute haben weiterhin die Möglichkeit des schriftlichen Austauschs, wobei hier die Briefkontrolle durch den mit dem Verfahren vertrauten Vorsitzenden gewährleistet ist.“