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Zur Kostenerstattung im Verfahren beim BVerfG, oder: Mehrfertigung von Kopien/Reisen zur Akteneinsicht

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Die zweite Entscheidung kommt vom BVerfG. Das hat im BVerfG, Beschl. v. 28.09.2023 – 2 BvR 739/17 – zur Kostenerstattung im verfassungsgerichtlichen Verfahren Stellung genommen.

Gestritten worden ist um die Erstattung von Kopierkosten in einem erfolgreichen beendeten Verfassungsbeschwerdeverfahren und um Reisekosten für eine vor Ort durchgeführte Akteneinsicht. Der beschwerdeführende Rechtsanwalt hatte im März 2017 Verfassungsbeschwerde gegen ein von Bundestag und Bundesrat beschlossenes Gesetz eingelegt und zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Der Vorsitzende des Zweiten Senats ordnete die Zustellung der Verfassungsbeschwerde gemäß §§ 94, 77 BVerfGG an und gab verschiedenen Verbänden nach § 27a BVerfGG Gelegenheit zur Stellungnahme. Dem Rechtsanwalt wurde mitgeteilt, welchen Stellen bis wann Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde und dass ihm beim Gericht eingehende Stellungnahmen zur Kenntnis gebracht würden. Der Vorsitzende ordnete dann mit am 21.2.2018 versandten schreiben die Übersendung der eingegangenen Stellungnahmen auch an den Rechtsanwalt an.

Im Laufe des Verfahrens beantragte der Rechtsanwalt mehrfach die Gewährung von Akteneinsicht. Das Gericht kam den Gesuchen in der Weise nach, dass es dem Rechtsanwalt am 22.11.2017 und am 15.03.2018 jeweils ermöglichte, die Verfahrensakten am Gerichtssitz einzusehen.

Mit Beschluss vom 13.02.2020 hat das BVerfG der Verfassungsbeschwerde stattgegeben und die Erstattung notwendiger Auslagen gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG angeordnet; mit Beschluss v. 01.12.2020 wurde ergänzend angeordnet, dass die Bundesrepublik Deutschland dem Rechtsanwalt seine notwendigen Auslagen sowohl für das Hauptsacheverfahren als auch für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten habe. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wurde für das Hauptsacheverfahren auf 250.000 EUR und für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 125.000 EUR festgesetzt. Der Rechtsanwalt hat zuletzt beantragt, für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Kosten in Höhe von 3.047,35 EUR und für das Verfassungsbeschwerdeverfahren Kosten in Höhe von 5.392,01 EUR festzusetzen. Im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat er eine 1,6-Verfahrensgebühr, eine Pauschale für Post und Telekommunikation sowie Umsatzsteuer geltend gemacht, im Verfassungsbeschwerdeverfahren eine 1,6-Verfahrensgebühr, Auslagen für die Erstellung von insgesamt 2.420 Mehrfertigungen, Reisekosten für die An- und Abreise zur Akteneinsicht am 22.11.2017 und am 15.03.2018 mit der Bahn nebst Tage- und Abwesenheitsgeldern, eine Pauschale für Post und Telekommunikation sowie Umsatzsteuer.

Die Rechtspflegerin des Zweiten Senats hat die zu erstattenden Kosten auf insgesamt 7.175,30 EUR, und zwar 2.970,53 EUR für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und 4.204,77 EUR für das Verfassungsbeschwerdeverfahren, festgesetzt. Die beantragten Auslagen für Kopierkosten in Höhe von 380,50 EUR und Reisekosten für zwei Akteneinsichtnahmen in Höhe von 385,80 EUR und dabei angefallene Tage- und Abwesenheitsgelder in Höhe von 140,00 EUR sind als nicht erstattungsfähig angesehen worden, weil sie nicht notwendig gewesen seien.

Die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde hatte in der Sache teilweise Erfolg. Die Ablehnung der Erstattung der geltend gemachten Auslagen für die Kopien hat das BVerfG bestätigt, die Ablehnung der Festsetzung von Kosten für die zwei Akteneinsichtnahmen hat es hingegen beanstandet.

Zu der umfangreich begründeten Entscheidung passen folgende Leitsätze:

    1. Im verfassungsgerichtlichen Verfahren eingereichte Mehrfertigungen sind nicht stets erstattungsfähig, sondern nur in den in der Nr. 7000 VV RVG geregelten Fällen.
    2. Vor dem Hintergrund, dass nach der Praxis des Bundesverfassungsgerichts Akteneinsicht im verfassungsgerichtlichen Verfahren in der Weise gewährt wird, dass entweder die Möglichkeit eingeräumt wird, die Verfahrensakte am Gerichtssitz einzusehen, oder indem das Gericht Kopien aus der Verfahrensakte fertigt und dem Beteiligten übersendet ist es, zumal, wenn die Akten einen erheblichen Umfang haben, nicht zu beanstanden, wenn der Akteneinsichtsberechtigte die Entscheidung trifft, die Akten vor Ort einzusehen und so von seinem Akteneinsichtsrecht Gebrauch zu machen.

Anzumerken ist: Die Entscheidung betrifft das verfassungsgerichtliche Verfahren. Sie ist auf andere Verfahren m.E. nur bedingt übertragbar.

1. Die Antwort auf die Frage der Erstattung der Kosten für die Anfertigung von Kopien ist/war hier der Regelung in § 23 Abs. 3 BVerfGG geschuldet. Danach kann der Vorsitzende oder der Berichterstatter jedem Beteiligten aufgeben, binnen einer zu bestimmenden Frist die erforderliche Zahl von Abschriften seiner Schriftsätze und der angegriffenen Entscheidungen für das Gericht und für die übrigen Beteiligten nachzureichen. Sind aber Mehrfertigungen nur auf Anforderung zu erstellen und einzureichen, dann kann der Verfahrensbeteiligte keine Erstattung unaufgefordert eingereichter Kopien verlangen. § 23 Abs. 3 BVerfGG geht insoweit der Regelung im RVG vor. In Zivil- und Strafverfahren gilt die Regelung der Nr. 7000 VV RVG.

2. Auch die Ausführungen des BVerfG zu den Reisekosten wird man nicht 1 zu 1 auf andere Verfahren, wie z.B. das Strafverfahren, übertragen können. Denn in diesen wird i.d.R. Akteneinsicht durch Zuverfügungstellen einer Kopie der Verfahrensakte am Kanzleisitz des Rechtsanwalts gewährt. Ist das allerdings (ausnahmsweise) nicht der Fall, sind die entsprechenden Reisekosten erstattungsfähig und der Rechtsanwalt kann sich auf diese Entscheidung berufen. Der Pflichtverteidiger hat insoweit die Möglichkeit, sich abzusichern und einen Antrag nach § 46 Abs. 2 RVG zu stellen.

BVerfG II: Acht Monate Untätigkeit sind zu viel, oder: Klatsche für das AG Tiergarten

entnommen openclipart.org

In der zweiten Entscheidung aus Karlsruhe hat es eine Klatsche für das AG Tiergarten gegeben. Das hatte über einen bei ihm eingegangenen Eilantrag acht Monate nicht entschieden. Es ging um die Frage, ob ein bei einer Durchsuchung in angeblichen Redaktionsräumen gefundener USB-Stick versiegelt wird. Durchsucht worden waren im Rahmen von zwei Ermittlungsverfahren wegen strafbewehrter Verstöße gegen das Parteiengesetz am 28.09.2022 mehrere Objekte u.a. in Berlin. Hintergrund war der Vorwurf, dass für die Jahre 2016 bis 2018 falsche Rechenschaftsberichte für eine Partei eingereicht worden seien.

Bei der Durchsuchung wurde in einem Panzerschrank ein Umschlag mit einem USB-Stick sichergestellt. Gestützt darauf, dass die Redaktionsräume nicht hätten durchsucht werden dürfen, und die Daten dem journalistischen Quellenschutz unterlägen, beantragte das Nachrichtenportal, das von der Partei betrieben wurde, am 01.11.2022 die Rückgabe. Außerdem beantragte sie, den Umschlag sofort bis zur Entscheidung über die Herausgabe zu versiegeln. Telefonische Rückfragen nach gut einer Woche blieben eben so unbeantwortet wie eine schriftliche Sachstandsanfragen im Januar 2023. Aufgrund einer Dienstaufsichtsbeschwerde bewegte sich dann endlich etwas.

Das hat dem BVerfG im BVerfG, Beschl. v. 26.06.2023 – 1 BvR 491/23  – aber nicht gereicht:

„2. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie zulässig ist, offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die fortbestehende ermittlungsrichterliche Untätigkeit betreffend den Eilantrag in dem Verfahren 237 Js 536/22 verletzt die Beschwerdeführerin in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verbürgt effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Verletzungen der Individualsphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 51, 176 <185>; 67, 43 <58>; 101, 106 <122 f.>). Dieser Rechtsschutz darf sich dabei nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpfen, sondern muss zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch ein mit zureichender Entscheidungsmacht ausgestattetes Gericht führen (vgl. BVerfGE 101, 106 <123>). Hierbei bedeutet wirksamer Rechtsschutz auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass Eilrechtsschutz soweit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 37, 150 <151 ff.>; 65, 1 <70>; BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Februar und 25. Mai 2022 – 2 BvR 167/22 -, Rn. 2 bzw. Rn. 20, m.w.N.).

b) Diesen Anforderungen wird der Ermittlungsrichter im Ermittlungsverfahren 237 Js 536/22 nicht gerecht. Sein Umgang mit dem Eilantrag der Beschwerdeführerin verletzt deren Anspruch auf effektiven Rechtschutz.

In ihrem Schriftsatz vom 1. November 2022 hat sie ausdrücklich folgenden Antrag gestellt:

„Ich beantrage ferner die sofortige Versiegelung des „Kuverts […]“ inkl. des darin enthaltenen USB-Sticks (1 TB) bis zur Herausgabe an meine Mandantin, jedenfalls bis zur richterlichen Entscheidung.“

In der Antragsbegründung kritisierte die Beschwerdeführerin, dass die Durchsuchungsbeamten „noch nicht einmal“ den sichergestellten Datenträger versiegelt hätten, was nunmehr – so ausdrücklich – umgehend nachgeholt werden müsse.

Unbeschadet dieser unmissverständlichen Formulierungen musste sich dem Ermittlungsrichter auch deshalb die Eilbedürftigkeit dieses Antrags aufdrängen, weil dieser erkennbar darauf ausgerichtet war, vollendete Zustände zu verhindern. Mit ihrem Hauptantrag auf ermittlungsrichterliche Entscheidung bezweckte die Beschwerdeführerin – wie ebenfalls von ihr ausdrücklich benannt – die Aufhebung der Sicherstellung und Herausgabe des Kuverts inklusive des darin befindlichen USB-Sticks. Sie berief sich im Weiteren auf ihre besondere Stellung als Presseorgan, weshalb jede Einsichtnahme der Ermittlungsbehörden in die auf dem USB-Stick gespeicherten Daten verhindert werden soll.

Vor diesem Hintergrund war klar, dass der Entscheidung über den Hauptantrag und damit dem durch das Fachrecht vorgesehenen Rechtsbehelf nach § 110 Abs. 4, § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO praktisch keine Bedeutung mehr zukommt, sobald die Ermittlungsbehörden den USB-Stick ausgewertet haben. Um daher einem solchen irreversiblen Zustand zuvorzukommen, hat die Beschwerdeführerin einen Eilantrag formuliert. Damit hatte sie einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf dessen seiner Dringlichkeit entsprechenden Bescheidung.

Ein Zurückstellen der Entscheidung über den Eilantrag seit nunmehr über acht Monaten ist hiermit unvereinbar. Ein dies rechtfertigender Grund folgt auch – worauf das Land Berlin in seiner Stellungnahme gedrungen hat – nicht daraus, dass der Ermittlungsrichter zunächst vor Entscheidung über die Anträge der Beschwerdeführerin vom 1. November 2022 abwarten durfte, wie über eine durch den Geschäftsführer der Beschwerdeführerin im eigenen Namen angebrachte Beschwerde entschieden wird. Ein solches am Gedanken der Prozessökonomie ausgerichtetes Vorgehen kann allenfalls rechtfertigen, dass die Entscheidung über den Hauptantrag vom 1. November 2022 zurückgestellt wird, um divergierende Sachentscheidungen zu vermeiden. Dies gilt für den Eilantrag vom 1. November 2022 hingegen nicht, weil die Beschwerdeführerin mit diesem keine Entscheidung in der Sache, sondern nur eine vorläufige Sicherung ihrer geltend gemachten Rechtsposition begehrt.“

BVerfG I: „Reform“ des Wiederaufnahmerechts failed, oder: Zuungusten nicht mit neuen Beweismitteln

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Ich hatte ja neulich schon in einer Kurznachricht über das BVerfG, Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/23 – berichtet. Das ist das Urteil, mit dem das BVerfG die „Reform“ des Wiederaufnahmerechts durch Einfügung des neuen § 362 Nr. 5 StPO, der die Wiederaufnahme zuungusten des Verurteilten auch bei neuen Tatsachen oder Beweismitteln als zulässig ansah, „gekippt“ hat.

Zugrunde liegt der Entscheidung ein Verfahren in Niedersachsen, in dem u.a. der OLG Celle, Beschl. v. 20.04.2022 – 2 Ws 62/22 – ergangen ist, über den ich ja auch berichtet habe (vgl. Neues Spurengutachten 40 Jahre nach Freispruch, oder: Wiederaufnahme zu Ungunsten verfassungmäßig?. Der Sachverhalt und weitere Umstände sind in dem BVerfG, Urt. v. 31.10.2023, dargestellt. Daher erspare ich mir hier weitere Einzelheiten und verweise auf die Begründung des BVerfG.

Ich stelle hier auch nicht Teile aus dem Urteil ein. Das besteht auch 42 Seiten, was es nicht so einfach macht. Ich beschränke mich wegen der Vollständigkeit auf die Leitsätze des BVerfG. Diese lauten:

    1. Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.

    2. Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft.

    3. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt.

    4. Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.

    5. Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.

    6. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.

Fazit: Nach einem Freispruch ist zwar nicht immer Schluß, aber zumindest reichen (nur) neue Tatsachen oder Beweismittel nicht für eine Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten. M.E. gut gemacht vom BVerfG.

News: BVerfG kippt Reform der Wiederaufnahme, oder: Nach Freispruch keine Wiederaufnahme zuungunsten

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Gerade laufen die Nachrichten zum BVerfG. Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22 – über die Ticker. Das ist das Urteil des BVerfG zur Frage der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochen (also § 362 Nr. 5 StPO). Das BVerfG hat, was mich nicht so sehr überrascht, die „Reform gekippt.

Hier dazu die PM: „Die gesetzliche Regelung zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen in § 362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig“

Mam muss das Urteil dann mal in Ruhe lesen …..

Haft I: Haftprüfung beim OLG dauert 5 Monate, oder: Berechtigte Klatsche vom BVerfG für das OLG Frankfurt

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Heute dann noch einmal/schon wieder ein Tag mit Haftentscheidungen, und zwar U-Haft und Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe.

An der Spitze steht BVerfG, Beschl. v. 21.09.2023 – 2 BvR 825/23 – zu (zu) langen = überlangen  Dauer des Haftprüfungsverfahrens beim OLG nach den §§ 121, 122 StPO. Das BVerfG sagt: Die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens nach den §§ 121, 122 StPO verletzt den Beschuldigten in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz.

Folgender Sachverhalt: Gegen den Beschuldigten ist ein Wirtschaftsstrafverfahren anhängig. Er befindet sich seit dem 30.06.2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 13.12.2022 übersandte die Staatsanwaltschaft die Akten an das OLG Frankfurt am Main zum Zwecke der besonderen Haftprüfung und beantragte im Verfahren nach den §§ 121, 122 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten. Die Akten gingen am 28.12. 2022 beim OLG ein. Am Folgetag versandte der Vorsitzende des zuständigen Strafsenats eine Abschrift der Übersendungsverfügung an die Beteiligten und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schreiben vom 9.1.2023 beantragte der Beschuldigte die Aufhebung des Haftbefehls.

Der Beschuldigte hat dann mit Schreiben vom 29.03.2023 beim OLG um Mitteilung gebeten, bis wann mit einer Entscheidung über die U-Haft zu rechnen sei. Das OLG teilte daraufhin mit, dass der Berichterstatter längerfristig krankheitsbedingt verhindert sei. Der Unterzeichnerin liege das Verfahren seit dem 24.03.2023 zur Bearbeitung in Vertretung vor. Angesichts „eigener“ vorrangig zu bearbeitender Haftsachen und anstehenden Urlaubs sei derzeit nicht absehbar, wann eine Entscheidung ergehen werde. Am 13.04.2023 stellte die zuständige Richterin in einem Aktenvermerk die Gründe für die Verzögerung nochmals dar und führte ergänzend eine Corona-Erkrankung in ihrer Familie an.

Der Beschuldigte hat am 16.6.02033 Verfassungsbeschwerde beim BVerfG gegen die Nichtentscheidung des OLG im Haftprüfungsverfahren eingelegt. Das OLG hat mit Beschluss vom 26.06.2023 die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der Beschuldigte hat seine Verfassungsbeschwerde mit der Maßgabe aufrechterhalten, festzustellen, dass ihn die Nichtentscheidung des Oberlandesgerichts bis zum 26.06.2023 in seinem Grundrecht auf Freiheit und auf effektiven Rechtsschutz verletze.

Und der Antrag hatte Erfolg. Das BVerfG hat die verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und die Rechtswidrigkeit der überlangen Haft(fortdauer) festgestellt.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.

Zur Zulässigkeit verweist es darauf, dass der zwischenzeitlich – endlich – ergangene Haftfortdauerbeschluss des OLG der Zulässigkeit des Feststellungsantrags, auf den der Beschuldigte inzwischen umgestellt hat, nicht entgegenstehe. Der Beschuldigte habe ein fortdauerndes Rechtsschutzbedürfnis an der Feststellung, dass ihn die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens in seinem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt.

In der Sache sieht das BVerfG in der überlangen Dauer des Haftprüfungsverfahrens vor dem OLG Frankfurt am Main den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz habe Hinblick auf Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 GG besondere Bedeutung. Bei einem Haftprüfungsverfahren sei außerdem Art. 5 Abs. 4 EMRK zu berücksichtigen. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext

Und dann geht es zur Sache:

„2. Diesen Maßstäben ist das Oberlandesgericht nicht gerecht geworden, indem es bis zum 26. Juni 2023 eine Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren unterlassen hat.

a) Das Oberlandesgericht hat dadurch in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG eingegriffen. Die Verfahrensakten sind am 28. Dezember 2022 und damit vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zur Haftprüfung an das Oberlandesgericht gelangt. Nach Eingang der Stellungnahme des Beschwerdeführers am 9. Januar 2023 vergingen bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Haftfortdauer am 26. Juni 2023 mehr als fünf Monate. § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO sieht demgegenüber vor, dass die Prüfung, ob die Voraussetzungen der Untersuchungshaft weiter vorliegen, spätestens nach drei Monaten zu wiederholen ist. Zwar ruht gemäß § 121 Abs. 3 StPO der Fristenlauf des § 121 Abs. 1 StPO bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts, sodass dem Beschwerdeführer formell keine der in §§ 121, 122 StPO vorgeschriebenen Prüfungen verwehrt worden ist. Indem die Entscheidung des Oberlandesgerichts aber erst knapp sechs Monate nach Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO ergangen ist, hat das Oberlandesgericht durch die überlange Verfahrensdauer dem Beschwerdeführer faktisch nicht nur die gemäß § 121 Abs. 1, § 122 StPO vorgesehene Sechsmonatsprüfung, sondern auch die durch § 122 Abs. 4 StPO vorgeschriebene Nachprüfung nach neun Monaten genommen.

b) Die vom Oberlandesgericht angeführten Gründe für die Verzögerung rechtfertigen den Eingriff in das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Bei den in der Antwort auf die Sachstandsanfrage des Beschwerdeführers am 30. März 2023 angeführten und im Aktenvermerk vom 13. April 2023 festgehaltenen Gründen für die Nichtbearbeitung handelt es sich sämtlich um solche, die der Beschwerdeführer nicht zu vertreten hat und die nicht geeignet sind, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate zu rechtfertigen. Das gilt für den Verweis der Richterin auf ihren bevorstehenden Urlaub und die Corona-Erkrankung in ihrer Familie ebenso wie für den Hinweis auf vorrangig zu bearbeitende „eigene“ Haftsachen. Dass die Richterin erst am 24. März 2023 für das Verfahren vertretungsweise zuständig wurde, rechtfertigt die Verzögerung ebenfalls nicht, weil es in der gerichtsinternen Sphäre liegt, dass auf die seit November 2022 bestehende Erkrankung eines Beisitzers erst im März reagiert wurde. Unabhängig davon sind von der Zuweisung des Verfahrens an die neue Richterin am 24. März 2023 bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts am 26. Juni 2023 noch einmal mehr als drei Monate vergangen. Damit hat das Oberlandesgericht versäumt, dem Recht des Beschwerdeführers auf Durchführung der besonderen Haftprüfung nach § 122 StPO praktische Wirksamkeit zu verschaffen, weil es ihm den gesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz nicht innerhalb angemessener Zeit gewährt hat.“

In meinen Augen: Das Verhalten/Vorgehen des 1. Strafsenats des OLG Frankfurt am Main ist Ungeheuerlich und dreist und das Ganze ein Armutszeugnis für die (hessische) Justiz, oder besser für die Strafjustiz beim OLG Frankfaurt am Main.

Denn man mag es nicht glauben, wenn man es liest. Da dauert ein Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO beim OLG Frankfurt am Main mehr als fünf Monate, also fast so lange, wie U-Haft ohne besondere Haftprüfung durch das OLG nach der StPO überhaupt dauern darf. Und das versucht man dann damit zu entschuldigen, dass der Berichterstattet länger erkrankt sein. Dem kann man nur entgegenhalten, was das BVerfG – mit wohl gesetzten Worten – auch tut: Das ist dem Beschuldigten völlig egal und die Justiz hat dafür zu sorgen, dass dann eben Ersatz zur Verfügung steht. Und die Vertreterin des erkrankten Berichterstatters geht dann, nachdem sie nach drei Monaten – da stand im Grunde die 9-Monats-Prüfung schon an (!!) – die Sache endlich übernommen hat, erst mal in Urlaub und schiebt eigene – offenbar wichtigere, vielleicht aber auch noch ältere (?) – Haftsachen vor, die eine zeitnahe – nach drei Monaten? – Bearbeitung nicht möglich machen. Und – zum Glück, ich weiß, das klingt zynisch – gibt es dann noch eine Corona-Erkrankung in der Familie, die man auch vorschieben kann. Erst als dann der Beschuldigte bereits Verfassungsbeschwerde eingelegt hat, bequemt der Senat sich dann im Juni 2023 endlich zu entscheiden; man hat wegen des zeitlichen Zusammentreffens mit der Verfassungsbeschwerde ein wenig den Eindruck in der Hoffnung, dass das BVerfG die dann als erledigt ansieht. Aber mitnichten. Das BVerfG geht von einem fortdauernden Feststellungsinteresse aus und entscheidet zu Gunsten des Beschuldigten. Und man kann dem Beschluss m.E. deutlich anmerken, dass das Verfassungsgericht „not amused“ ist. Und das mit Recht. Denn das Verhalten und die mehr als zögerliche Bearbeitung des Verfahrens durch das OLG Frankfurt am Main ist – mit Verlaub – dreist und ungeheuerlich, wenn man berücksichtigt, dass es um das Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten geht. Bei solchem Verhalten muss man sich über die immer weiter zunehmende mangelnde Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen nicht wundern.

Der Zorn und das Unverständnis richten sich aber nicht nur gegen den lethargischen 1. Strafsenat des OLG Frankfurt am Main, sondern auch gegen die Verwaltung des OLG, die „ihren Laden offenbar nicht im Griff hat“ und auch gegen das hessische Justizministerium, das solche Verfahrensabläufe, wenn man die Vorgaben der StPO ernst nimmt bzw. ernst nehmen würde, zu verhindern hat/hätte. In meinen Augen ein Versagen der Justiz auf ganzer Linie.