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Teilnahme des Verteidigers am Anhörungstermin, oder: Keine Vernehmungsterminsgebühr

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Im Strafverfahren gibt es zahlreiche Termine außerhalb der Hauptverhandlung, an denen der Verteidiger mit seinem Mandanten teilnehmen kann/muss. Es stellt sich dann immer die Frage, ob der Verteidiger dafür eine sog. Vernehmungsterminsgebühr abrechnen kann. Dazu äußert sich für einen Anhörungstermin in Zusammenhang mit der Unterbringung des Angeklagten das LG Potsdam im LG Potsdam, Beschl. v. 12.08.2024 – 25 KLs 5/23.

In einem Verfahren wegen des Vorwurfs des schweren Raubes hatte die Strafkammer zugleich mit der Eröffnung des Verfahrens die psychologische Begutachtung des – mittlerweile rechtskräftig verurteilten – Angeklagten angeordnet. Da der Angeklagte mehrfach nicht zu Explorationsterminen beim Sachverständigen erschienen ist, hat die Strafkammer seine vorübergehende Unterbringung zur Vorbereitung des Gutachtens gemäß § 81 StPO erwogen und den Angeklagten hierzu mündlich angehört. Zu dem Anhörungstermin am 29.08.2023 hat die Kammer auch den Pflichtverteidiger geladen. Die vorübergehende Unterbringung des Angeklagten ist dann nicht erfolgt, da der Angeklagte in dem Anhörungstermin mit dem ebenfalls anwesenden Sachverständigen Explorationstermine vereinbart hat, die er auch einhielt.

In seinem Vergütungsfestsetzungsantrag hat der Pflichtverteidiger für die Wahrnehmung des Anhörungstermins eine Vernehmungsterminsgebühr gemäß Nr. 4102 Nr. 3 VV RVG mit 150,00 EUR berechnet. Die Rechtspflegerin hat diese Gebühren nicht festgesetzt und darauf verwiesen, dass die Wahrnehmung des Anhörungstermins durch die allgemeine Verfahrensgebühr gemäß Nr. 4112 VV RVG abgegolten sei. Dagegen hat der Pflichtverteidiger Erinnerung eingelegt, die die Strafkammer, der die Sache vom Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden ist, zurückgewiesen hat:

„2. In der Sache hat die Erinnerung keinen Erfolg. Dem Verteidiger steht für die Wahrnehmung des Anhörungstermins vom 29. August 2023 keine Gebühr gemäß Nr. 4102 Satz 1 Nr. 3 VV RVG zu.

a) Nach dieser Vorschrift kann der Verteidiger die Vergütung seiner Teilnahme an einem Termin außerhalb der Hauptverhandlung verlangen, in dem „über die Anordnung oder Fortdauer der Untersuchungshaft oder der einstweiligen Unterbringung“ verhandelt wird. Nach dem Wortlaut der Regelung ist mit der „einstweiligen Unterbringung“ nur die – grundsätzlich bis auf Weiteres – angeordnete Freiheitsentziehung gemäß § 126a StPO gemeint und nicht die – auf die Dauer der Untersuchung, längstens jedoch auf sechs Wochen befristete – vorläufige Unterbringung zur Begutachtung gemäß § 81 StPO. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Regelung, die ausdrücklich die „einstweilige Unterbringung“, und damit die amtliche Überschrift von § 126a StPO, in Bezug nimmt. Hinzu kommt, dass die Vergütungsvorschrift die „einstweilige Unterbringung“ neben dem Haftbefehl aufführt, was ebenfalls – nur – auf § 126a StPO hinweist, da die einstweilige Unterbringung gemäß § 126a StPO das Pendant zum Haftbefehl darstellt, wie die vielfältigen Verweise in § 126a Abs. 2 StPO auf das Haftbefehlsrecht belegen. Abgesehen hiervon erfordert die Unterbringung zur Begutachtung gemäß § 81 StPO nicht zwingend eine Anhörung oder gar die Verkündung einer Entscheidung. Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur – ganz selbstverständlich – davon ausgegangen, dass die Vergütungsregel in Nr. 4102 Satz 1 Nr. 3 VV RVG nur die Verkündungs- und Vorführungstermine gemäß § 126a Abs. 2 in Verbindung mit §§ 115, 118 StPO erfassen, nicht jedoch Anhörungstermine im Vorfeld einer Entscheidung gemäß § 81 StPO oder ähnliche Anhörungen (vgl. etwa Felix in: Toussaint, Kostenrecht, 54. Aufl., RVG VV 4102, Rn. 11; Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., Nr. 4102 VV, Rn. 25; Knaudt in: BeckOK RVG, 64. Ed., VV 4102, Rn. 8). Soweit dies ersichtlich ist, ist diese Frage in der Rechtsprechung und der Literatur jedoch nicht – jedenfalls nicht tragend – entschieden worden, sodass der hier zu treffenden Entscheidung eine gewisse grundsätzliche Bedeutung beikommt. Im Falle seiner Anwendbarkeit lägen nämlich die kostenrechtlichen Voraussetzungen der Nr. 4102 Satz 1 Nr. 3 VV RVG vor, da der Verteidiger in dem Anhörungstermin verhandelt hat, indem er Erklärungen und Stellungnahmen abgegeben hat, auch wenn dies aus dem Terminsprotokoll nicht ersichtlich ist, da sich dieses auf die Erklärungen des Angeklagten konzentriert. So hat der Verteidiger die Frage der Verhältnismäßigkeit einer Unterbringung zur Gutachtenvorbereitung aufgeworfen und im Übrigen den Sinn der Maßnahme bezweifelt, da eine gegen ihren Willen zwangsweise untergebrachte Person sich kaum für ein zielführendes Explorationsgespräch öffnen dürfte; hierbei hat der Verteidiger die besonderen Persönlichkeitsvariablen des Angeklagten dargelegt, der Probleme im Umgang mit fremdbestimmten Situationen habe.

b) Eine entsprechende Anwendung der Nr. 4102 VV RVG auf weitere, dort nicht bezeichneten Tätigkeiten des Rechtsanwalts außerhalb der Hauptverhandlung kommt nicht in Betracht. Bei der genannten Regelung handelt es sich nämlich um eine Ausnahmeregelung, die eng auszulegen und eine Analogie nicht zugänglich ist. Der Gesetzgeber hat dem Verteidiger enumerativ nur in den dort genannten Fallgestaltungen einen Vergütungsanspruch für Termine außerhalb der Hauptverhandlung zugesprochen. Dies ist die allgemeine Meinung in der Literatur (vgl. Kapischke in: Ahlmann/Kapischke/Pankaz/Rech/Schneider/Schütz, RVG, 11. Aufl., VV 4102, Rn. 22; Burhoff, a.a.O., VV 4102 Rn.47 f.; ders. in: Gerold/Schmidt, RVG, 26. Aufl., VV 4102, Rn. 5; Felix in Toussaint, a.a.O., VV RVG Nr. 4102, Rn. 3; Knaudt, a.a.O., VV 4102, Rn. 11), während in der Rechtsprechung bisweilen trotzdem Analogien gezogen worden sind (etwa LG Hamburg, Beschluss vom 19.10.2020, 601 Qs 28/20; vgl. auch die Nachweise bei Knaudt, a.a.O., VV 4102, Rn. 11.1). Diese ausnahmsweise vorgenommenen Analogien sind jedoch systemwidrig, da Nr. 4102 VV RVG selber eine Ausnahmeregelung ist, die abschließend auflistet, für welche Termine außerhalb der Hauptverhandlung der Rechtsanwalt eine Gebühr beanspruchen kann. Abgesehen hiervon fehlt es an einer (zudem: systemwidrigen) Regelungslücke, die durch eine Analogie zu schließen wäre, da sich aus der Vorbemerkung 4.1 Abs. 2 zum vierten Teil VV RVG ergibt, dass durch die im VV geregelten Gebühren die gesamte Tätigkeit des Verteidigers entgolten wird, soweit keine ausdrückliche abweichenden Regelungen erfolgen (vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 8.8.2011, 1 Ws 89/11; KG, Beschluss vom 18.11.2011,1 Ws 86/11; OLG Köln, Beschluss vom 23.7.2014, III-2I Ws 416/14 und OLG Brandenburg, Beschluss vom 12.1.2023, 2 WS 156/22 (S); jeweils zitiert nach Juris). Die Tätigkeit des Verteidigers im dem Anhörungstermin vom 29. August 2023 ist durch seine allgemeine Verfahrensgebühr gemäß Nr. 4112 VV RVG abgegolten.“

So traurig es auch ist: Man muss dem LG folgen. Der Hinweis auf den Wortlaut ist eindeutig. In der Nr. 4102 S. 1 Nr. 3 VV RVG ist nur von der „einstweiligen Unterbringung“, also von § 126a StPO, die Rede. Zutreffend ist es auch, dass das LG die Vorschrift nicht entsprechend angewendet hat. Den Argumenten des LG ist nichts hinzuzufügen. Sie entsprechen der Argumentation in der Literatur und der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung.

Es ist zu wünschen und zu hoffen, dass sich der Gesetzgeber endlich mal aufrafft und in einem 3. KostRMoG die Nr. 4102 VV RVG überarbeitet und durch sie weitere Termine erfasst, an denen der Rechtsanwalt teilnimmt. Denn der Verweis auf die Verfahrensgebühr ist für diesen angesichts der doch recht geringen Gebührensätze nur ein schwacher Trost.

Das LG hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der entschiedenen Frage gemäß § 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. mit § 33 Abs. 3 S. 2 RVG die Beschwerde zugelassen. Man wird zu der Frage also ggf. bald etwas vom OLG Brandenburg hören, allerdings wird es m.E. wahrscheinlich die Entscheidung des LG bestätigen. Das würde auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung des OLG liegen.

StPO II: Einstellung der Einziehungsvollstreckung, oder: Sporadische erfolglose Vollstreckung

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Die zweite Entscheidung kommt dann auch noch einmal aus dem Bereich „Einziehung“.

Der Verurteilte ist im April 2018 wegen Steuerhinterziehung zu einer ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden. Außerdem wurde die Einziehung von Wertersatz i.H.v. 52.801,38 EUR angeordnet. Das Urteil ist rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin die Vollstreckung ein, um die Verfahrenskosten und den Wertersatz beizutreiben. Dabei hatte sie nur insoweit Erfolg, als sie vom mittlerweile in die Türkei ausgewanderten Verurteilten bei dessen Wiedereinreise über den Berliner Flughafen am 26.01.2023 200 EUR an Bargeld zugunsten des Finanzamtes beschlagnahmen konnte.

Der Verurteilte bezieht in der Türkei eine Rente von 11.367,62 Türkischen Lira (entspricht aktuell rund 310 EUR), sowie eine deutsche Rente von 423,80 EUR. Beide werden nicht gepfändet. Inländisches Vermögen ist nicht bekannt.

Mit E-Mail vom 23.04.2024 beantragte der Verurteilte unter Vorlage von Belegen bei der Staatsanwaltschaft einen Zahlungserlass. Er sei mittellos, von den beiden Renten könne er sich in der Türkei nicht einmal eine Mietwohnung leisten und er werde auch künftig nicht in der Lage sein, den geforderten Betrag zu bezahlen. Auf Aufforderung der Staatsanwaltschaft machte er sodann weitere Angaben zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen, die seine Mittellosigkeit bestätigten.

Die Staatsanwaltschaft lehnte den Antrag ab und legte die Sache dem LG vor. Sie beantragte, den Antrag auf Einstellung der Vollstreckung abzulehnen. Das LG ist dem im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 06.08.2024 – 12 KLs 505 Js 871/18 – gefolgt:.

„1. Die Kammer war als Gericht des ersten Rechtszugs zur Entscheidung berufen (§ 459g Abs. 5, § 462 Abs. 1 Satz 1, § 462a Abs. 1, 2 Satz 1 StPO).

2. Der Antrag ist nach § 459g Abs. 5 StPO n.F. (also i.d.F. vom 25. Juni 2021) zu beurteilen. Es handelt sich bei dieser Vorschrift im Kern um eine verfahrensrechtliche Bestimmung, für die die Regelungen über die Anwendung des milderen Rechts (§ 2 Abs. 3, 4 StGB) keine Anwendung finden (KG, Beschluss vom 7. Juni 2024 – 5 Ws 47/24-161 GWs 24/24, juris Rn. 6; OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. Mai 2023 – Ws 307/23, juris Rn. 13; OLG Hamburg, Beschluss vom 5. Januar 2023 – 5 Ws 52/22, juris Rn. 11 ff.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 20. Dezember 2022 – 4 Ws 514/22, juris Rn. 18; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 67. Aufl., § 459g Rn. 13c m.w.N. auch zur a.A.).

3. Anders als in den Vorgängerfassungen des § 459g Abs. 5 StPO n.F. reicht es für die Einstellung der Vollstreckung nicht mehr aus, dass der Wert des Erlangten – was hier der Fall zu sein scheint – nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist. Ausweislich der Gesetzesbegründung sei die frühere gesetzliche Einordnung des Falls, dass der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des Einziehungsadressaten vorhanden sei (§ 459g Abs. 5 Satz 1 StPO a.F.), als unverhältnismäßig zu weitgehend gewesen. Sie widerspreche der Zielsetzung, durch Straftaten erlangtes Vermögen effektiv abzuschöpfen und den Wertungen des Bereicherungsrechts. Soweit der Wertersatzeinziehung die Funktion zukomme, eine durch die Begehung einer Straftat geschaffene rechtswidrige Vermögenslage zu beseitigen, führe die zwischenzeitliche Entreicherung durch Verbrauch des Erlangten – wozu auch die hier ersparten Aufwendungen für die Einkommensteuer gehören (vgl. Fischer, StGB, 71. Aufl., § 73 Rn. 18 m.w.N.) – im Grundsatz nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Vollstreckung. Die Annahme einer Unverhältnismäßigkeit würde nämlich denjenigen privilegieren, der die Tatbeute schnell verbrauche. Der Straftäter könnte sich alleine dadurch der Vollstreckung der Einziehungsentscheidung entziehen, dass er den erlangten Vermögenswert schnell ausgebe (BT-Drs. 19/27654, S. 111). Dem Übermaßverbot werde durch die Pfändungsschutzvorschriften ausreichend Rechnung getragen (vgl. § 459 Abs. 1 Satz 2 StPO, § 6 Abs. 1 Nr. 1 JBeitrG, § 850 ff. ZPO), sodass als unverhältnismäßig im Wesentlichen die Fälle in Betracht kämen, in denen das vom Gesetz zugrunde gelegte Bedürfnis der Vermögensordnung stark herabgesetzt sei, beispielsweise, weil der Einziehungsadressat das Erlangte auf schicksalhafte und nicht von ihm zu vertretende Weise (etwa infolge schwerer Krankheit) verloren habe (BT-Drs. 19/27654, S. 112). Derlei ist hier weder vorgetragen noch ersichtlich.

Mit Blick auf ihre tatsächliche Durchführung ist die Vollstreckung aber auch sonst nicht unverhältnismäßig. Denn sie findet quasi nur virtuell statt. Auf die laufenden deutschen Rentenbezüge des Antragstellers – die auch mit der türkischen Rente zusammengerechnet die Pfändungsfreigrenzen des deutschen Rechts unterschreitet (vgl. § 54 Abs. 4 SGB I mit § 850c ZPO) – greift die Staatsanwaltschaft nicht zu. Die diffizile Frage, ob und inwieweit mit Blick auf den türkischen Wohnort des Antragstellers und die dort möglicherweise niedrigeren Lebenshaltungskosten ein Abschlag von den Pfändungsfreigrenzen vorzunehmen sein könnte (vgl. dazu etwa LG Kaiserslautern, Beschluss vom 26. Mai 2023 – 5 T 37/23, juris Rn. 23 ff.), hat die Staatsanwaltschaft bislang nicht zum Nachteil des Antragstellers aufgegriffen. Die einzige Gefahr, die dem Antragsteller aktuell droht, liegt darin, dass er bei einer Wiedereinreise in die Bundesrepublik wegen der aktiven Fahndung zur Einziehung von Taterträgen aufgegriffen wird. Diese Gefahr hat sich seit Einleitung der Vollstreckung vor rund sechs Jahren bislang einmalig realisiert, wobei 200 € beschlagnahmt wurden. Das mag dem Antragsteller lästig gefallen sein. Zu einer ernstlichen Beeinträchtigung seiner Lebensführung im Alltag führte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft bislang jedoch nicht. Treffen die Ausführungen des Antragstellers zu seinen Vermögensverhältnissen zu, so hat er auch in Zukunft keine einschneidenden Beeinträchtigungen durch die Vollstreckungsbemühungen der Staatsanwaltschaft zu befürchten.

In der praktischen Handhabung stellt sich der Sachverhalt fast als Anwendungsfall des § 459g Abs. 5 Satz 2 StPO dar, der ähnlich auch schon in der alten Fassung der Norm geregelt war. Danach wird die Vollstreckung wieder aufgenommen, wenn Umstände bekannt werden oder eintreten, die einer Einstellung der Vollstreckung entgegenstehen, insbesondere, weil der Vollstreckungsschuldner doch Vermögen hat oder solches erwirbt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 67. Aufl., § 459g Rn. 14; KK-StPO/Appl, 9. Aufl., § 459g Rn. 19). Das entspricht – bis auf das Erfordernis der gerichtlichen Anordnung – dem hiesigen Vorgehen. Denn die ansonsten ruhende Vollstreckung wird nur beim Aufgreifen des Antragstellers im Inland und nur in dem Fall aktiviert, dass er pfändbare Wertsachen bei sich führt.

Verkehrsrecht III: Zeitablauf nach FE-Entziehung, oder: Zwei Jahre und ein Monat unvertretbar

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Und dann zum Schluss noch etwas zur (vorläufigen) Entziehung der Fahrerlaubnis

Gegen den Angeschuldigten ist ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung anhängig. In dem ist die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden. Das AG hat jetzt im AG Bad Homburg, Beschl. v. 12.08.2024 – 7a Ds 117/24 – aufgehoben. Grund: Unverhältnismäßig:

„Die Beschwerde des Verteidigers vom 23. Juni 2024 (BI. 264 ff. d.A.) war, nachdem nunmehr Anklage erhoben worden ist, umzudeuten in einen Antrag auf Aufhebung der Maßnahme nach § 111a StPO.

Dem zulässigen Antrag des Verteidigers auf Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis war stattzugeben. Zwar liegt nach Aktenlage nach wie vor der von § 111a Abs. 1 StPO geforderte dringende Tatverdacht hinsichtlich der fahrlässigen Tötung bzw. der Gefährdung des Straßenverkehrs vor. Jedoch gebieten der Beschleunigungsgrundsatz sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis.

Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist wie alle strafprozessualen Zwangsmaßnahmen verfassungsrechtlichen Schranken unterworfen, die sich besonders im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und in dem Beschleunigungsgebot konkretisieren. Die Belastung aus einem Eingriff in den grundrechtlich geschützten Bereich eines Beschuldigten muss in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen stehen. Dieses Übermaßverbot kann im Einzelfall nicht nur der Anordnung und Vollziehung, sondern auch der Fortdauer einer strafprozessualen Maßnahme zeitliche Grenzen setzen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2005 — Az. 2 Ws 15/05 mwN).

Diese zeitliche Grenze ist im vorliegenden Fall nunmehr erreicht.

Zwischen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis vom 6. Juli 2022 und dem heutigen Tag liegen zwei Jahre und ein Monat. Der zeitliche Abstand zur vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis ist mittlerweile derart groß, dass unter Berücksichtigung der übrigen Umstände des Einzelfalls eine Fortdauer der vorläufigen Fahrererlaubnisentziehung nicht mehr vertretbar erscheint. Hierbei wurde maßgeblich berücksichtigt, dass der Angeschuldigte zwischenzeitlich weder strafrechtlich- noch straßenverkehrsrechtlich in Erscheinung getreten ist und er in der Zeit vom 12. Dezember 2022 bis 17. April 2023 an einer verkehrspsychologischen Intensivmaßnahme beim TÜV teilgenommen hat.

Angesichts dieser Umstände ist trotz des fortbestehenden Vorliegens eines von § 111a StPO geforderten dringenden Tatverdachts die Aufhebung des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis geboten.“

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: LG Halle versus LG Neuruppin/AG/LG Krefeld

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Und dann hier einige „Rückwirkungsentscheidungen“.

    1. Eine rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger ist jedenfalls dann vorzunehmen, wenn der Beschuldigte rechtzeitig eine Pflichtverteidigerbestellung ausdrücklich beantragt hatte, wenn die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen haben und wenn eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag ohne zwingenden Grund nicht unverzüglich erfolgt ist, da die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.
    2. Eine Vorlage des Antrages auf Bestellung des Pflichtverteidigers beim zuständigen Ermittlungsrichter mehr als drei Wochen nach dem (erstmaligen) Eingang des Antrages bei der Polizei ist nicht mehr unverzüglich.
    1. Der Verteidiger kann gegen die Ablehnung seiner Bestellung als Pflichtverteidiger nicht im eigenen Namen sofortige Beschwerde ein legen, weil er nicht in eigenen Rechten verletzt ist.
    2. Eine rückwirkende nachträgliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger kommt nicht in Betracht (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung).

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nicht zulässig.

Die Entscheidung des LG Halle ist zutreffend, die des LG Neuruppin bzw. die von AG/LG Krefeld sind falsch.

Ich verstehe bei der Entscheidung des LG Neuruppin schon nicht, warum man den richtigen Weg, den man mal gegangen ist, nun verlässt und sich dabei mit der richtigen anderslautenden Rechtsprechung nicht auseinandersetzzt, sie ja noch nicht einmal erwähnt. Und das in einer Sache, in der die Frage überhaupt keine Rolle gespielt hat. Denn, wenn die sofortige Beschwerde unzulässig war, kam es auf die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung nicht an. Warum problematisiert man das dann und warum ändert man dann gerade in der Sache seine Rechtsprechung. Das sieht ein wenig nach „Herr Lehrer, ich weiß was.“ aus. Zudem dürfte das LG die Frage der Beschwerdebefugnis wohl nicht richtig entschieden haben. Denn: Warum geht man nicht den Weg der Auslegung, den andere Gerichte gegangen sind und sieht die sofortige Beschwerde als im Namen des Mandanten eingelegt an. Letztlich müsste man aber den genauen Wortlaut der Beschwerdeschrift kennen.

Beim AG Krefeld „erstaunt“ die Kürze der Begründung – gelinde ausgedrückt. Man kann dem Satz: „Zudem ist das Verfahren bereits eingestellt.“ entnehmen, dass das AG das Für und Wider erwogen und sich mit den für und gegen die rückwirkende Bestellung auseinandergesetzt hat. Oder doch nicht? Jedenfalls hat diese tiefschürfende Begründung das LG nicht davon abgehalten, sich mit dem Satz: „Die Kammer schließt sich auch in der Begründung den zutreffenden Erwägungen des mit der Beschwerde angegriffenen Beschlusses an.“ Man möchte schreien, wenn man es liest. Beides ist schlicht eine Unverschämtheit. Zumindest von einem LG als Beschwerdegericht sollte man mehr erwarten dürfen.

Strafe III: Tagessatzhöhe beim Strafgefangenen, oder: Tagessatzhöhe beim Arbeitslosen

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Und dann zum Tagesschluss noch zwei AG-Entscheidungen zur Tagessatzhöhe.

Hier kommt zuerst der AG Amberg, Beschl. v. 20.06.2024 – 9 Cs 171 Js 12721/23 – zur Tagessatzhöhe bei einem Strafgefangenen:

„Im Hinblick auf die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten ist die Höhe des Tagessatzes mit 1,00 EUR festzusetzen. Der Angeklagte erhält lediglich Taschengeld in unter-schiedlicher Höhe, auf welches mangels Tätigkeit abzustellen ist. Im Februar 2024 erhielt er Taschengeld für Januar i.H.v. 41,99 EUR und im März 2024 (für Februar 2024) ein solches i.H.v. 43,02 EUR unter Berücksichtigung des Eigengeldes. Um die regelmäßig schlechte finanzielle Ausgangssituation von Strafgefangenen nach Strafhaftende nicht weiter zu verschlechtern und die Resozialisierungschancen nicht weiter zu reduzieren, sollte bei Strafgefangenen stets die Tagessatzanzahl gewählt werden, die am untersten Ende des unter Schuldgesichtspunkten noch Vertretbaren liegt. Die vom Angeklagten durch den unfreiwilligen Aufenthalt in der Justizvollzugs-anstalt ersparten Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung außer Ansatz (zum Ganzen MüKoStGB/Radtke, 4. Aufl. 2020, StGB § 40 Rn. 79). Das Gericht setzt damit die Tagessatzhöhe auf 1,00 EUR fest.“

Und als zweite Entscheidung der AG Pirna, Beschl. v. 17.07.2024 – 23 Cs 962 Js 64817/23 – zur Tagessatzhöhe bei einem Arbeitslosen. Das AG hat den Tagessatz auf 5,00 EUR/Tag festgesetzt:

„Bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe ist das Gericht davon ausgegangen, dass der Angeklagte derzeit in Tschechien Arbeitslosengeld in Höhe von monatlich umgerechnet ca. 175,–Euro erhält.“