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Erstreckungsentscheidung, Beschwerde, Klarstellung, oder: Weniger wäre mehr gewesen, liebes LG

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Und heute dann Gebührenfreitag mit einer LG- und einer OLG-Entscheidung.

Ich beginne mit dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 25.06.2024 – 13 Qs 17/24 – noch einmal zu Fragen der Erstreckung (§ 48 RVG). Nachdem ja die mit der sog. Erstreckung der Beiordnung des Pflichtverteidigers auf andere Verfahren zusammenhängenden Fragen die Rechtsprechung und Literatur nach Inkrafttreten des RVG zunächst häufig beschäftigt haben, sind seit dem KostRÄnG 2021 dazu nur noch wenige Entscheidungen zu finden. Nun hat sich das LG Nürnberg-Fürth aber noch einmal mit der Problematik befasst. Folgender Sachverhalt:

Die Staatsanwaltschaft führte gegen den Beschuldigten zunächst ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte unter dem Aktenzeichen Az. 1 sowie ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung unter dem Aktenzeichen Az. 2. Mit Beschluss vom 10.03.2024 bestellte das AG anlässlich der Haftbefehlseröffnung den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger des Beschuldigten für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren mit dem (später vergebenen) Aktenzeichen Az. 1. Mit Schriftsätzen vom 11.03.2024 zeigte sich der Rechtsanwalt auch für weitere Ermittlungsverfahren der Polizeiinspektionen Fürth, Nürnberg-Mitte und Erlangen-Stadt als Verteidiger an und stellte im Namen des Beschuldigten den Antrag bei der jeweiligen Polizeiinspektion, als dessen Pflichtverteidiger bestellt zu werden. Die polizeilichen Aktenzeichen wurden nach Eingang der Verfahren bei der Staatsanwaltschaft den staatsanwaltschaftlichen Verfahren Az. 1 und Az. 2 zugeordnet.

Mit Verfügung vom 15.04.2024 hat die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren Az. 2 zum Verfahren Az. 1 verbunden. Mit Beschluss vom 18.04.2024 hat das AG festgestellt, dass sich die Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger des Beschuldigten für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren Az. 1 auch auf das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren Az. 2 erstreckt. Die Staatsanwaltschaft hat dem Rechtsanwalt mit Verfügung vom 2.5.2024 mitgeteilt, dass das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren Az. 2 zum Verfahren Az. 1 verbunden wurde. Mit Verfügung vom 10.05.2024 hat die Staatsanwaltschaft dann dem Rechtsanwalt mitgeteilt, dass er in den Verfahren, welche unter dem staatsanwaltlichen Az. 2 erfasst wurden, bereits wegen des Erstreckungsbeschlusses des AG v. 18.04.2024 zum Pflichtverteidiger bestellt worden sei.

Mit Schriftsatz vom 15.05.2024 erklärte der Rechtsanwalt, dass er seinen Beiordnungsantrag zum staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren Az. 2 vom 11.3.02024 trotz zwischenzeitlicher Verbindung zum Verfahren Az. 1 aufrechterhalte und teilte mit, dass nach seinem Kenntnisstand über seinen Antrag vom 11.03.2024 noch nicht entschieden worden sei. Er äußerte in diesem Schriftsatz die Ansicht, dass eine rückwirkende Bestellung als Pflichtverteidiger jedenfalls dann zulässig sei, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt worden sei und die Entscheidung über die Beiordnung aufgrund behördeninterner Vorgänge unterblieben sei. Die Staatsanwaltschaft hat dann beim AG beantragt, die Beiordnungsanträge abzulehnen, da der Rechtsanwalt bereits in allen Verfahren als Pflichtverteidiger bestellt sei. Der Rechtsanwalt hat dem AG auf Nachfrage mitgeteilt, dass er seine Beiordnungsanträge nicht zurücknehme.

Das AG hat sodann mit Beschluss vom 24.05.2024 den Antrag des Rechtsanwalts, ihn „erneut zum Pflichtverteidiger des Beschuldigten zu bestellen“, abgelehnt. Dagegen hat der Rechtsanwalt „sofortige Beschwerde“ eingelegt. Das LG hat das Rechtsmittel als unzulässig angesehen.

Ich beschränke mich hier auf die Leitsätze der Entscheidung, und zwar:

    1. Eine Beschwerde des Pflichtverteidigers gegen die Ablehnung der rückwirkenden Beiordnung für das hinzuverbundene Verfahren ist mangels Beschwer unzulässig, wenn die Verfahrensverbindung nach Beiordnung im führenden Verfahren erfolgt ist und das Gericht nach Verfahrensverbindung beschlossen hat, dass sich die Verteidigerbestellung auch auf das hinzuverbundene Verfahren erstreckt.
    2. Nach der zum 1.1.2021 erfolgten Ergänzung von § 48 Abs. 6 S. 3 RVG ist klargestellt, dass die Anordnung einer Erstreckungswirkung bei einer anwaltlichen Beiordnung nach der Verbindung nicht erforderlich ist, weil § 48 Abs. 6 S. 1 StPO unmittelbar gilt.

Die müssen/sollten genügen. Denn: Weniger wäre hier mehr gewesen, bzw. Ich kann nachvollziehen, wenn man als Leser der Entscheidungsgründe im verlinkten Volltext unter Berücksichtigung des obigen Sachverhalts verwirrt ist und das Ganze dann noch einmal liest, in der Hoffnung, es zu verstehen. Denn es ist mir auch so gegangen und ich hatte auch nach dem zweiten Lesen immer noch Verständnisprobleme. Und zwar vor allem im Hinblick auf die Frage: Was soll das eigentlich alles und sind die wortreichen Ausführungen überhaupt erforderlich? M.E. sind sie es nämlich nicht und sie führen gerade, da sie auch noch zu sehr ineinander verschachtelt sind, zur Verwirrung. Ich verkenne nicht, dass das LG es sicherlich sehr gut machen wollte. Nur wäre weniger hier mehr gewesen. Wobei darauf hinzuweisen ist, dass das Ergebnis des LG zutrifft.

Einfacher und – hoffentlich auch – klarer wird es, wenn man sich noch einmal die entscheidenden Verfahrensvorgänge für die zur Entscheidung anstehende Problematik in Zusammenhang mit der Erstreckung (§ 48 RVG) verdeutlich. Das sind folgende Punkte:

  • 10.3.2024 – Bestellung des Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger im Verfahren Az. 1,
  • 15.4.2024 (Hinzu)Verbindung von Verfahren Az. 2 zu Verfahren Az. 1,
  • 18.4.2024 – Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung aus Verfahren Az. 1 auch auf Verfahren Az. 2.

Damit ist im Grunde alles geklärt. Denn nach dem Ablauf ist eine Erstreckungsentscheidung nach § 48 Abs. 6 S. 2 RVG erforderlich. Denn es werden die Verfahren Az. 1 und Az. 2 verbunden und der Rechtsanwalt ist nur in Verfahren Az. 1 als Pflichtverteidiger bestellt. Daher muss also, wenn auch im Verfahren Az. 2 die gebührenrechtlichen Folgerungen der Pflichtverteidigerbestellung, insbesondere die des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG eintreten sollen, die Erstreckung erfolgen. Von dem ihm insoweit eingeräumten Ermessen – „kann“ – hat das AG Gebrauch gemacht und am 18.4.2024 festgestellt, „dass sich die Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger des Beschuldigten für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren Az. 1 auch auf das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren Az. 2 erstreckt“. Das hat die Staatsanwaltschaft dem Rechtsanwalt dann am 10.05.2024 mitgeteilt. Spätestens dann hätte aus Sicht des Rechtsanwalts Ruhe sein müssen. Denn er hatte alles erreicht, was er erstrebt hatte. Er war Pflichtverteidiger und es war erstreckt. Die gesetzlichen Gebühren waren also sicher.

Mir erschließt sich nicht, warum der Verteidiger dann aber noch auf „rückwirkende Beiordnung“ bestanden hat? Denn mit rückwirkender Beiordnung i.e.S., um die in Rechtsprechung und Literatur derzeit heftig gestritten wird, hat das Ganze nichts zu tun, da es in den Fällen immer zunächst um die Frage geht, ob der Rechtsanwalt nach Erledigung eines Verfahrens noch Pflichtverteidiger wird. Das Problem stand hier aber gar nicht an, da weder die Verfahren erledigt waren noch der Rechtsanwalt nicht Pflichtverteidiger war. Denn das war er durch die Verbindung auch im Verfahren Az. 2 geworden. Und auch die vergütungsrechtlichen Fragen waren durch die Erstreckungsentscheidung vom 18.04.2024 erledigt. Man versteht daher nicht, was der Rechtsanwalt eigentlich will. Man hat den Eindruck, dass er sich den Unterschied zu den Fällen nicht verdeutlich hat und lieber auf „Nummer Sicher“ geht. Und das LG macht das Spiel mit und führt dazu aus. Aber warum bescheidet man den Rechtsanwalt in Zusammenhang mit der Beschwer nicht kurz und knapp, dass er alles erreicht hat, was er erreichen wollte/muss. Alles andere ist überflüssig, führt zu Verwirrung und lässt den Eindruck entstehen, dass auch das LG nicht so richtig weiß, worauf es ankommt. Zumal in dem Satz: „…. nunmehr klar, dass bei der Verbindung von Verfahren nach der Beiordnung in einem der Verfahren die Erstreckung von einer gerichtlichen Feststellung abhänge ….“ das m.E. entscheidende „nur“ fehlt.

Aber ich will nicht nur meckern. Denn: Zutreffend sind die Ausführungen des LG zum zulässigen Rechtsmittel. Das ist eben nicht die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 StPO, sondern die einfache Beschwerde. Daran hat sich durch die Änderung des Rechts der Pflichtverteidigung im Jahr 2019 nichts geändert. Denn die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 StPO bezieht sich nur auf die materiellen Pflichtverteidigungsfragen. Damit haben wir es hier aber gar nicht zu tun, da es um eine RVG-Problematik der gebührenrechtlichen Erstreckung geht.

Und zutreffend ist auch das vom LG Ausgeführte zu Klarstellungen in § 48 Abs. 6 S. 1 und 3 RVG durch das KostRÄndG 2021, auch wenn es – siehe oben – überflüssig war. Das KostRÄndG hat den Streit, ob die Erstreckung beantragt werden und ausgesprochen werden muss, wenn erst die Verbindung erfolgt und danach die anwaltliche Beiordnung, erledigt (vgl. Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, § 48 Rn 24; Volpert AGS 2021, 445, 450).

StPO III: Immer wieder Zustellungsproblematik, oder: Vollmacht, ZU-Bevollmächtigter, Ersatzzustellung

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Und dann zum Tagesschluss ein paar Entscheidungen, die sich bei mir zu Zustellungsfragen angesammelt haben. Die haben ja in der Praxis eine nicht unerhebliche Bedeutung. Hier sind dann – jeweils nur die Leitsätze – leider sind die Entscheidungen zum Teil schon etwas älter:

Die Heilung eines Zustellungsmangels durch den tatsächlichen Zugang des zuzustellenden Schriftstücks gemäß § 189 ZPO i.V.m. § 37 Abs. 1 StPO setzt voraus, dass eine Zustellung vom Gericht beabsichtigt war, diese muss folglich angeordnet worden sein.

Gemäß der Entscheidung des EuGH vom 22.04.2017, Az.C-124/16, C-188/16 und C-213/16, C-124/16, C-188/16, C-213/16, sind die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund des Art. 6 der Richtlinie 2012/13 richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass in einem Fall, in dem ein Beschuldigter keinen festen Wohnsitz hat und daher einen Zustellungsbevollmächtigten benennt, und an diesen dann ein Strafbefehl zugestellt wird, in dem Moment, in dem der Beschuldigte vom Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt, durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand über die volle Einspruchsfrist verfügen können muss.

1. Die nach § 43 StPO zu berechnende, zweiwöchige Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl beginnt ausweislich des § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO mit dessen Zustellung. Für die Ausführung der Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde gelten nach § 37 Abs. 1 StPO Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechend.

2. Bei der Verpflichtung des Zustellers bei Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gemäß § 180 Satz 3 ZPO, das Datum der Zustellung auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks zu vermerken, handelt es sich um eine zwingende Zustellungsvorschrift im Sinne des § 189 ZPO mit der Folge, dass das Schriftstück bei einer Verletzung dieser Vorschrift erst mit dem tatsächlichen Zugang als zugestellt gilt.

Die Zustellung an den Wahlverteidiger ist unwirksam, wenn dessen Bevollmächtigung nicht gemäß § 145a Abs. 1 StPO nachgewiesen ist. Die anwaltliche Versicherung ordnungsgemäßer Bevollmächtigung ist hierfür nicht ausreichend.

Und zu der Zustellungsproblematik – und noch zu viel mehr – kann man dann schon und bald wieder << Werbemodus an>> Aktuelles lesen in den Neuauflagen von

  • Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 7. Aufl., und in
  • der 3. Auflage von Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe.
  • und in den beiden Handbücher für das Ermittlungsverfahren – jetzt dann 10. Aufl. – und für die Hauptverhandlung – jetzt dann 11. Aufl.,

die man hier (vor)bestellen kann. <<Werbemodus aus>>

StGB III: „Ungeimpft“ „Judenstern“ während Corona, oder: „from the river to the sea – Palestine will be free“

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Und dann zum Abschluss des Tages noch zwei Entscheidungen, und zwar einmal aus der „Abteilung“ „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates“, und zwar „§ 86a StGB – Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen“ bzw. aus der „Abteilung“ „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“, und zwar  „§ 130 StGB – Volksverhetzung“. Von beiden Entscheidungen gibt es aber nur die Leitsätze, die doch rechtlangen Begründungen dann bitte ggf. in den verlinkten Volltexet selbst nachlesen.

Also:

1. Der Wortlaut des § 130 Abs. 3 StGB ist allein auf die Billigung, Leugnung und Verharmlosung von unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Taten nach § 6 Abs. 1 VStGB bezogen und umfasst damit den Völkermord, nicht aber die weiteren dem Völkermord vorangegangenen Maßnahmen der Ausgrenzung, Schikanierung und Rechtlosstellung von Juden unter dem nationalsozialistischen Unrechtsregime.

2. Die Verwendung eines verfremdeten sogenannten Judensterns als Kritik an der Situation ungeimpfter Personen unter den Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie (sogenannter Ungeimpft-Stern) verwirklicht nicht den Tatbestand einer Volksverhetzung nach § 130 Abs. 3 StGB, wenn die Verwendung dieses Zeichens nach den tatrichterlichen Feststellungen unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls auf Maßnahmen der Ausgrenzung, Schikanierung und Rechtlosstellung von Juden bezogen zu verstehen ist, nicht aber auf den an ihnen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Völkermord.

1. Es ist fraglich, ob es sich dem Slogan „from the river to the sea – Palestine will be free“ um ein Kennzeichen im Sinne des § 86a StGB handelt. Jedenfalls ermangelt es an einem hinreichenden Verdacht dahingehend, dass es sich hierbei um ein solches der HAMAS handelt.

2. Zur Strafbarkeit der Verwendung des Slogans „from the river to the sea – Palestine will be free“ “ (hier verneint)

StA nimmt ihre Berufung vor Begründung zurück, oder: Ignorante/falsche Entscheidung des LG Karlsruhe

daumen

Und im zweiten Posting dann den LG Karlsruhe, Beschl. v. 20.06.2024 – KO 3 Qs 20/24. In der Entscheidung geht es mal wieder um die Problematik/Frage: Gebühren(erstattung( für den Rechtsanwalt, wenn die StA ihr Rechtsmittel vor Begründung zurücknimmt, der Verteidiger aber schon tätig geworden ist.

Die gibt es – so auch das LG Karlsruhe mal wieder – nicht:

„Allein streitig war im vorliegenden Fall die Frage, inwieweit auch Gebühren für das Berufungsverfahren erstattungsfähig sind, nachdem die am 08.12.2023 eingelegte Berufung der Staatsanwaltschaft Karlsruhe am 16.01.2024 zurückgenommen wurde, ohne dass in der Zwischenzeit eine Begründung erfolgt war. Im Ergebnis handelte es sich bei den hierfür geltend gemachten Kosten nicht um notwendige Auslagen.

Dabei verkennt die Kammer nicht, dass diese Frage in Literatur und Rechtsprechung umstritten ist. Während große Teile der Literatur die Meinung vertreten, dass jedes Tätigwerden des Verteidigers in diesem Verfahrensstadium notwendig ist, besteht in der Rechtsprechung jedenfalls für die Revision überwiegend Einigkeit, dass ein Handeln des Verteidigers vor Eingang der Revisionsbegründung nicht angezeigt ist (vgl.: OLG Stuttgart, Beschluss vom 22.02.2021, Az.: 2 Ws 246/20 m. w. N.). Der letztgenannten Auffassung schließt sich die Kammer an, da in diesem Verfahrensstadium ein Tätigwerden des Verteidigers zwecklos ist. Für eine sachgerechte und sinnvolle Tätigkeit besteht in dieser Zeit regelmäßig keine Veranlassung, eine Beratung kann sich allenfalls auf hypothetische Angriffsziele des Rechtsmittels beziehen. Allein das subjektive Bedürfnis des Verurteilten nach einer Beratung lässt eine solche nicht als notwendig erscheinen.

Diese Maßstäbe gelten auch für die Berufung. Die Kammer hält insoweit an ihrer Auffassung aus dem Beschluss vom 26.03.2012, Az.: 3 Qs 22/12 KO, fest. Zwar sieht § 344 StPO eine Begründungspflicht nur für das Rechtsmittel der Revision vor, während das Rechtsmittel der Berufung nach S 317 StPO eine Begründung nicht zwingend vorsieht. Gleichwohl ist die Staatsanwaltschaft nach Nr. 156 Abs. 1 RiStBV zur Begründung eingelegter Berufungen verpflichtet, ihre Einlegung und Begründung sind dem Verteidiger zuzustellen. Daher ist es einem Angeklagten grundsätzlich auch bei der Berufung zumutbar, auf die Rechtsmittelbegründung zu warten, um erst anschließend mit seinem Verteidiger die notwendigen Maßnahmen zur Verfolgung seiner Interessen zu ergreifen (so auch: OLG Stuttgart, a. a. O. m. w. N.).“

Mich überzeugt das nicht – hat es übrigens noch nie. Natürlich ist ein Handeln des Verteidigers als Beistand des Angeklagten gerade auch in diesen Fällen „angezeigt“. Denn gerade in diesen Fällen wird beim Verteidiger ja Rat gesucht, wie es weitergeht. Und den gen Rat gibt es dann kostenlos? Nein, das ist falsch. Ich weiß auch nicht, warum LG und OLG diese falsche Ansicht dauernd wiederholen. Die sind doch dort alle so schlau, jedenfalls tut man so.

Und hier ist/war es m.e. besonders frech. Denn hier hatten wir – so die Mitteilung der Kollegin, die mir die falsche Entscheidung geschickt hat – folgende „Zwischengeschehen“.

„Hintergrund war Folgendes: Mein Mandant, dem ich als PfV beigeordnet war, wurde erstinstanzlich freigesprochen. Die StA wollte eine Verurteilung wegen Betrugs zu 2 J 10 M und die Einziehung iHv 181.500 EUR. Nach dem Freispruch kündigte die StA lauthals an, Rechtsmittel hiergegen einlegen zu wollen. Das LG würde dieses Urteil sicher nicht halten, hieß es.

Nachdem die Begründung des Urteils vom AG pp. kam, habe ich ein Schreiben dorthin geschickt und gegenüber der StA die Rücknahme der Berufung anheim gestellt. Dass die StA tatsächlich zurücknehmen würde, hätte ich niemals erwartet.

Dem Mandanten ging der A… auf Grundeis, insbesondere wegen der drohenden Einziehung. Dementsprechend erfolgte naturgemäß auch eine Beratung, wie das Ganze nun weitergeht.

Tatsächlich nahm die StA aber die Berufung nach meinem Schreiben zurück.“

Das war also nicht ein „sachgerechte und sinnvolle Tätigkeit“? Man versteht die Ignoranz der Kammer nicht. Sie ist in meinen Augen frech, zumal die Begründung mit keinem Wort auf den Verfahrensverlauf eingeht. Man hätte auch schreiben können: Gibt es nicht, haben wir immer schon so gemacht. Dann wäre man noch schneller mit „ander Leuts“ Einnahmen „fertig gewesen“.

Grobsichtung von Datenträgern in Kipo-Verfahren, oder: Wer trägt die Kosten?

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Und dann gibt es heute noch den Gebührenfreitag, und zwar mit zwei kostenrechtlichen Entscheidungen.

Hier kommt dann zunächst der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 17.06.2024 – 12 Qs 19/24 – zu den Auslagen der Staatskasse für Grobsichtung von Datenträgern, hier in einem Kipo-Verfahren, und zur Frage der „Übernahme“ dieser Kosten durch den Verurteilten Angeklagten. Insbesondere in sog. KiPo-Verfahren kommt ja nach einer Verurteilung des Angeklagten häufig weiteres „Ungemach“ auf den Verurteilten zu, und zwar dann wenn er die Gerichtskostenrechnung erhält. Denn diese enthält häufig erhebliche von Staatskasse verauslagte Auslagen für die Sichtung von Datenträgern. So auch in den jetzt vom LG Nürnberg-Fürth entschiedenen Fall.

Hier waren mit Kostenrechnung vom 24.08.2023 wurde unter Bezugnahme auf Nr. 9005 KV GKG eine Sachverständigenvergütung in Höhe von 17.794,31 EUR zu seinen Lasten festgesetzt worden. Dem lag die Rechnung einer GmbH vom 13.01.2023 über einen Gesamtbetrag von 17.802,64 EUR zugrunde. In dieser waren in einer Position in Ansatz gebracht für die Grobsichtung verschiedener Asservate 4.030 Arbeitsminuten und außerdem in einer Position 7.080 Arbeitsminuten, was 118 Stunden entspricht, zu einem Stundenpreis von 125,00 EUR.

Das AG hat dann die Erinnerung des Verurteilten als unbegründet verworfen. Die dagegen gerichtet Beschwerde des Verurteilten hatte beim LG nach Übertragung durch den Einzelrichter (§ 66 Abs. 6 Satz 2 GKG) auf die Kammer Erfolg:

„Zu den Kosten des Verfahrens gehören die Gebühren und Auslagen der Staatskasse, einschließlich derjenigen Kosten, die im Ermittlungsverfahren durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind (§ 464a Abs. 1 Satz 1, 2 StPO). § 3 Abs. 2 GKG verweist wegen der Kosten auf die in der Anlage 1 aufgeführten Gebühren und Auslagen. Gemäß Nr. 9015 KV GKG gehören zu den Auslagen der Staatskasse auch die unter Ziffer 9000 bis 9014 bezeichneten Kosten, soweit sie durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind. Dies gilt also auch für die gemäß Nr. 9005 KV GKG nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz zu zahlenden Beträge. Dazu gehören die festgesetzten Sachverständigenkosten i.H.v. 9.993,03 € brutto jedoch nicht.

1. Zu den Kosten des Ermittlungsverfahrens kann auch der Aufwand für die Durchsicht der Papiere oder Daten gehören. Gemäß § 110 Abs. 1, 3 StPO steht die Durchsicht der elektronischen Speichermedien der Staatsanwaltschaft und – auf deren Anordnung – ihren Ermittlungspersonen im Sinne des § 152 GVG zu. Soweit sichergestellt ist, dass die Verantwortung für die Durchsicht der Papiere bei der Staatsanwaltschaft verbleibt, kann diese auch Hilfspersonen wie Dolmetscher, Sachverständige oder sonstige dienstleistende Dritte einsetzen (OLG Nürnberg, Beschluss vom 10.04.2018 – 1 Ws 605/17, S. 3; OLG Schleswig, Beschluss vom 10.01.2017 – 2 Ws 441/16, juris Rn. 9; Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 110 Rn. 3). Das war der Fall. Der Sachbearbeiter bei der Kriminalpolizei hat nach Rücksprache mit dem ermittelnden Oberstaatsanwalt die … GmbH mit der Auswertung beauftragt.

2. Allerdings stellen die abgerechneten Leistungen unter Pos. 4 der Rechnung der … GmbH in Höhe von 8.397,50 € netto (4.030 min / 60 min = 67,17 h * 125 € netto) bzw. 9.993,03 € brutto keine Tätigkeiten eines Sachverständigen dar, sodass in dieser Höhe auch kein Kostenansatz nach Nr. 9005 KV GKG erfolgen konnte.

a) Aufgabe eines Sachverständigen ist es, aufgrund von Erfahrungssätzen oder besonderen Fachkenntnissen Schlussfolgerungen aus einem feststehenden Sachverhalt zu ziehen und dem Gericht allgemeine Erfahrungssätze oder besondere Kenntnisse auf seinem jeweiligen Wissensgebiet zu vermitteln (OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.05.2020 – 2 Ws 89-91/19, juris Rn. 8; OLG Schleswig, Beschluss vom 10.01.2017 – 2 W 441/16, juris Rn. 11; LG Hamburg, Beschluss vom 07.08.2019 – 631 Qs 27/19, juris Rn. 10). Damit wird ein externer IT-Forensiker dann als Sachverständiger tätig, wenn er unter Einsatz geeigneter und nicht für jedermann zur Verfügung stehender Programme und entsprechenden Fachwissens den Zugang zu verschlüsselten oder sonst für die Ermittlungsbehörden nicht zugänglichen Daten ermöglicht und diese Daten aufbereitet und so die ermittlungsrelevanten Tatsachen fest- und zusammenstellt (OLG Nürnberg, Beschluss vom 10.04.2018 – 1 Ws 605/17, S. 5; Wackernagel/Graßie, NStZ 2021, 12, 16; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., vor § 72 Rn. 7a). In Abgrenzung dazu ist genuine Ermittlungsarbeit und keine Sachverständigentätigkeit anzunehmen, wenn der externe IT-Forensiker als Hilfskraft der Ermittlungsbehörden lediglich eine reine Sichtung sichergestellter Datenträger vornimmt oder soweit er für die Ermittlungsbehörden technische Dienstleistungen zur Erleichterung der Durchsicht eines Datenbestandes erbringt, die etwa in der Durchsicht nach bestimmten Kriterien oder in der Aufbereitung und Strukturierung der Daten bestehen kann (OLG Nürnberg, aaO; OLG Schleswig, aaO, Rn. 12 ff.; Schmitt, aaO). Knüpft der Sachverständige auftragsgemäß an eine derartige Sichtung oder Strukturierung jedoch als sachverständig zu wertende Schlussfolgerungen oder Erläuterungen, wäre seine Arbeit allerdings insgesamt als die eines Sachverständigen zu qualifizieren (vgl. OLG Nürnberg, aaO, S. 4 f.).

b) Daran gemessen lag, soweit dies von der Beschwerde angegriffen wird, Sachverständigentätigkeit nicht vor. Ausweislich der Ausführungen unter „D.99 Grobsichtung“ im Gutachten vom 13.01.2023 beschränkte sich die Tätigkeit der beauftragten GmbH darauf, die Asservate 1.1.9, 1.1.10, 1.1.11, 1.1.13, 1.1.16, 1.1.22, 1.1.25, 1.1.29, 1.1.30, 1.1.31, 1.1.36, 1.2.1, 1.2.2, 1.2.3, 1.2.4, 1.2.5, 1.3.5, 1.3.6, 1.3.7, 1.3.9, 1.3.10, 1.3.11, 1.3.12, 1.3.13, 1.3.14, 1.3.15, 1.3.16, 1.3.18 nach deren Art zu beschreiben, den Datenträgerinhalt mittels der Software … einzulesen und ggf. zu prüfen, ob Dateien gelöscht wurden. Soweit nach Ansicht des Auswerters inkriminiertes Material aufgefunden wurde, wurde dies knapp festgehalten und eine weitergehende Prüfung nicht durchgeführt.

Die Beantwortung spezifischer Fragestellungen, für die ein spezielles Fachwissen im Bereich der Informationstechnologie erforderlich wäre, erfolgte damit gerade nicht. Soweit für die Auswertung die Software … angewandt wurde, handelt es sich um eine für Jedermann käufliche Software, für deren Anwendung ebenfalls – jedenfalls für die unter D.99 genannten Maßnahmen – kein besonderes Fachwissen erforderlich ist.“

Dazu kurz Folgendes:

Die Entscheidung ist zutreffend und entspricht dem Ansatz der zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung.as „richtige“ Rechtsmittel richtet sich in diesen Fällen nach § 66 GKG, also Erinnerung und ggf. Beschwerde. Das Beschwerdegericht kann nach §§ 66 Abs. 4 S. 1 GKG die weitere Beschwerde zulassen. Davon hat das LG hier abgesehen, da die maßgeblichen Rechtsfragen durch die – angeführten – Entscheidungen des OLG Nürnberg (Beschl. v. 10.4.2018 – 1 Ws 605/17) und des OLG Schleswig (a.a.O.) hinreichend geklärt seien. was m.E. zutrifft. In dem Zusammenhang „bedauert“ das LG, dass der OLG Nürnberg-Beschluss bislang unveröffentlicht ist. Ich kann das Bedauern nachvollziehen. Denn als „nachgeordnetes“ Gericht wüsste man ja schon gern, wie das „übergeordnete“ OLG die ggf. anstehenden Rechtsfragen entschieden hat. Mir erschließt sich deshalb und auch im Hinblick, dass auch die „juristische Öffentlichkeit“ sehr wissen möchte, welche Rechtsauffassungen von den jeweiligen OLG vertreten werden, die leider oft sehr restriktive „Veröffentlichungspraxis“ nicht. Das gilt vor allem dann, wenn dann ein OLG noch in einer Entscheidung auf seine „ständige Rechtsprechung“ Bezug nimmt. Woher soll man die kennen, wenn nicht veröffentlicht wird?