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Verteidigervergütung nach Verbindung von Verfahren, oder: OLG Koblenz irrt gewaltig

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Und dann Gebührenfreitag.

Ich stelle heute zunächst einen „unschönen“ Beschluss des OLG Koblenz vor. In dem OLG Koblenz, Beschl. v. 19.02.2025 – 6 Ws 651/24 – geht es mal wieder um die Verteidigervergütung nach Verbindung von Verfahren. Die damit zusammenhängenden Fragen beschäftigen die (Ober)Gerichte immer wieder. Und die Entscheidungen sind für Verteidiger insbesondere deshalb von Bedeutung, weil häufig um recht hohe Beträge gestritten wird.

Folgender – etwas komplizierter – Sachverhalt:

Das AG hat den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Diesem Strafverfahren lagen das führende Ermittlungsverfahren FÜ V 1 und die Verbundverfahren V 2, V 3, V 4 sowie als sog. Fallakten geführte neun weitere Verfahren F 1 – F 9 zugrunde.

In dem führenden Verfahren FÜ V 1 erging am 18.08.2023 Haftbefehl gegen den Verurteilten. Im Rahmen der Haftvorführung am selben Tag wurde ihm der Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beigeordnet; dieser beantragte Akteneinsicht. Im Nachgang zum Vorführungstermin wiederholte er mit Schriftsatz vom 18.08.2023 seinen Antrag auf Akteneinsicht in das führende Verfahren und zeigte unter anwaltlicher Versicherung ordnungsgemäßer Vertretungsvollmacht die Verteidigung des Verurteilten auch „in allen von Ihnen, sehr geehrter Herr Staatsanwalt W. bekannt gegebenen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren/Strafverfahren“ an. Zugleich beantragte er hinsichtlich der weiteren – nicht konkret bezeichneten – Ermittlungsverfahren Akteneinsicht und seine Bestellung als Pflichtverteidiger bereits im Vorverfahren. Ferner bat er darum, das Bestellungsschreiben zu den jeweiligen Verfahrensakten zu geben

Am 25.08.2023 verband die Staatsanwaltschaft die den neun Fallakten zugrundeliegenden Verfahren zunächst zu dem Verfahren V 2 hinzu. Mit Beschluss des AG vom 15.09.2023 wurde der Rechtsanwalt dem Verurteilten in diesem Verfahren als Pflichtverteidiger bestellt. Am 22.9.2023 wurde ihm Akteneinsicht in das Verfahren V 2 einschließlich der neun Fallakten gewährt.

Mit staatsanwaltschaftlicher Verfügung vom 02.11.2023 wurden das Verfahren F 1 gemäß § 170 Abs. 2 StPO und das Verfahren F 9 hinsichtlich des Tatvorwurfs der Sachbeschädigung vorläufig gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellt; am selben Tag wurde hinsichtlich der verbleibenden Fälle Anklage zum AG erhoben. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens am 16.11.2023 hat das AG am 28.11.2023 das Verfahren V 2 mit dem führenden Verfahren FÜ V 1 verbunden und zugleich die Pflichtverteidigerbestellung des Rechtsanwalts auf das hinzuverbundene Verfahren erstreckt. Durch Beschluss vom 14.12.2023 wurde der Verbindungsbeschluss dahingehend ergänzt, dass sich die Beiordnung des Rechtsanwalts auch auf die mit dem Verfahren V 2 verbundenen neun als Fallakten geführte Verfahren erstreckt.

Zuvor hat das AG am 16.10.2023 das Verfahren V 3 und am 13.11.2023 das Verfahren V 4 mit dem führenden Verfahren FÜ V 1 verbunden und jeweils die Pflichtverteidigerbestellung des Rechtsanwalts auf das hinzuverbundene Verfahren erstreckt, wobei in dem Verfahren V 3 die bis dahin bestehende Pflichtverteidigerbestellung des Rechtsanwalts aufgehoben wurde.

Nach Ende des Verfahrens hat der Rechtsanwalt die Festsetzung von Pflichtverteidigergebühren in Höhe von 8.017,80 EUR brutto beantragt. Dabei hat er neben den Gebühren für das führende Verfahren FÜ V 1 und die hinzuverbundenen Verfahren V 2, V 4 und V 3 für jede der neun Fallakten F 1 – F 9 die Festsetzung einer Grundgebühr (Nrn. 4101, 4100 VV RVG), einer Verfahrensgebühr (Nrn. 4105, 4104 VV RVG) und der Auslagenpauschale (Nr. 7002 VV RVG) geltend gemacht. Das AG hat die aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen auf 3.191,58 EUR festgesetzt. Die hiergegen eingelegte Erinnerung des Rechtsanwalts wurde als unbegründet zurückgewiesen. Gegen diesen Beschluss hat der Rechtsanwalt „sofortige Beschwerde“ eingelegt, mit welcher er die Festsetzung einer Pflichtverteidigervergütung in Höhe von 8.017,80 EUR weiterverfolgt. Er ist der Auffassung, Grund- und Verfahrensgebühren sowie die Auslagenpauschale seien ihm gemäß § 48 Abs. 6 RVG jeweils auch für die als Fallakten geführten Verbundverfahren zuzuerkennen.

Nachdem das Verfahren gemäß §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 8 S. 2 RVG wegen grundsätzlicher Bedeutung auf die Kammer übertragen worden ist, hat diese mit dem angefochtenen Beschluss den Beschluss des AG abgeändert, die an den Rechtsanwalt zu zahlende Vergütung auf insgesamt 3.594,57 EUR festgesetzt und die weitere Beschwerde zugelassen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, der Rechtsanwalt habe eine gebührenauslösende Tätigkeit in den neun Fallakten vor der Verbindung mit dem Verfahren V 2 nicht glaubhaft gemacht. Zudem handele es sich insoweit nur um „eine Angelegenheit“ i.S.d. § 15 Abs. 2 RVG, sodass auch aus diesem Grund keine eigenständigen Gebühren für die den Fallakten zugrundeliegenden Verfahren angefallen seien.

Im Einzelnen hat die Strafkammer dem Rechtsanwalt in dem Verfahren FÜ V 1 die Grundgebühr Nrn. 4100, 4101 VV RVG, die Verfahrensgebühr Nrn. 4104, 4105 VV RVG, eine Terminsgebühr Nrn. 4103, 4102 VV RVG, eine Terminsgebühr Nrn. 4108, 4109 VV RVG und zwei Auslagenpauschalen Nr. 7002 VV RVG sowie in den Verbundverfahren V 2 und V4 jeweils nur eine Grundgebühr Nrn. 4100, 4101 VV RVG, nur eine Verfahrensgebühr Nrn. 4104, 4105 VV RVG, eine Verfahrensgebühr Nrn. 4106, 4107 VV RVG und zwei Auslagenpauschalen Nrn. 7002 VV RVG sowie im Verbundverfahren V 3 eine Grundgebühr Nrn. 4100, 4101 VV RVG, eine Verfahrensgebühr Nrn. 4104, 4105 VV RVG, eine zusätzliche Verfahrensgebühr Nrn. 4141, 4106, 4107 VV RVG und eine Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG sowie weitere Auslagen und USt, insgesamt also 3.594,57 EUR zugesprochen.

Hiergegen richtet sich die weitere Beschwerde des Rechtsanwalts, mit welcher er weiterhin die Rechtsauffassung vertritt, bei den neun als Fallakten geführten Verfahren habe es sich bis zur Verfahrensverbindung vergütungsrechtlich um mehrere Angelegenheiten gehandelt, in denen gesonderte Gebühren entstanden seien. In den einzelnen Verfahren sei auch bereits vor der Verfahrensverbindung eine anwaltliche Tätigkeit erbracht worden. Diese sei in dem Schriftsatz vom 18.8.2023 zu sehen. Zudem sei mit dem Verurteilten anlässlich des Vorführungstermins über die Verteidigungsübernahme in sämtlichen Verfahren, das grundsätzliche Verteidigungsverhalten, das Akteneinsichtsgesuch und das Vorhaben, sich im Weiteren abzustimmen, gesprochen worden. Insoweit sei auch ohne Kenntnis des jeweiligen konkreten Tatvorwurfs eine sach- und fachgerechte Verteidigertätigkeit möglich.

Das Rechtsmittel hatte beim OLG keinen Erfolg. Das OLG geht im OLG Koblenz, Beschl. v. 19.02.2025 – 6 Ws 651/24 – mit dem LG davon aus, dass die Vergütung nach den Nrn. 4100, 4101 und 4104, 4105 VV RVG sowie die Post- und Telekommunikationspauschale (Nr. 7002 VV RVG) für die Tätigkeit des Verteidigers in dem Verfahren V 2 insgesamt nur einmal und nicht – wie von Rechtsanwalt beantragt – zusätzlich für jede der einzelnen Fallakten festzusetzen sei.

Wen die falsche Begründung des OLG interessiert, der kann sie im verlinkten Volltext nachlesen. Ich beschränke mich hier auf die Leitsätze.

1. Voraussetzung dafür, dass der Pflichtverteidiger neben den Gebühren im führenden Verfahren weitere Gebühren für Tätigkeiten in hinzuverbundenen Verfahren erhält, ist, dass er in letzteren vor der Verbindung tatsächlich tätig geworden ist. Seine dahingehende Tätigkeit muss einen konkreten Verfahrensbezug dergestalt aufweisen, dass sie auf einen hinreichend nach Tatort und Tatzeit abgrenzbaren Tatvorwurf bezogen ist.

2. Für die Bestimmung des Begriffs derselben Angelegenheit im Sinne von § 15 Abs. 2 RVG ist maßgebend, wie die Strafverfolgungsbehörden die Sache behandeln. Dass aus organisatorischen oder statistischen Gründen zunächst separat geführte Verfahren eines Beschuldigten zu einem späteren Zeitpunkt zusammengeführt und dann einheitlich bearbeitet werden, begründet keine kostenrechtlich eigenständigen Angelegenheiten der Ursprungsverfahren.

Anzumerken ist hier – aus Platzgründen – nur Folgendes:

Wie gesagt „unschön“ und: Die Entscheidung lässt mich verärgert zurück. Denn es ist in meinen Augen mal wieder eine dieser Entscheidungen, der man – zumindest ich – deutlich anmerkt, dass man letztlich vom Ergebnis her argumentiert und sich sagt, dass kann doch wohl nicht sein, dass der Verteidiger für das bisschen Arbeit mehr als 8.000 EUR vergütet bekommen soll. Gegen das Vorgehen der Staatsanwaltschaft und die Vergabe gesonderter Aktenzeichen allein aus organisatorischen oder statistischen Gründen hat man nichts einzuwenden, jedenfalls erkenne ich das nicht. Aber, wenn sich daraus für den Verteidiger positive Gebührenfolgen ergeben, dann darf kann/darf das doch nicht sein. Und dann überlegt man, was man machen kann, um dessen Gebührenanspruch zu beschränken. Und wie so häufig in solchen Fällen kommt man dann zu falschen Lösungen. Warum falsch? Dazu nur kurz:

Das OLG irrt in seiner Annahme, der Verteidiger habe vor der Verbindung/Erstreckung keine Tätigkeiten in den Verfahren „Fallakten“ erbracht. Denn es übersieht, dass sowohl Grundgebühr als auch Verfahrensgebühr jeweils mit der ersten Tätigkeit des Verteidigers entstehen (ebenso falsch wie das OLG übrigens LG Siegen, Beschl. v. 19.2.2024 – 10 Qs 4/24; LG Hildesheim, Beschl. v. 31.1.2022 – 22 Qs 1/22; LG Koblenz, Beschl.- v. 18.11.2024 – 3 Qs 45/24). Die kann aber immer nur in einem Umfang erbracht werden, der dem Kenntnisstand des Verteidigers vom Verfahren bzw. den Verfahren entspricht. Und der war hier mager, aber das kann man dem Verteidiger doch nicht zurechnen. Denn was soll er, der von seinem Mandanten anlässlich des Vorführungstermins und des geführten Gesprächs über weitere Verfahren informiert worden ist, denn anderes tun, als die Verteidigungsübernahme in sämtlichen Verfahren zu erklären, das grundsätzliche Verteidigungsverhalten, das Akteneinsichtsgesuch und das Vorhaben, sich im Weiteren abzustimmen, mit dem Mandanten zu vereinbaren und das zu dem einzigen ihm zu dem Zeitpunkt bekannten Aktenzeichen mitzuteilen. Das war die zu dem Zeitpunkt mögliche „sach- und fachgerechte Verteidigertätigkeit“, in den auch von der Staatsanwaltschaft nur pauschal bekannt gegebenen Verfahren, die dann auch honoriert werden muss. Alles andere – Warten bis konkrete Verfahrensdaten bekannt gegeben sind – würde darauf hinauslaufen, die Staatsanwaltschaft zur Herrin über den Gebührenanspruch des Verteidigers zu machen und würde eine honorarlose Zeit entstehen lassen, in der der Verteidiger tätig wird und wegen der Mandatsübernahme tätig werden muss, ohne dass dafür Gebühren entstehen. Das sieht das RVG aber nicht vor und würde auch dem gesetzgeberischen Anliegen bei Schaffung des RVG, nämlich Verteidiger zu frühzeitigem Tätigwerden anzuregen, zuwider laufen.

Das OLG irrt auch bei der Annahme, es habe auch bis zur Verbindung der neun Fallaktenverfahren F 1 – F 9 mit dem Verfahren nur V 2 nur eine Angelegenheit vorgelegen. Es ist zwar alles richtig, was das OLG sich an Rechtsprechung und Literatur zusammen gesucht hat, um seine Auffassung zu stützen, nur zieht das OLG den falschen Schluss und übersieht das m.E. entscheidende Kriterium, dass nämlich die neun Fallakten alle ein eigenes Aktenzeichen hatten, von der Staatsanwaltschaft also als eigenständige Ermittlungsverfahren angesehen wurden. Dabei ist es völlig egal, ob man aus statistischen Gründen – um also ggf. eine höhere Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaft „vorzutäuschen“ – so vorgegangen ist. Das interessiert in dem Zusammenhang den Verteidiger nicht. Im Übrigen lässt sich doch kaum deutlicher als durch die Vergabe eine eigenständigen Aktenzeichens für jede vom Beschuldigten angeblich begangene Tat nach außen hin zeigen, dass man von Eigenständigkeit ausgeht.

Fazit: Gewogen und erheblich zu leicht befunden.

Erstreckung und Verhältnis Grund-/Verfahrensgebühr, oder: Gönnt man dem Verteidiger nicht alle Gebühren?

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Und dann der angekündigte – zumindest teilweise – „unschöne“ LG, Beschluss, und zwar der LG Magdeburg, Beschl. v. 07.02.2025 – 29 Qs 4/25, der sich nochmals zur Erstreckung und zum Verhältnis Grundgebühr und Verfahrensgebühr äußert. Leider teilweise falsch.

Folgender Sachverhalt: Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen den Angeklagten in zunächst zwei verschiedenen Verfahren wegen des Tatverdachts des Besitzes und Verbreitens von kinderpornografischen Inhalten. In dem Verfahren V 1 legitimierte sich der Verteidiger als Rechtsanwalt mit Schriftsatz vom 20.03.2023 für den Angeklagten und beantragte die Beiordnung als Pflichtverteidiger. Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 17.04.2023 wurde das Verfahren V 1 zum führenden Verfahren V 2 verbunden und mit Beschluss vom 06.09.2023 ordnete das AG den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger bei.

Das AG verurteilte den Angeklagten dann am 28.11.2024 wegen Besitzes von kinder- und jugendpornografischen Schriften zu einer Freiheitsstrafe. Mit Schriftsatz vom 03.12.2024 beantragte der Verteidiger die Festsetzung der Verteidigervergütung in Höhe von 1.478,43 EUR. Der Antrag beinhaltete u.a. eine Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG sowie eine Vorverfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG sowie eine Postpauschale Nr. 7002 VV RVG jeweils auch für das Verfahren V 1.

Mit Schriftsatz vom 27.12.2024 teilte das AG dem Verteidiger mit, dass eine Beiordnung im Verfahren V 1 nicht erfolgt sei und deshalb für dieses Verfahren keine Pflichtverteidigergebühren geltend gemacht werden könnten. Eine Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung auf das genannte Verfahren sei nicht erfolgt. Hierzu nahm der Verteidiger Stellung und trug vor, dass er in dem damaligen eigenständigen Ermittlungsverfahren V 1 tätig geworden sei und die entsprechenden Gebühren gemäß Nr. 4100 und 4104 VV RVG entstanden seien. Einmal entstandene Gebühren würden nicht aufgrund der Verfahrensverbindung untergehen. Das AG hat dann die Pflichtverteidigervergütung nur in Höhe von 1.083,35 EUR festgesetzt und den Kostenfestsetzungsantrag im Übrigen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es darauf verwiesen, dass die Kosten des Ermittlungsverfahrens V 1 nicht erstattungsfähig seien, denn es fehle an einer Beiordnung in diesem Verfahren. Es werde zwar nicht bestritten, dass durch die Verbindung der Ermittlungsverfahren die Gebühren nicht untergehen. Dies führe jedoch nicht zu einer Erstattungsfähigkeit als Pflichtverteidigergebühren aus der Landeskasse (OLG Celle, Beschl. v. 4.9.2019 – 2 Ws 253/19).  Hiergegen wendete sich der Verteidiger mit seiner sofortigen Beschwerde.

Die hatte nur teilweise Erfolg. Das LG hat die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und die Postentgeltpauschale Nr. 7002 VV RVG auch für das Verfahren V 1 festgesetzt. Die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG ist für das Verfahren V 1 hingegen nicht festgesetzt worden.

Da ich zu den Fragen schon einige Entscheidungen vorgestellt habe, beschränke ich mich hier auf die Leitsätze.

1. Werden Verfahren zunächst verbunden und erfolgt erst danach die anwaltliche Bestellung oder Beiordnung in dem nunmehr verbundenen Verfahren, gilt § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG unmit-telbar.

2. Wird das Verfahren nach erfolgter Erstinformation zu einem anderen Verfahren verbunden, besteht für die Annahme einer neben der Grundgebühr stets entstehenden Verfahrensgebühr kein Raum.

Anzumerken ist:

Den Ausführungen des LG zur Verbindung und Erstreckung – Leitsatz 1 – ist nichts hinzuzufügen. Sie sind zutreffend.

Vehement zu widersprechen ist allerdings den Ausführungen des LG zum Entstehen der Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG und damit dem Leitsatz 2. Insoweit ist die Entscheidung fehlerhaft, und zwar ebenso wie eine des LG Siegen (LG Siegen, Beschl. v. 19.2.2024 – 10 Qs 4/24, AGS 2024, 211) und eine des LG Koblenz (LG Koblenz, Beschl. v. 18.11.2024 – 3 Qs 45/24). Beide hatte ich hier auch vorgestellt. Ebenso wie diese LG verkennen hier AG und auch das LG das Zusammenspiel von Grundgebühr und Verfahrensgebühr. Das ist um so bedauerlicher (und unverständlicher), weil die Fragen an sich durch das 2. KostRMoG seit 2013 geklärt sind. da ich bereits mehrfach etwas dazu gesagt habe, spare ich mir weitere Anmerkungen.

Allerdings. Ich habe bei diesen Entscheidungen, die das Verhältnis falsch sehen, zunehmend den Eindruck, als ob die häufig auch in der Richtung Stellung nehmenden Vertreter der Staatskasse aber auch AG/LG den Verteidigern die Verfahrensgebühren nicht „gönnen“ und deshalb das Verhältnis Grundgebühr/Verfahrensgebühr so falsch sehen und die Gesetzesänderung „reparieren“ wollen. Dass der Verteidiger in diesen Fällen ggf. für eine sehr geringe Tätigkeit eine Verfahrensgebühr erhält, ist aber nun mal Folge der gesetzlichen Regelung und eben auch der Pauschalgebührencharakters der Pflichtverteidigervergütung. Das kann und darf man so nicht korrigieren. Zumal man damit das gesetzgeberische Anliegen, das 2013 zu den Änderungen in der Nr. 4100 VV RVG durch das KostRMoG geführt hat konterkariert. Denn man kommt dann wieder in die Diskussion um das Verhältnis und den Abgeltungsbereích der Grundgebühr/Verfahrensgebühr, die der Gesetzgeber mit der Änderungen gerade beenden wollte.

Erstreckungsentscheidung, Beschwerde, Klarstellung, oder: Weniger wäre mehr gewesen, liebes LG

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Und heute dann Gebührenfreitag mit einer LG- und einer OLG-Entscheidung.

Ich beginne mit dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 25.06.2024 – 13 Qs 17/24 – noch einmal zu Fragen der Erstreckung (§ 48 RVG). Nachdem ja die mit der sog. Erstreckung der Beiordnung des Pflichtverteidigers auf andere Verfahren zusammenhängenden Fragen die Rechtsprechung und Literatur nach Inkrafttreten des RVG zunächst häufig beschäftigt haben, sind seit dem KostRÄnG 2021 dazu nur noch wenige Entscheidungen zu finden. Nun hat sich das LG Nürnberg-Fürth aber noch einmal mit der Problematik befasst. Folgender Sachverhalt:

Die Staatsanwaltschaft führte gegen den Beschuldigten zunächst ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte unter dem Aktenzeichen Az. 1 sowie ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung unter dem Aktenzeichen Az. 2. Mit Beschluss vom 10.03.2024 bestellte das AG anlässlich der Haftbefehlseröffnung den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger des Beschuldigten für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren mit dem (später vergebenen) Aktenzeichen Az. 1. Mit Schriftsätzen vom 11.03.2024 zeigte sich der Rechtsanwalt auch für weitere Ermittlungsverfahren der Polizeiinspektionen Fürth, Nürnberg-Mitte und Erlangen-Stadt als Verteidiger an und stellte im Namen des Beschuldigten den Antrag bei der jeweiligen Polizeiinspektion, als dessen Pflichtverteidiger bestellt zu werden. Die polizeilichen Aktenzeichen wurden nach Eingang der Verfahren bei der Staatsanwaltschaft den staatsanwaltschaftlichen Verfahren Az. 1 und Az. 2 zugeordnet.

Mit Verfügung vom 15.04.2024 hat die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren Az. 2 zum Verfahren Az. 1 verbunden. Mit Beschluss vom 18.04.2024 hat das AG festgestellt, dass sich die Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger des Beschuldigten für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren Az. 1 auch auf das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren Az. 2 erstreckt. Die Staatsanwaltschaft hat dem Rechtsanwalt mit Verfügung vom 2.5.2024 mitgeteilt, dass das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren Az. 2 zum Verfahren Az. 1 verbunden wurde. Mit Verfügung vom 10.05.2024 hat die Staatsanwaltschaft dann dem Rechtsanwalt mitgeteilt, dass er in den Verfahren, welche unter dem staatsanwaltlichen Az. 2 erfasst wurden, bereits wegen des Erstreckungsbeschlusses des AG v. 18.04.2024 zum Pflichtverteidiger bestellt worden sei.

Mit Schriftsatz vom 15.05.2024 erklärte der Rechtsanwalt, dass er seinen Beiordnungsantrag zum staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren Az. 2 vom 11.3.02024 trotz zwischenzeitlicher Verbindung zum Verfahren Az. 1 aufrechterhalte und teilte mit, dass nach seinem Kenntnisstand über seinen Antrag vom 11.03.2024 noch nicht entschieden worden sei. Er äußerte in diesem Schriftsatz die Ansicht, dass eine rückwirkende Bestellung als Pflichtverteidiger jedenfalls dann zulässig sei, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt worden sei und die Entscheidung über die Beiordnung aufgrund behördeninterner Vorgänge unterblieben sei. Die Staatsanwaltschaft hat dann beim AG beantragt, die Beiordnungsanträge abzulehnen, da der Rechtsanwalt bereits in allen Verfahren als Pflichtverteidiger bestellt sei. Der Rechtsanwalt hat dem AG auf Nachfrage mitgeteilt, dass er seine Beiordnungsanträge nicht zurücknehme.

Das AG hat sodann mit Beschluss vom 24.05.2024 den Antrag des Rechtsanwalts, ihn „erneut zum Pflichtverteidiger des Beschuldigten zu bestellen“, abgelehnt. Dagegen hat der Rechtsanwalt „sofortige Beschwerde“ eingelegt. Das LG hat das Rechtsmittel als unzulässig angesehen.

Ich beschränke mich hier auf die Leitsätze der Entscheidung, und zwar:

    1. Eine Beschwerde des Pflichtverteidigers gegen die Ablehnung der rückwirkenden Beiordnung für das hinzuverbundene Verfahren ist mangels Beschwer unzulässig, wenn die Verfahrensverbindung nach Beiordnung im führenden Verfahren erfolgt ist und das Gericht nach Verfahrensverbindung beschlossen hat, dass sich die Verteidigerbestellung auch auf das hinzuverbundene Verfahren erstreckt.
    2. Nach der zum 1.1.2021 erfolgten Ergänzung von § 48 Abs. 6 S. 3 RVG ist klargestellt, dass die Anordnung einer Erstreckungswirkung bei einer anwaltlichen Beiordnung nach der Verbindung nicht erforderlich ist, weil § 48 Abs. 6 S. 1 StPO unmittelbar gilt.

Die müssen/sollten genügen. Denn: Weniger wäre hier mehr gewesen, bzw. Ich kann nachvollziehen, wenn man als Leser der Entscheidungsgründe im verlinkten Volltext unter Berücksichtigung des obigen Sachverhalts verwirrt ist und das Ganze dann noch einmal liest, in der Hoffnung, es zu verstehen. Denn es ist mir auch so gegangen und ich hatte auch nach dem zweiten Lesen immer noch Verständnisprobleme. Und zwar vor allem im Hinblick auf die Frage: Was soll das eigentlich alles und sind die wortreichen Ausführungen überhaupt erforderlich? M.E. sind sie es nämlich nicht und sie führen gerade, da sie auch noch zu sehr ineinander verschachtelt sind, zur Verwirrung. Ich verkenne nicht, dass das LG es sicherlich sehr gut machen wollte. Nur wäre weniger hier mehr gewesen. Wobei darauf hinzuweisen ist, dass das Ergebnis des LG zutrifft.

Einfacher und – hoffentlich auch – klarer wird es, wenn man sich noch einmal die entscheidenden Verfahrensvorgänge für die zur Entscheidung anstehende Problematik in Zusammenhang mit der Erstreckung (§ 48 RVG) verdeutlich. Das sind folgende Punkte:

  • 10.3.2024 – Bestellung des Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger im Verfahren Az. 1,
  • 15.4.2024 (Hinzu)Verbindung von Verfahren Az. 2 zu Verfahren Az. 1,
  • 18.4.2024 – Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung aus Verfahren Az. 1 auch auf Verfahren Az. 2.

Damit ist im Grunde alles geklärt. Denn nach dem Ablauf ist eine Erstreckungsentscheidung nach § 48 Abs. 6 S. 2 RVG erforderlich. Denn es werden die Verfahren Az. 1 und Az. 2 verbunden und der Rechtsanwalt ist nur in Verfahren Az. 1 als Pflichtverteidiger bestellt. Daher muss also, wenn auch im Verfahren Az. 2 die gebührenrechtlichen Folgerungen der Pflichtverteidigerbestellung, insbesondere die des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG eintreten sollen, die Erstreckung erfolgen. Von dem ihm insoweit eingeräumten Ermessen – „kann“ – hat das AG Gebrauch gemacht und am 18.4.2024 festgestellt, „dass sich die Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger des Beschuldigten für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren Az. 1 auch auf das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren Az. 2 erstreckt“. Das hat die Staatsanwaltschaft dem Rechtsanwalt dann am 10.05.2024 mitgeteilt. Spätestens dann hätte aus Sicht des Rechtsanwalts Ruhe sein müssen. Denn er hatte alles erreicht, was er erstrebt hatte. Er war Pflichtverteidiger und es war erstreckt. Die gesetzlichen Gebühren waren also sicher.

Mir erschließt sich nicht, warum der Verteidiger dann aber noch auf „rückwirkende Beiordnung“ bestanden hat? Denn mit rückwirkender Beiordnung i.e.S., um die in Rechtsprechung und Literatur derzeit heftig gestritten wird, hat das Ganze nichts zu tun, da es in den Fällen immer zunächst um die Frage geht, ob der Rechtsanwalt nach Erledigung eines Verfahrens noch Pflichtverteidiger wird. Das Problem stand hier aber gar nicht an, da weder die Verfahren erledigt waren noch der Rechtsanwalt nicht Pflichtverteidiger war. Denn das war er durch die Verbindung auch im Verfahren Az. 2 geworden. Und auch die vergütungsrechtlichen Fragen waren durch die Erstreckungsentscheidung vom 18.04.2024 erledigt. Man versteht daher nicht, was der Rechtsanwalt eigentlich will. Man hat den Eindruck, dass er sich den Unterschied zu den Fällen nicht verdeutlich hat und lieber auf „Nummer Sicher“ geht. Und das LG macht das Spiel mit und führt dazu aus. Aber warum bescheidet man den Rechtsanwalt in Zusammenhang mit der Beschwer nicht kurz und knapp, dass er alles erreicht hat, was er erreichen wollte/muss. Alles andere ist überflüssig, führt zu Verwirrung und lässt den Eindruck entstehen, dass auch das LG nicht so richtig weiß, worauf es ankommt. Zumal in dem Satz: „…. nunmehr klar, dass bei der Verbindung von Verfahren nach der Beiordnung in einem der Verfahren die Erstreckung von einer gerichtlichen Feststellung abhänge ….“ das m.E. entscheidende „nur“ fehlt.

Aber ich will nicht nur meckern. Denn: Zutreffend sind die Ausführungen des LG zum zulässigen Rechtsmittel. Das ist eben nicht die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 StPO, sondern die einfache Beschwerde. Daran hat sich durch die Änderung des Rechts der Pflichtverteidigung im Jahr 2019 nichts geändert. Denn die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 StPO bezieht sich nur auf die materiellen Pflichtverteidigungsfragen. Damit haben wir es hier aber gar nicht zu tun, da es um eine RVG-Problematik der gebührenrechtlichen Erstreckung geht.

Und zutreffend ist auch das vom LG Ausgeführte zu Klarstellungen in § 48 Abs. 6 S. 1 und 3 RVG durch das KostRÄndG 2021, auch wenn es – siehe oben – überflüssig war. Das KostRÄndG hat den Streit, ob die Erstreckung beantragt werden und ausgesprochen werden muss, wenn erst die Verbindung erfolgt und danach die anwaltliche Beiordnung, erledigt (vgl. Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, § 48 Rn 24; Volpert AGS 2021, 445, 450).

Erstreckung II: Voraussetzungen der Erstreckung, oder: Grundkenntnisse fehlen beim LG Siegen/der StA Siegen

Und hier dann die Lösung der Preisfrage von heute Morgen.

Ich hatte da in dem Posting Erstreckung I: Voraussetzungen der Erstreckung, oder: AG Siegen macht es richtig den zutreffenden AG Siegen, Beschl. v. 23.11.2023 – 450 Gs 1656/23 – vorgestellt und gefragt, ob die Staatsanwaltschaft die Entscheidung hingenommen hat. Die Frage stellen, heißt, sie zu verneinen. Nein, hat die StA – aus welchen Gründen auch immer – natürlich nicht, sondern hat Beschwerde eingelegt, die dann, um das Ganze zu toppen, auch beim LG Siegen mit dem LG Siegen, Beschl. v. 19.02.2024 – 10 Qs 4/24Erfolg hatte.

Ich stelle hier jetzt nur die Ausführungen des LG zur Begründetheit des Rechtsmittels vor, die zur Statthaftigkeit/Zulässigkeit lasse ich mal außen vor. Insoweit reichen die Leitsätze, und zwar:

1. Gegen eine Erstreckungsentscheidung ist das Rechtsmittel der (einfachen) Beschwerde statthaft.
2. Auch der Staatsanwaltschaft steht die Befugnis zu, gegen eine Erstreckungsentscheidung, Beschwerde einzulegen.

Zur Begründung schreibt das LG dann:

„Nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG kann das Gericht, wenn Verfahren verbunden werden, die Wirkungen des § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG auch auf diejenigen Verfahren erstrecken, in denen der Rechtsanwalt vor der Verbindung nicht beigeordnet oder nicht bestellt war.

Hierbei handelt es sich um eine Ermessensentscheidung („kann“). Anders als im Fall des § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG, bei dem die Wirkung mit der Pflichtverteidigerbestellung eintritt, soll bei verbundenen Verfahren die gebührenrechtliche Rückwirkung nur dann eintreten, wenn dies ausdrücklich durch das Gesetz vorgesehen ist.

Voraussetzung für die Anwendbarkeit ist dabei zunächst, dass es ein Verfahren gibt, bei dem § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG vorliegt („auch“). Da § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG das Vorliegen einer Beiordnung oder Bestellung eines Rechtsanwalts voraussetzt, können die Gründe hierfür – isoliert – nicht in der Ermessensentscheidung ausschlaggebend sein.

Daher sind die von dem Beschwerdegegner vorgebrachten Umstände, dass die Beschuldigte unter einer gesetzlichen Betreuung steht, die Frage ihrer Schuldfähigkeit bei den Verfahren im Raume steht und die Vielzahl der einzelnen Verfahren für die Ermessensentscheidung zwar zu berücksichtigende Punkte sein. Wenn diese – wie hier – vorliegen, führt dies aber nicht automatisch zu der Annahme, dass die Erstreckung erklärt werden müsse.

Auch der Umstand, dass sich die Entscheidung über die notwendige Vertretung verzögert hat, führt nicht automatisch zu der Annahme, dass die Erstreckung erklärt werden muss. Zwar wäre bei zeitiger Entscheidung vor Verbindung die Problematik wegen § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG gar nicht erst entstanden. Jedoch gibt es gerade für diese Fallkonstellatiön den § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG.

Die ebenfalls zu berücksichtigenden konkreten Tätigkeiten des Beschwerdegegners wurden nicht hinreichend dargelegt. Das Amtsgericht Siegen hat mit Verfügung vom 23.10.2023 (BI. 243 d.A.) darauf hingewiesen, dass § 48 Abs. 6 Satz 1, Satz 3 RVG voraussetzt, dass es bereits zu Tätigkeiten des Rechtsanwalts gekommen ist („für seine Tätigkeit“). Auf den hierauf eingehenden Schriftsatz des Beschwerdegegners vom 24.10.2023 (BI. 244-245 d.A.) hat die Staatsanwaltschaft Siegen mit Verfügung vom 07.11.2023 (BI. 246 d.A.) ausführlich Stellung genommen, welche dem Beschwerdegegner mit Verfügung vom 10.11.2023 mit dreiwöchiger Stellungnahmefrist vom Amtsgericht Siegen übersandt wurde (BI. 246R d.A.). Weder in dem darauf er-widernden Schreiben des Beschwerdegegners vom 14.11.2023 (BI. 247-252 d.A.) noch im Weiteren sind die jeweiligen konkreten Tätigkeiten ersichtlich vorgetragen worden. Hier wurde in den jeweiligen Ermittlungsverfahren nur der Antrag auf Bestellung zum Pflichtverteidiger gestellt, um Akteneinsicht gebeten und teilweise mitgeteilt, dass an einer Beschuldigtenvernehmung nicht teilgenommen wird. Aus diesem Grund führen auch die Ausführungen auf Seite 4 im Schreiben vom 26.01.2024 zu keinem anderen Ergebnis, weil sich diese Ausführungen gerade auf eine Vernehmungssituation beziehen. Lediglich in einem Fall (auf BI. 51 d.A.) wurde angeregt, das Verfahren im Hinblick auf das Verfahren 83 Js 1331/19 einzustellen. In dem Ver-fahren (66 Js 123/23) erfolgte jedoch eine ausdrückliche Bestellung zum Pflichtverteidiger. Die von dem Beschwerdegegner genannten Tätigkeiten wie Besprechung mit der Mandantin oder Einarbeiten in die Akte genügen den Anforderungen an eine konkrete Tätigkeit nicht, weil der Gesetzgeber hierfür die Grundgebühr nach Nr. 4100 und die Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 als Pauschale vorsieht, unabhängig davon, wie umfangreich der Sachverhalt ist oder wieviele Verfahren vor der Bestellung verbunden wurden.

Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen kam eine Erstreckung nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG bei einer Gesamtbetrachtung nicht in Betracht. Der Grundgedanke des § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG besteht darin, frühere Tätigkeiten, die als Wahlverteidiger vorgenommen wurden, nach der Bestellung als Pflichtverteidiger zu vergüten, obwohl durch die Verbindung hierüber nicht entschieden wurde. Diese Tätigkeiten gab es hier nicht, weil unmittelbar im ersten Schreiben in jedem Verfahren der Antrag vorlag, als Pflichtverteidiger bestellt zu werden. Dann erfolgte die Verbindung der Verfahren bereits durch die Staatsanwaltschaft und nicht erst durch das Gericht nachdem jeweils eine Anklageschrift vorlag. In diesen Konstellationen fehlt es bereits an den Tätigkeiten im Ermittlungsverfahren, die vergütet werden sollen. Das gilt insbesondere hier, wenn wie vom Beschwerdegegner ausgeführt, immer die gleiche Frage relevant ist, inwieweit die Beschuldigte schuldfähig ist.

Soweit das Amtsgericht Siegen in dem angefochtenen Beschluss die Entscheidung über die Erstreckung in den Verfahren 66 Js 660/23 und 66 Js 661/23 abgelehnt hat (zweiter Absatz auf Seite des Beschlusses, BI. 262 d.A.) schließt sich die Kammer insoweit der dortigen Argumentation an, dass es hierzu keiner Entscheidung bedarf. Ob es eine tatsächliche Tätigkeit vor der Verbindung gab (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16.05.2017 – 1 Ws 95/17 Rn. 20), ist dann im Festsetzungsverfahren zu prüfen.“

Dazu Folgendes: Die Ausführungen des LG zur Begründetheit des Rechtsmittels lassen den Leser der Entscheidung ratlos, wenn nicht fassungslos“ zurück? Denn die Ausführungen des LG zu den konkreten Tätigkeiten des Rechtsanwalts/Pflichtverteidigers offenbaren m.E. dann doch bei der entscheidenden Strafkammer einen erheblichen Mangel an gebührenrechtlichen Grundkenntnissen.

Zutreffend ist es (noch), wenn die Strafkammer darauf verweist, dass die Erstreckungsentscheidung nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG eine „Ermessensentscheidung“ ist, die natürlich voraussetzt, dass in dem Verfahren, auf das erstreckt werden soll, die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung nach §§ 140 ff. StPO vorgelegen haben. Grundsätzlich zutreffend ist es auch, wenn das LG ausführt, dass eine Erstreckung nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG nur in Betracht kommt, wenn der Rechtsanwalt in dem oder den Verfahren, auf die erstreckt werden soll, Tätigkeiten erbracht hat.

An der Stelle liegt dann aber auch der grobe Fehler, den das LG macht und der einen – immerhin handelt es sich um eine Beschwerdekammer, die in „Dreierbesetzung“ entschieden hat – ratlos, wenn nicht fassungslos zurücklässt. Denn das LG meint, in den Verfahren, auf die erstreckt werden sollte, seien bei dem Pflichtverteidiger keine Gebühren entstanden. Aber: Es sind Gebühren entstanden, und zwar, da man sich noch im Verfahrensstadium „Ermittlungsverfahren“ befunden hat (vgl. Anm. zur Nr. 4104 VV RVG) die Gebühren Nr. 4100 VV RVG – Grundgebühr – und die Nr. 4105 VV RVG – Verfahrensgebühr für das vorbereitende Verfahren und diese beiden Gebühren immer nebeneinander. Voraussetzung für das Entstehen der Gebühren des Rechtsanwalts sind von ihm für den Mandanten erbrachte Tätigkeiten. Dazu hatte der Pflichtverteidiger „Tätigkeiten wie Besprechung mit der Mandantin oder Einarbeiten in die Akte“ genannt. Warum diese Tätigkeiten nicht – wie das LG meint – den Anforderungen an eine konkrete Tätigkeit genügen sollen, erschließt sich mir nicht. Ich empfehle die Lektüre eines gängigen Kommentars zum Entstehen und zum Abgeltungsbereich der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und zur Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG. Beide Gebühren entstehen mit der ersten Tätigkeit des Rechtsanwalts für den Mandanten, wozu die genannten Tätigkeiten gehören. Ganz sicher ist es keine Begründung, wenn das LG meint: „weil der Gesetzgeber hierfür die Grundgebühr nach Nr. 4100 und die Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 als Pauschale vorsieht, unabhängig davon, wie umfangreich der Sachverhalt ist oder wie viele Verfahren vor der Bestellung verbunden wurden“. Der erste Teil dieser Begründung ist unverständlich, der zweite falsch, weil es für die Erstreckungsentscheidung nicht darauf ankommt, wie viele Verfahren verbunden worden sind, auch wenn das wegen der Höhe der entstehenden gesetzlichen Gebühren vielleicht die Staatsanwaltschaft und das LG gestört haben. Ohne Bedeutung ist auch der Umstand, dass „immer die gleiche Frage relevant ist, inwieweit die Beschuldigte schuldfähig ist.

Und schließlich: Falsch sind/waren im Übrigen auch die Ausführungen der Staatsanwaltschaft im Erstreckungsverfahren, die mir vorliegen. Dort hatte der Staatsanwalt

höflich [sic!!] darauf hingewiesen, dass soweit von der Verteidigung vorgetragen wird, dass „sich jeweils auf die anstehenden Vernehmungen vorbereitet“ wurde (BI. 224 d. A.), dies i.E. unwahrscheinlich sein dürfte, da die gegenüber der Beschuldigten erhobenen Vorwürfe im Einzelnen (gemeint ist das ihr insoweit zur Last gelegte Handeln) nicht bekannt gewesen sein dürften (vgl. BI. 119x d. A.) insoweit aber auch und gerade Akteneinsicht beantragt wurde (vgl. Bl. 123x d. A). Auf Grund des Antrages des Verteidigers konnte es auch nicht zu einer Vernehmungssituation kommen, sodass insoweit auch keine Vorbereitung auf eine anstehende Vernehmung erfolgt sein kann. Wie eine nachhaltige Erörterung sachgerecht erfolgen kann, ohne dass der Verteidiger sich über die Polizei oder die Staatsanwaltschaft Einblick in die Ermittlungsunterlagen verschafft und erwartbar vorhandene Zeugenaussagen studiert, ist bereits fraglich (vgl. hierzu etwa LG Münster, Beschluss vom 4. September 2020 – 20 Qs 9/20 -, Rn. 29, juris). Dies umso mehr, als das der Verteidiger gerade keinen Kontakt zur Mandantin schildert, sondern lediglich zu deren Betreuerin (vgl. BI. 224x d. A.). Verfahrensbezogene Vergütungsansprüche können aber nur dadurch entstehen, dass der Rechtsanwalt eine konkrete Tätigkeit in dem jeweiligen Verfahren erbringt, wobei ihm in derselben Angelegenheit die Gebühren nur einmal zustehen. Dass dem Rechtsanwalt ein Verfahren bekannt ist, ist noch keine gebührenauslösende Tätigkeit. Auch ein pauschales Legitimationsschreiben belegt nur, dass der Rechtsanwalt mandatiert worden ist, aber gerade noch nicht, dass er eine konkrete, verfahrensbezogene Tätigkeit entfaltet hat (Kammerbeschl. v. 22. April 2021, 22 Qs 3/21). Ebenso reicht die bloße Beantragung von Akteneinsicht nicht aus (vgl. LG Hildesheim, Beschluss vom 31. Januar 2022 – 22 Qs 1/22 -, Rn. 25, juris m.w.N.).“

Soweit auf LG Münster, Beschl. v. 4.9.2020 – 20 Qs 9/20, AGS 2021, 371) verwiesen wird, handelt es sich um eine andere Problematik, nämlich die Frage der ausreichenden Glaubhaftmachung und nicht die der ausreichenden Tätigkeiten. Soweit auf LG Siegen (Beschl. v. 22.4.2021 – 22 Qs 3/21) und LG Hildesheim (LG Hildesheim, Beschl. v. 31.1.2022 – 22 Qs 1/22) verwiesen wird, wonach ein pauschales Legitimationsschreiben oder ein Antrag auf Akteneinsicht für das das Entstehen der Grundgebühr und Verfahrensgebühr nicht ausreichen soll, sondern (erst) die Gewährung von Akteneinsicht, ein (glaubhaft gemachtes) verfahrensbezogenes Mandantengespräch oder eine verfahrensbezogene Erklärung gegenüber den Ermittlungsbehörden, ist das aus den vorstehenden Gründen gleichfalls falsch. Grundgebühr und Verfahrensgebühr setzen nicht gewährte Akteneinsicht voraus, sondern der Verteidiger verdient die Gebühren schon bei auf Akteneinsicht gerichtete Tätigkeiten. Alles andere wäre auch widersinnig, da bei Richtigkeit der Ansicht des LG Siegen ein gebührenfreier Raum entstehen würde, den das RVG aber nicht vorsieht. Soweit der beschwerdeführende Staatsanwalt dann schließlich in seiner Beschwerdeschrift auch noch auf OLG Rostock (Beschl. v. 25.11.2013 – Ws 359/13, AGS 2014, 178) verweist, führt auch das zu nichts, da auch das OLG in dem Verfahren die vom Verteidiger erbrachten Tätigkeiten falsch bewertet hat.

Fazit: Wegen der verfahrensrechtlichen Ausführungen kann man dem LG folgen. Wegen der materiellen Fragen wird dringend empfohlen, sich mit der Gebührenstruktur des RVG (besser) vertraut zu machen. Das gilt vor allem auch für den Vertreter der Staatsanwaltschaft. Wenn man schon meint, gebührenrechtlich tätig werden zu müssen, dann sollte man auch richtig gerüstet sein. Denn eins sollte man nicht übersehen. Bei den Erstreckungsfragen geht es ggf., so z.B. hier wegen der Vielzahl der Verfahren, um erhebliche Gebührenforderungen des Rechtsanwalts. Und wenn man schon aus Gründen der „Rechtsklarheit“ als Staatsanwalt als beschwerdebefugt angesehen wird, sollte man nicht durch unbegründete Rechtsmittel, denen das LG dann aber stattgibt, „Rechtsunklarheit“, herbeiführen.

Erstreckung I: Voraussetzungen der Erstreckung, oder: AG Siegen macht es richtig

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Und heute dann Gebühren, und zwar mal wieder Erstreckung.

Zunächst kommt hier der AG Siegen, Beschl. v. 23.11.2023 – 450 Gs 1656/23 -, der sich zu den materiellen Voraussetzungen der Erstreckungsentscheidung äußert.

Der Verteidiger hatte die Erstreckung der gebührenrechtlichen Rückwirkung einer Bestellung in zwei Verfahren – StA Siegen 66 Js 163/23 und 66 Js 659/23 – auf weitere Verfahren beantragt. Er hat sich auf die rechtzeitige Antragstellung vor Verbindung der Verfahren und die unterbliebene rechtzeitige Bescheidung berufen. Die Staatsanwaltschaft hat dem AG die Akten mit dem vorgelegt, den Antrag des Verteidigers zurückzuweisen, vor. Zur Begründung führte sie aus, dass ihrer Auffassung nach keine gebührenauslösenden Tätigkeiten in den nicht beschiedenen Verfahren erbracht worden seien. Hierauf erwiderte der Verteidiger, die Staatsanwaltschaft bekräftigte ihren Standpunkt dann erneut.

Das AG ist dem Antrag des Verteidigers nachgekommen:

„Gemäß § 48 Abs. 6 S. 3 RVG kann das Gericht die Wirkungen des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auch auf diejenigen Verfahren erstrecken, in denen vor der Verbindung keine Beiordnung oder Bestellung erfolgt war, wenn Verfahren verbunden wurden und der Rechtsanwalt nicht in allen Verfahren bestellt oder beigeordnet worden ist. § 48 Abs. 6 S. 1 RVG legt fest, dass ein bestellter oder beigeordneter Rechtsanwalt die Vergütung auch für seine Tätigkeit vor dem Zeitpunkt seiner Bestellung oder Beiordnung erhält.

Im vorliegenden Fall erfolgte die Bestellung des Verteidigers jeweils rechtzeitig vor einer Verbindung der Verfahren. In allen Fällen, in denen nicht über eine Beiordnung entschieden wurde, wurde der Antrag schon überhaupt nicht dem Gericht zur Entscheidung zugeleitet, obwohl § 141 Abs. 1 StPO eine unverzügliche Entscheidung über den Antrag anordnet.

Der Verteidiger hat auch in sämtlichen Verfahren Tätigkeiten erbracht. Hierzu wird auf die Schriftsätze des Verteidigers vom 14.11.2023 und 17.11.2023 Bezug genommen.“

Und dann die Preisfrage: Hat die Staatsanwaltschaft Siegen die Entscheidung hingenommen? Lösung gibt es heute Mittag.