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Pflichti III: 4 x nachträgliche Bestellung zulässig, oder: Schritt(e) in die richtige Richtung

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Und dann – wie fast immer an „Pflichti-Tagen“ – noch etwas zum Dauerbrenner: Rückwirkende Bestellung. Dazu habe ich dann vier Entscheidungen, und zwar:

Alle vier Entscheidungen bejahen die rückwirkende Bestellung. Interessant in dem Zusammenhang vor allem der Beschluss des LG Braunschweig. Das „übergeordnete“ OLG lehnt die nachträgliche Bestellung nämlich ab. Anders also das LG, allerdings nur bei inhaftierten Beschuldigten. Aber immerhin ein Schritt in die richtige Richtung.

 

Pflichti II: Neues zu den Beiordnungsgründen, oder: Strafvollstreckung, Betreuerbestellung, Jugendlicher

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Und dann drei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen. Auch hier stelle ich nur die Leitsätze vor, und zwar:

1. Folge einer nicht erfolgten, aber möglichen Gesamtstrafenbildung ist, dass bis zur Rechtskraft eines nachträglichen Gesamtstrafenbeschlusses die Vollstreckung der rechtskräftig festgesetzten Einzelstrafen zulässig ist.
2. Dem Verurteilten ist im Strafvollstreckungsverfahren bei einer schwierigen Gesamstrafenbildung ein Pflichtverteidiger in analoger Anwendung von § 140 Abs. 2 StPO beizuordnen.

Der Angeklagte kann sich nicht selbst verteidigen kann, wenn gegenüber Behörden und somit auch in einem Strafverfahren die Voraussetzungen für eine Betreuerbestellung gegeben sind.

Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist geboten bei einem gerade 15 Jahre alten Angeklagte, bei dem eine psychische Erkrankung/Verhaltensstörung vorliegt, weswegen er in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht ist.

Nochmals: Entstehen der sog. „Einziehungsgebühr“, oder: Nachlieferung zur letzen Gebührenfrage

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Heute beginne ich den Gebührenfreitag mit einer Nachtragsentscheidung. Und zwar „Nachtrag“ zur Rätselfrage der vergangenen Woche mit der Frage: Ich habe da mal eine Frage: Erstattung der Gebühr Nr. 4142 VV RVG?, und der Lösung: Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Erstattung der Gebühr Nr. 4142 VV RVG?. Ich hatte ja schon geschrieben, dass ich um Übersendung des im Rechtspflegerforum erwänten LG-Beschlusses gebeten hatte. Und es hat geklappt. Am Montag hatte ich ihn und kann ihn daher heite zeitnah zu den beiden Postings vorstellen.

Das LG Hagen hat dazu im LG Hagen, Beschl. v. 31.05.2023 – 46 Qs 26/23 – hat zum Anfall der Nr. 4142 VV RVG ausgeführt:

„c) Unter Geltung der §§ 73 ff. StGB n.F. ist weiter umstritten, welche anwaltliche Tätigkeit zum Anfall der Gebührenvorschrift der Nr. 4142 VV RVG führt. Nach der (zutreffenden) ganz herrschenden Meinung genügt für die Gebührenentstehung jede Tätigkeit des Rechtsanwalts, die dieser im Zusammenhang mit der Einziehung erbringt. Danach wird die Gebühr bereits durch die außergerichtliche nur beratende Tätigkeit des Rechtsanwalts ausgelöst; die Gebühr Nr. 4142 VV RVG setzt keine gerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwaltes voraus (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 14.02.2020 – 1 Ws 40/20, juris Rn. 1; OLG Braunschweig, Beschluss vom 01.03.2022 — 1 Ws 38/22; LG Amberg, Beschluss vom 29.05.2019 – 12 KLs. 107 Js 2871/18, juris Rn. 4; LG Chemnitz, Beschluss vom 09.01.2020 – 4 KL 310 Js 40553/18, juris Rn. 7; AG Mainz, Beschluss vom 28.05.2019 – 402 Ls 3444 Js 80146/17, juris Rn. 7; BeckOK-RVG/Knaudt, Stand: 01.12.2020, Nr. 4142 VV RVG Rn. 10 m.w.Nachw.; Ge-rold/Schmidt/Burhoff, RVG, 24. Aufl. 2019, RVG W 4142 Rn. 12; m.w.Nachw.; a.A. KG, Beschluss vom 17.06.2008 – 1 Ws 123/08, NStZ-RR 2008, 391, 392; KG, Be-schluss vom 25.10.2019 – 1 Ws 86/19, juris Rn. 8; KG, Beschluss vorn 08.11.2019 – 1 Ws 53/19, BeckRS 2019, 33300).

d) Allerdings kommt auch unter Zugrundelegung der vorgenannten herrschenden Meinung ein Gebührenfall nur in Betracht, wenn im Zeitpunkt der Beratung eine Einziehung „in Betracht kam“ (so LG Amberg, Beschluss vom 31.05.2019 – 11 KLs 106 Js 7350/18, juris Rn. 2; LG Amberg, Beschluss vom 29.05.2019 – 12 KLs 107 Js 2871/18, juris Rn. 4; BeckOK-RVG/Knaudt, Stand: 01.12.2020, Nr. 4142 VV RVG Rn. 10 m.w.Nachw.) bzw. „nach Aktenlage geboten“ war, „ernsthaft in Betracht kam“ (so LG Chemnitz, Beschluss vom 09.01.2020 – 4 KL 310 Js 40553/18, juris Rn. 6) bzw. „nahelag“ (so OLG Dresden, Beschluss vom 14.02.2020 – 1 Ws 40/20, juris Rn. 1; AG Mainz, Beschluss vom 28.05.2019 – 402 Ls 3444 Js 80146/17, juris Rn. 7 f.). Hiervon ist immer dann auszugehen, wenn aufgrund der Aktenlage mit einem Einziehungsantrag in der Hauptverhandlung zu rechnen war oder weil in der Anklage die Einziehung beantragt worden ist (vgl. hierzu Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 24. Aufl. 2019, RVG W 4142 Rn. 12).

Für die Bewertung der Notwendigkeit einer betreffend einer Einziehung gerichteten Beratung kommt es nach Auffassung der Kammer nicht darauf an, ob die Einziehung in der Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft nicht beantragt wurde, die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen wurde und das Gericht den Angeklagten zu keinem Zeitpunkt darauf hingewiesen hat, dass er seine Verteidigung darauf einzurichten habe, dass die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Betracht komme.

Die Kammer folgt insoweit der von dem Bezirksrevisor zitierten Entscheidung des KG Berlin vom 30.06.2021 (Az. 1 Ws 16/21) sowie der vorgenannten Entscheidungen des KG Berlin insgesamt nicht, da das erkennende Gericht die Einziehungsentscheidung von Amts wegen treffen muss. Soweit eine Einziehungsentscheidung nach Aktenlage in Betracht kommt, ist ein entsprechender Antrag oder gerichtlicher Hinweis bis zum Schluss der Beweisaufnahme zu erwarten, weil die Einziehung insoweit nach Neufassung der §§ 73 ff. StGB nunmehr obligatorisch ist. Insoweit ist aus Sicht des Verteidigers auch im Verlauf des Verfahrens damit zu rechnen, dass ein zunächst unterbliebener Antrag zur Einziehung in der Anklageschrift sowie bei Eröffnung des Hauptverfahrens in der Hauptverhandlung erfolgen kann, sodass eine hierauf entsprechende Verteidigung und Beratung nicht erst im Falle des Hinweises, sondern schon vor Eröffnung des Hauptverfahrens erforderlich ist, wie der Verteidiger des Angeklagten im Rahmen seiner Stellungnahme vom 21.03.2023, BI. 1173 ff. d. Akte zutreffend ausgeführt hat und was bei einer lebensnahen .Betrachtungsweise auch zur gewissenhaften Erfüllung seiner Tätigkeit als Verteidiger erforderlich war.

Nach Auffassung der Kammer ist vorliegend davon auszugehen, dass eine Einziehung nach Aktenlage in Betracht kam. Bei den in Rede stehenden Taten wurden ausgehend von der Anklageschrift vom 14.06.2018 Geldbeträge in Höhe von insgesamt 22.648,79 € veruntreut. Dass diese Geldbeträge schon aufgrund der Tatbegehung nicht als Original vorhanden waren, liegt auf der Hand. In Betracht kam daher nur noch eine Einziehung von Wertersatz nach § 73c StGB. Da dem Angeklagten vorgeworfen worden ist, gemeinschaftlich gehandelt und sich dadurch den gesamten Betrag zumindest zeitweise einverleibt zu haben, lag nach Auffassung der Kammer auch die vom Bundesgerichtshof für eine solche Einziehung geforderte tatsächliche (Mit-)Verfügungsgewalt (vgl. BGH, Urt. v. 18.07.2018 – 5 StR 645/17, NStZ-RR 2018, 278, juris Rn. 7 m.w.Nachw.; BGH, Beschl. v. 21.08.2018 – 2 StR 311/18, NStZ 2019, 20, juris Rn. 8 m.w.Nachw.; BGH, Urt. v. 07.06.2018 – 4 StR 63/18, juris Rn. 12; BGH, Urt. v. 24.05.2018 – 5 StR 623/17, juris Rn. 8 m.w.Nachw.) nahe.

Folglich waren vermögensabschöpfende Maßnahmen bis zur Beendigung des Verfahrens durch Beschluss vom 17.05.2022 nicht ausgeschlossen bzw. zumindest jedoch nicht derart fernliegend, dass eine anwaltliche Beratung hierzu nicht sachgerecht gewesen wäre.

e) Bei der Gebühr Nr. 4142 VV RVG handelt es sich um eine besondere, als Wertgebühr ausgestaltete Verfahrensgebühr. Besondere Tätigkeiten des Rechtsanwaltes sind da-bei nicht erforderlich, da ihm die Gebühr als reine Wertgebühr unabhängig vom Umfang der Tätigkeit zusteht. Damit genügt es, wenn der Verteidiger beratend im Zusammenhang mit der möglichen Einziehung tätig wird (LG Chemnitz, 4. große Strafkammer, Beschluss vom 09.01.2020 – 4 KLs 310 Js 40553/18; OLG Dresden (Strafsenat), Beschluss vom 14.02.2020 – 1 Ws 40/20).

Der Gegenstandswert richtet sich nach § 2 Abs. 1 RVG. Danach ist Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit der Anspruch auf Einziehung, auf den sich die Tätigkeit des Rechtsanwaltes bezieht. Gegenstandswert ist der objektive Geldwert des Gegenstandes. Die für die Wertgebühr maßgebende Höhe richtet sich nach den zum Zeitpunkt der Beratung erkennbaren Anhaltspunkten. Ob sich später Anhaltspunkte für einen niedrigeren Wert ergeben, ist insoweit unerheblich (OLG Oldenburg, Beschluss vom 06.07.2011 – 1 Ws 351/11). Für die Bestimmung des Gegenstandswertes ist somit nicht maßgeblich darauf abzustellen, ob und in welcher Höhe eine Einziehung im Urteil letztlich angeordnet worden ist, sondern vielmehr darauf, in welcher Höhe dem Angeklagten eine Einziehung drohte (LG Berlin, Beschluss vom 13.04.2018 – 511 KLs 255 Js 739/14 – 11/17; LG Essen – XXIV. große Strafkammer – Jugendkammer, Beschluss vom 04.12.2018 – 64 Qs-68 Js 11.80/16-23/18). Hier wurde dem Angeklagten Untreue in Höhe von 22.648,79 € vorgeworfen. Zum Zeitpunkt der anwaltlichen Beratung drohte dem Angeschuldigten eine Einziehung in dieser Höhe. Dieser Wert war somit _ wie von dem Amtsgericht Altena zu Recht in Ansatz gebracht — maßgeblich für die Festlegung des Verfahrenswertes.“

(Mit)Haftung nach (Auffahr)Unfall am Stauende, oder: Muss man die Warnblinkanlage einschalten?

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Author Achim Engel

Und dann im zweiten Posting das LG Hagen, Urt. v. 31.05.2023 – 1 O 44/22 – zu der interessanten und bisher kaum (?) entschiedenen Frage, ob man als Fahrzeugführer verpflichtet ist, an einem Stauende die Warnblinkanlage einzuschalten.

Folgender Sachverhalt: Am 02.10.2019 gegen 11:26 Uhr befuhr der Beklagte zu 3) mit einem LKW Mercedes-Benz  den rechten Fahrsteifen der BAB 1 in Fahrtrichtung Köln ca. 600 Meter vor der Autobahnabfahrt Hagen-Nord, Gemarkung Hagen bei km 343,620. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug 100 km/h. Hinter ihm fuhr der Versicherungsnehmer der Klägerin, mit seinem Pkw Lada. Wegen einer Staubildung auf dem rechten Fahrstreifen reduzierte der Beklagte zu 3) seine Geschwindigkeit innerhalb von 29 Sekunden von ca. 62 km/h auf ca. 11 km/h. Die Warnblinkanlage betätigte er nicht. Der hinter ihm fahrende Versicherungsnehmer der Klägerin – kranken- und pflegeversichert bei der Klägerin — reagierte auf die Staubildung jedenfalls nicht rechtzeitig und fuhr mit 50 km/h auf den vor ihm fahrenden LKW der Beklagten zu 2) auf.

Die BAB 1 ist dort dreispurig ausgebaut, ein Seitenstreifen ist rechtsseitig vorhanden. Zum Unfallzeitpunkt war die Fahrbahn trocken. Es war hell und bewölkt.

Der Versicherungsnehmer der Klägerin wurde aufgrund des Unfalls erheblich verletzt, lag im Koma und konnte auch nach mehreren Operationen und Behandlungen nicht vollständig genesen. Der Versicherungsnehmer ist nunmehr pflegebedürftig.

Der Krankenversicherung ergaben sich Kosten in Höhe von 155.180,16 EUR; der Pflegeversicherung in Höhe von 13.925,00 EUR.

Um deren „Verteilung“ wird gestritten. Das LG hat die Klage abgewiesen:

„Die Klägerin hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Schadensersatz aus abgetretenem Recht gegen die Beklagten aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 249 BGB, 116 SGB.

1. Der Unfall war zwar für keinen der Beteiligten unabwendbar. Die einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs tritt jedoch hinter dem groben Verschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin zurück.

Ein Ereignis ist unabwendbar, welches bei Anwendung möglich äußerster Sorgfalt nicht hätte abgewendet werden können. Hierbei ist der Maßstab eines gedachten Idealfahrers anzulegen. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen haben die Beklagten darzulegen und zu beweisen.

Diesen Nachweis konnten die Beklagten nicht führen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Versicherungsnehmer bei Betätigen der Warnblinklichtanlage — welches unstreitig unterblieb — rechtzeitig auf das langsame Fahren des Beklagtenfahrzeugs reagiert hätte. Allein aus dem Umstand, dass nach dem Unfall dem Handy des klägerischen Versicherungsnehmers ein laufendes Video entnommen werden konnte, kann nicht sicher der Rückschluss gezogen werden, dass der Versicherungsnehmer dieses unmittelbar zum Zeitpunkt des Unfallereignisses angesehen habe und aus diesem Grunde abgelenkt gewesen sei. Weiteren Beweis haben die Beklagten für eine Unabwendbarkeit des Unfallereignisses nicht angetreten.

2. Die danach in die nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmende Haftungsabwägung einzubeziehende einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs tritt jedoch hinter dem groben Verschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin zurück.

a) Umstände, welche zu einer erhöhten Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs geführt hätten, hat die Klägerin nicht dargelegt und nicht bewiesen.

Es liegt kein Verstoß des Beklagten zu 3) gegen § 1 Abs. 2 StVO vor.

Es bestand für den Beklagten, auch wenn er möglicherweise das letzte Glied eines sich bildenden Staus gewesen sein sollte — weshalb es hierauf im Ergebnis nicht ankommt —, keine Verpflichtung die Warnblinklichtanlage zu betätigen.

Eine solche Verpflichtung ergibt sich aus § 1 Abs. 2 StVO nämlich nicht bei jedem sich bildenden Stau, sondern nur dann, wenn sich aufgrund des Staus eine Gefährdungslage für den nachfolgenden Verkehr ergibt.

Aus der erweiterten Zulässigkeit der Verwendung des Warnblinklichts kann sich mittelbar eine Verpflichtung zu seiner Verwendung ergeben. Wie hinsichtlich der Warnzeichen nach § 16 Abs. 1 StVO ist Grundlage dafür § 1 Abs. 2 StVO. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Gefährlichkeit der Situation und deren Erkennbarkeit für den nachfolgenden Verkehr an. Für die Annäherung an einen Stau auf der Autobahn ist eine solche Verpflichtung vor der Änderung von § 16 Abs. 2 Satz 2 StVO abgelehnt worden; nach der geltenden Rechtslage, nach der für diesen Fall die Verwendung der Warnblinkanlage ausdrücklich erlaubt ist, kommt dies im Einzelfall durchaus in Betracht (Feskorn in: FreymannfWellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 16 StVO (Stand: 18.11.2022), Rn. 12). Die Einschaltung des Warnblinklichts bleibt aber grundsätzlich unzulässig, wenn keine Gefährdung, sondern nur eine Behinderung des Verkehrs vorliegt (Feskorn in: FreymannANellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 16 StVO (Stand: 18.04.2023), Rn. 11).

Wegen des Sichtfahrgebots muss ein Verkehrsteilnehmer grundsätzlich auch auf Bundesautobahnen mit der Gefahr rechnen, seine Geschwindigkeit unter Umständen plötzlich bis hin zum Stillstand abbremsen zu müssen. Kommt es — wie auf vielbefahrenen Strecken häufig — regelmäßig aus dem stockenden bis zähfließenden Verkehr heraus zu Stau oder wie vorliegend zu einem Rückstau an einer Autobahnausfahrt, bedarf es in der Regel keiner besonderen Warnung. Eine Warnung kann allerdings dort angebracht sein, wo das Stauende nicht gut zu erkennen ist (z.B. hinter einer Kurve oder Kuppe) und wo mit hohen Geschwindigkeitsdifferenzen zu rechnen ist.

Dass eine solche konkrete Gefährdungslage vorgelegen habe, hat die für eine erhöhte Betriebsgefahr darlegungs- und beweisbelastete Klägerin schon nicht dargelegt und auch nicht bewiesen.

Vorliegend ereignete sich der Verkehrsunfall auf der rechten Spur einer dreispurigen Autobahn, wobei nur der rechte Fahrstreifen von dem sich bildenden oder bereits gebildeten Stau betroffen war. Gerade wegen des vermehrt aufkommenden LKW-Verkehrs auf der rechten Fahrspur und häufig auftretenden Rückstaus wegen Autobahnabfahrten muss auf der rechten Fahrspur schon dem Grunde nach vermehrt mit Staubildungen gerechnet werden. Hinzu treten vorliegend gute Sichtverhältnisse, da es hell und. die Straßenführung ausweislich des in Augenschein genommenen Google-Maps-Ausdrucks über eine längere Strecke geradlinig war.

Daneben kann bei einer Reduzierung der Geschwindigkeit von ohnehin schon nur 62 km/h bei erlaubten 100 km/h innerhalb von 29 Sekunden auf 11 km/h nicht die Rede von einer abrupten und nicht vorhersehbaren Staubildung sein, welche bei so guten Sichtverhälthisses möglicherweise noch eine Gefährdungslage begründen könnte. Vielmehr zeigt der Fahrtenschreiber des Beklagtenfahrzeugs eine kontinuierliche und gemächliche Reduzierung der Geschwindigkeit des LKW’s auf.

Zudem hat die Klägerin keinerlei Beweis dafür angeboten, dass sich ein etwaiger Verstoß des Beklagten zu 3) gegen § 1 Abs. 2 StVO ursächlich auf den Unfall ausgewirkt habe. Dass der Versicherungsnehmer der Klägerin vorliegend ein betätigtes Warnblinklicht des bremsenden LKW wahrgenommen hätte, hat die für eine erhöhte Betriebsgefahr darlegungs- und beweisbelastete Klägerin nicht unter Beweis gestellt.

b) Dagegen ist von einem groben Verschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin auszugehen. Fest steht nach unstreitigem Sachverhalt, dass der Versicherungsnehmer der Klägerin, welcher mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h auf das Beklagtenfahrzeug aufgefahren war, jedenfalls gegen § 4 StVO verstoßen hat. Da das Beklagtenfahrzeug schon 29 Sekunden vor dem Unfallereignis schon nur eine Geschwindigkeit von ca. 60 km/h aufgewiesen hatte, kann aus dem Auffahren des Versicherungsnehmers der Klägerin auf eine erhebliche Unachtsamkeit geschlossen werden. Insoweit streitet zugunsten der Beklagten die Vermutung eines Verstoßes gegen die Pflichten aus § 4 Abs. 1 StVO durch den Versicherungsnehmer der Klägerin. Andere Ursachen für das Auffahren ihres Versicherungsnehmers auf das vor ihm schon seit längerem deutlich langsamer fahrende Fahrzeug hat die Klägerin nicht dargelegt.

Hinter diesem groben Verschulden tritt die einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs zurück.

Ob der Versicherungsnehmer zuvor einen Fahrstreifenwechsel vorgenommen hat, kann dahingestellt bleiben. Auch in diesem Falle läge ein besonders grober Verkehrsverstoß vor, hinter welchem die einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs zurückträte.“

Beisitzerin scheidet auf Antrag aus der Justiz aus, oder: Was ist mit den Gebühren für die „nutzlosen“ HV-Tage?

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Wer kennt als Verteidiger nicht das Problem: Eine Hauptverhandlung muss nach einigen Hauptverhandlungstagen ausgesetzt und neu begonnen werden. Dann stellt sich, wenn der Mandant später verurteilt wird, die Frage, ob der Mandant auch für die aufgrund der Aussetzung „nutzlosen“ Hauptverhandlungstermine die Terminsgebühren zahlen muss oder ob er ggf. von der Staatskasse Erstattung verlangen kann.

Mit der Problematik hatte es das LG Hagen zu tun. Dort begann am 10.08.2020 in einer Schwurgerichtssache die Hauptverhandlung. Anschließend wurden 12 Fortsetzungstermine durchgeführt. Weitere Termine waren bis einschließlich November 2020 angesetzt worden, und zwar insgesamt 32 Verhandlungstermine. Es wurden zwar zwei Ergänzungsschöffen eingesetzt, die an der Hauptverhandlung teilgenommen haben, Ergänzungsrichter wurden aber nicht hinzugezogen.

Der letzte Hauptverhandlungstermin fand dann am 21.09.2020 statt. Dann musste die Hauptverhandlung aufgrund des Umstandes, dass eine der teilnehmenden Berufsrichterinnen kurzfristig aus dem Justizdienst ausgeschieden ist, unterbrochen werden. Diese hatte ihren Entschluss, die Justiz verlassen zu wollen, Mitte September 2020 mitgeteilt. Eine im Verfahren in Aussicht genommene Verständigung nach§ 257c StPO war nicht zustande gekommen, so dass das Verfahren nicht rechtzeitig vor dem Ausscheiden der Richterin zum Abschluss gebracht werden konnte. Die Hauptverhandlung wurde sodann unterbrochen und am 14.01.2021 mit neuer Kammerbesetzung erneut begonnen.

Die Verteidiger der Angeklagten haben beantragt, die Kosten des Verfahrens und notwendigen Auslagen insoweit nicht ihren Mandanten aufzuerlegen, als sie sich auf die 13 Hauptverhandlungstermine vom 10.08.20 bis 21.09.2020 beziehen sowie insoweit eine Kostengrundentscheidung zu treffen. Die hat das LG dann nicht im Urteil, aber mit LG Hagen, Beschl. v. 09.12.2021 – 31 Ks 2/20 –  im Kostenansatzverfahren getroffen. Es hat gem. § 21 Abs. 1 Satz 2 GKG von der Erhebung von Auslagen des Gerichts für die 13 Hauptverhandlungstermine vorn 10.08.2020 bis 21.09.2020 abgesehen. Im Übrigen hat es den Antrag, von einer Auferlegung der Kosten des Verfahrens sowie der notwendigen Auslagen der Angeklagten, soweit sie sich auf die 13 Hauptverhandlungstermine vom 10.08. bis 21.09.2020 beziehen, zurückgewiesen:

„2. Gem. § 465 Abs. 1 StPO hat der Angeklagte die Kosten des Verfahrens insoweit zu tragen, als sie durch das Verfahren wegen einer Tat entstanden sind, wegen derer er verurteilt wird. Eine diesbezügliche Kostenentscheidung hat die Kammer bereits mit dem Urteil getroffen.

Von diesem Grundsatz ist gem. § 21 Abs. 1 S. 1 GKG dann eine Ausnahme zu machen für solche Kosten, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären.

Eine unrichtige Behandlung der Sache ist vorliegend indes nicht ersichtlich. Eine Solche liegt vor, wenn ein Gericht oder ein sonstiger Bediensteter — etwa ein Gerichtswachtmeister — objektiv fehlerhaft gehandelt hat (BeckOK KostR/Dörndorfer, 35. Ed. 01.10.2021, GKG § 21 Rn. 3). Dabei ist aber nicht jeder Fehler ausreichend, sondern es muss sich um einen offensichtlichen und schweren Verfahrensfehler handeln (BGH, Beschl. v. 04.05.2005, Az.: XII ZR 217/04) oder in offensichtlich eindeutiger Weise materielles Recht verkannt werden (BFH, Beschluss vom 31.01.2014 — X E 8/13, Rn. 37).

Ein schwerwiegender Verfahrensfehler oder eine offensichtliche Verkennung materiellen Rechts ist vorliegend nicht ersichtlich. Die Unterbrechung des Verfahrens resultierte aus einer persönlichen und für die Gerichtsverwaltung nicht vorhersehbaren Entscheidung der ausgeschiedenen Richterin. Diese war gem. § 21 Abs. 2 Nr. 4 DRiG auf ihren schriftlichen Antrag hin aus dem Dienst zu entlassen, wobei der Zeitpunkt der Entlassung aus dem Dienst durch den Richter selbst bestimmt werden kann (Staats, DRiG, 1. Aufl. 2012, § 21 Rn. 8). Dabei wurde durch das Gericht sowohl versucht, die Richterin zu einer Verlängerung des Dienstverhältnisses bis zum Abschluss des hiesigen Verfahrens zu bewegen und auch einen schnelleren Abschluss des Verfahrens durch eine Verständigung herbeizuführen, was aber jeweils scheiterte.

Dass zwingend ein Ergänzungsrichter hätte eingesetzt werden müssen, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Gem. § 192 Abs. 2 GVG kann bei Verhandlungen von längerer Dauer der Vorsitzende die Zuziehung von Ergänzungsrichtern anordnen. Die Entscheidung, ob ein Ergänzungsrichter eingesetzt wird, trifft der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen (KK-StPO/Diemer, 8. Aufl. 2019, § 192 GVG Rn. 4). Bei der Entscheidung ist die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Ergänzungsfalls zu berücksichtigen, wozu neben verfahrens- auch personenbedingte Umstände heranzuziehen sind (KK-StPO/Diemer, 8. Aufl. 2019, GVG § 192 Rn. 4a). Zwar handelte es sich vorliegend um ein umfangreiches Verfahren, bei dem zunächst 32 Verhandlungstermine angesetzt worden waren. Diese wurden aber sämtlich in der Zeit von August bis November 2020 angesetzt, so dass es sich um einen überschaubaren Zeitraum von weniger als vier Monaten handelte. Zudem konnte auch davon ausgegangen werden, dass nicht sämtliche Termine benötigt werden würden, wie anhand der Tatsache erkennbar ist, dass der zweite Verfahrensdurchgang — wenn auch unter Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten G. — in nur 21 Verhandlungstagen beendet werden konnte. Es waren auch keinerlei Anzeichen dafür ersichtlich, dass seitens der sodann ausgeschiedenen Richterin damit zu rechnen gewesen wäre, dass diese derart plötzlich aus dem Dienst ausscheiden könnte.

3. Etwas anderes gilt aber für die Auslagen des Gerichts, die für die 13 Hauptverhandlungstermine vom 10.08.2020 bis 21.09.2020 angefallen sind.

Gem. § 21 Abs. 1 S. 2 GKG sind auch Auslagen, die durch eine von Amts wegen veranlasste Verlegung eines Termins oder Vertagung einer Verhandlung entstanden sind, nicht zu erheben. Hierbei ist beispielsweise auch der Fall erfasst, dass ein Termin aufgrund der Erkrankung eines Richters nicht stattfinden kann (BeckOK KostR/Dörndorfer, 35. Ed. 01.10.2021, GKG § 21 Rn. 3).

Zwar wurden vorliegend keine Termine von Amts wegen aufgehoben oder vertagt. Nach Auffassung der Kammer ist die vorliegende Situation des nachträglichen Ausscheidens einer zur Entscheidungsfindung berufenen Richterin aber vergleichbar mit der gesetzlich geregelten Konstellation: In beiden Fällen ist ein Termin, für den das Gericht Auslagen aufgewandt hat, ergebnislos verlaufen, ohne dass eine Verfahrensförderung erfolgen konnte, wobei dies durch Ursachen hervorgerufen wurde, die in die Sphäre des Gerichts fallen. Ob ein Termin hierbei schon im Laufe seiner Durchführung abgebrochen und vertagt werden muss oder ob dieser zunächst vollständig durchgeführt wurde und sich erst im Nachhinein herausstellt, dass das Ergebnis des Termins aufgrund einer in der Risikosphäre des Gerichts liegenden Ursache — hier das Ausscheiden der zur Entscheidung berufenen Richterin — unverwertbar ist, kann nach Auffassung der Kammer im Ergebnis nicht zu einer unterschiedlichen Behandlung hinsichtlich der Erhebung von Auslagen führen. Da § 21 Abs. 1 S. 2 GKG auch kein „Verschulden“ im Sinne- einer unrichtigen Sachbehandlung voraussetzt, sondern es allein darauf ankommt, aus wessen Sphäre der Grund für nutzlos aufgewandten Aufwendungen herrührt, war daher von einer Erhebung der gerichtlichen Auslagen abzusehen, sofern diese für die 13 Hauptverhandlungstermine vom 10.08:2020 bis 21.09.2020 angefallen sind.

4. Sofern auch beantragt wurde, den Angeklagten die eigenen notwendigen Auslagen nicht aufzuerlegen, findet sich hierfür in § 21 GKG keine Grundlage. Die Norm erfasst nämlich, wie bereits an der systematischen Stellung im Gerichtskostengesetz erkennbar — ausschließlich Gerichtskosten. Einen Anspruch gegen die Staatskasse auf Erstattung von notwendigen Auslagen ergibt sich hieraus nicht (BGH NStZ-RR 2008, 31; BeckOK KostR/Dörndorfer, 35. Ed. 01.10.2021, GKG § 21 Rn. 1). Derartige Kosten sind als Schaden ggf. im Zivilrechtswege geltend zu machen.

5. Dabei erscheint es auch nicht unbillig, die Gerichtskosten sowie die notwendigen Auslagen der Angeklagten für die Verhandlungstage vom 10.08.2020 bis 21.09.2020 den Angeklagten aufzuerlegen. Gem. § 465 StPO sollen die Kosten des Strafverfahrens grundsätzlich von demjenigen getragen werden, der durch sein strafbares Verhalten Anlass zur Durchführung des Verfahrens gegeben hat. Dabei trägt dieser — im Falle eine Verurteilung — auch die Gefahr, dass durch das Verfahren mehr Kosten entstehen, als zur Feststellung seiner Schuld erforderlich gewesen wäre. Ein Anspruch auf „kosteneffiziente Strafverfolgung“ besteht insofern. nicht. Der Verurteilte trägt daher —vorbehaltlich des Eingreifens von Spezialregelungen mit abweichender Regelung —auch das Risiko, dass sich das Verfahren in die Länge zieht oder sich im Nachhinein als überflüssig herausstellende Maßnahmen, etwa Beweiserhebungen, ergriffen werden.“

M.E. so zutreffend.