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Pflichti III: Entscheidungen von der „Resterampe“, oder: Abfall ?, Haftentlassung, Rückwirkung, Wahlanwalt

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Und dann hier im dritten Posting der „Rest“, also „Resterampe“, und zwar einige Entscheidungen zur Rückwirkung, zu den Bestellungsgründen und zu Bestellung. Auch hier gibt es nur die Leitsätze, und zwar:

Von einer schwierigen Rechtslage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist auszugehen, wenn in einem Strafverfahren die Frage entscheidungserheblich ist, ob und unter welchen Voraussetzungen Autowracks Abfall im Sinne von § 326 StGB darstellen.

Sowohl die Aufhebung der Bestellung nach § 143 Abs. 2 S. 1 StPO als auch nach § 143 Abs. 2 S. 2 StPO steht im Ermessen des Gerichts. Bei der Ermessensentscheidung ist stets sorgfältig zu prüfen, ob die frühere, auf der Inhaftierung beruhende Behinderung der Verteidigungsmöglichkeiten es weiter notwendig macht, dass der Angeschuldigte trotz Aufhebung der Inhaftierung durch einen Pflichtverteidiger unterstützt wird, was in der Regel der Fall sein wird.

1. Die rückwirkende Bestellung eines notwendigen Verteidigers kommt jedenfalls dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen für die Bestellung eines notwendigen Verteidigers zum Zeitpunkt eines rechtzeitig hierauf gerichteten Antrages gegeben waren und die Bestellung allein aufgrund justizinterner Gründe unterblieben ist.

2. Unverzüglich im Sinne des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bedeutet, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber so bald wie möglich ohne schuldhaftes Zögern, mithin ohne sachlich nicht begründete Verzögerung erfolgen muss.

3. Die Ausnahmeregelung nach § 141 Abs. 2 S. 3 StPO, wonach in den Fällen des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und Nr. 3 StPO die Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen, greift nicht, wenn die Pflichtverteidigerbestellung nicht von Amts nach den genannten Bestimmungen, sondern aufgrund des Antrages des vormaligen Beschuldigten veranlasst ist.

Hat der Wahlverteidiger des Angeklagten, dem bisher noch kein Pflichtverteidiger bestellt wurde, sein Mandat niedergelegt und seine Bestellung als Pflichtverteidiger beantragt, ist einem Bestellungsantrag zu entsprechen, da der Beschuldigte mit der Niederlegung des Wahlmandats unverteidigt im Sinne von § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO ist.

 

Pflichti II: Nochmals rückwirkende Bestellung, oder: Das LG Bochum zeigt, wie es richtig geht

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Und dann hier noch einmal ein Beschluss zur nachträglichen Beiordnung eines Pflichtverteidigers, und zwar der LG Bochum, Beschl.  v. 17.02.2025 – 11 Qs 4/25. Ich stelle ihn vor, weil es ein sehr schöner Beschluss ist, in dem das LG alle maßgeblichen Fragen „kurz und zackig“ anspricht.

Der Sachverhalt wie gehabt: Die Staatsanwaltschaft hat unter dem 13.08.2024 gegen den Angeklagten Anklage wegen versuchten Diebstahls beim AG erhoben. Dort wird Hauptverhandlungstermin auf den 29.11.2024 bestimmt. Mit beim AG am 28.11.2024 eingegangenen Schriftsatz vom selben Tag zeigte der Verteidiger seine Beauftragung durch den Angeklagten an. Unter dem Hinweis, dass der sich derzeit in Haft in der JVA Gelsenkirchen befinde, beantragte er seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Ferner beantragte er den Termin am 29.11.2024 aufzuheben, da er erst am 28.11.2024 von diesem Kenntnis erlangt habe.

Mit Beschluss vom 28.11.2024 stellte das AG das Verfahren gegen den Angeklagten gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig ein. Über den Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger entschied das Amtsgericht nicht. Darum wird dann gestritten. Das AG hat dann letztlich den Antrag zurückgewiesen. Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte:

„Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere gemäß § 142 Abs. 7 StPO statthaft und in der Frist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt. In der Sache hat sie Erfolg. Das Amtsgericht hat zu Unrecht den Antrag des Beschwerdeführers auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers zurückgewiesen.

1. Gemäß § 141 Abs. 1 StPO hätte dem Beschwerdeführer unverzüglich nach Antragstellung ein Pflichtverteidiger bestellt werden müssen.

a) Die Voraussetzungen des § 140 StPO für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers lagen bis zur Einstellung des Verfahrens und bereits im Zeitpunkt der rechtzeitigen Antragstellung vor.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung war ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gegeben. Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt der Antragstellung am 28.11.2024 in einer Anstalt, der JVA Gelsenkirchen, inhaftiert.

b) Der Beschwerdeführer war auch unverteidigt im Sinne des § 141 Abs. 1 StPO.

Er ist unverteidigt, wenn der Beschwerdeführer noch keinen Verteidiger hat oder der gewählte Verteidiger bereits mit dem Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung niederzulegen (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 54. Ed. 1.1.2025, StPO § 141 Rn. 2). Durch diese Regelung soll der Vorrang der Wahlverteidigung aufrechterhalten werden. Grundsätzlich ist in dem Bestellungsantrag indes bereits konkludent die Ankündigung enthalten das Wahlmandat niederzulegen (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 54. Ed. 1.1.2025, StPO § 141 Rn. 2). So liegt der Fall hier. Der Verteidiger hat ausdrücklich und erkennbar im Namen des Beschwerdeführers um seine Beiordnung als Pflichtverteidiger nachgesucht, wobei diesem Vorbringen zu entnehmen ist, dass das Wahlmandat im Falle der Beiordnung niedergelegt werden soll.

2. Der zwischenzeitliche Abschluss des Verfahrens durch Einstellung steht einer Beiordnung ausnahmsweise und aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles nicht entgegen.

Dem Grunde nach zutreffend stellt das Amtsgericht fest, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt. Denn im Falle einer Einstellung des Verfahrens, sei es auch nur nach § 154 StPO, kann das Ziel, dem Beschuldigten eine angemessene Rechtsverteidigung zu ermöglichen, nicht mehr erreicht werden.

Von diesem Grundsatz sind aber im Einzelfall Abweichungen zuzulassen und die Rechtslage anders zu beurteilen. Ein solcher Einzelfall liegt hier vor.

Ein solcher Einzelfall liegt vor, wenn der Beschuldigte einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers gestellt hat, die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung zum Zeitpunkt der Antragstellung offensichtlich vorgelegen haben, das Gebot der unverzüglichen Pflichtverteidigerbestellung missachtet wurde und dies auf behördeninteme Vorgänge zurückzuführen ist (vgl. LG Bonn (13. große Strafkammer), Beschluss vom 23.12.2024 – 63 Qs 61/24 (930 Js 309/24); LG Amberg (1. Strafkammer), Beschluss vom 27.05.2024 -11 Qs 43/24).

Der Beschwerdeführer hat einen Tag vor dem angesetzten Hauptverhandlungstermin, am 28.11.2024, den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers gestellt. Zu diesem Zeitpunkt lag auch ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO (siehe unter II. 1. a.) vor. Das nunmehr über die Inhaftierung und somit den Grund der notwendigen Pflichtverteidigung in Kenntnis gesetzte Gericht hat am selben Tag – nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft – das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt und nicht über den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung entschieden. Eine Entscheidung wäre ihm ungleich möglich gewesen. Über den Beiordnungsantrag ist folglich nicht unverzüglich gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO entschieden worden, da eine Entscheidung über diesen weder vor noch zusammen mit der Einstellungsentscheidung getroffen wurde.

Der Grundsatz der grundsätzlich nicht rückwirkenden Beiordnung darf vor diesem Hintergrund nicht insofern missbraucht werden, dass vor der Entscheidung des bereits gestellten Beiordnungsantrags auf die Einstellung des Verfahrens hingewirkt und so planmäßig die Verfahrensrechte der Beschuldigten unterlaufen werden (vgl. LG Bonn (13. große Strafkammer), Beschluss vom 23.12.2024 – 63 Qs 61/24 (930 Js 309/24).

Auch § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO steht im vorliegenden Fall der Beiordnung nicht entgegen. Die Möglichkeit, von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nur für die Fälle des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 und nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO, demzufolge einem Angeklagten unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, wenn er dies ausdrücklich beantragt (vgl. LG Wuppertal, Beschluss vom 08.04.2024, Az. 26 Qs 333/23). Eine entsprechende Anwendung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO auch auf Fälle einer ausdrücklichen Antragsstellung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO kommt nicht in Betracht, da aufgrund des eindeutigen Wortlautes keine planwidrige Regelungslücke ersichtlich ist (AG Wuppertal Beschl. v. 8.5.2024 – 722 Js 1914/24, BeckRS 2024, 11985).“

Pflichti III: Zulässigkeit rückwirkender Bestellung, oder: Unverzügliche Entscheidung, Betreuung, EuGH

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Und dann habe ich noch – wie könnte es anders sein  – Entscheidungen zur Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Beide „unschön“, da beide entscheidenden LG die Zulässigkeit – grundsätzlich – verneint haben. Es handelt sich um – hier die Leitsätze:

1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers, namentlich nach Einstellung des Verfahrens, ist i.d.R. nicht zulässig.

2. Ob etwas anderes gilt, wenn durch ein justizinternes schuldhaftes Verhalten die Entscheidung über einen gestellten Beiordnungsantrag verzögert worden ist, bleibt offen. Denn „unverzüglich“ im Sinne des § 141 Abs. 1 StPO bedeutet nicht „sofort“, sondern vielmehr ohne schuldhaftes Zögern. Ein solches schuldhaftes Zögern nicht vor, wenn zwischen dem Eingang des Antrags und der Einstellung des nur eine Woche, vergangen ist.

1. Die Kammer hält daran fest, dass die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht zulässig ist

2. Es besteht keine Pflicht, die Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung, dem EuGH vorzulegen.

3. Auch wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht, was regelmäßig zu einer Beiordnung gemäß § 140 Abs. 2 StPO führt, ist eine Unfähigkeit der Selbstverteidigung nicht ersichtlich, wenn das Verfahren unmittelbar nach dem Eingang der Akten bei der Staatsanwaltschaft aufgrund eines Verfahrenshindernisses ohne weitere Ermittlungen eingestellt worden ist.

Pflichti II: Zulässigkeit rückwirkender Bestellung?, oder: LG Köln/Hannover topp, LG Stuttgart mit „Tünkram“

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Im zweiten Posting dann drei LG-Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung.

Zunächst hier der schön begründete LG Köln, Beschl. v. 30.01.2025 – 111 Qs 6/25 -, der zutreffend ausführt:

1. Eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein eingestelltes Verfahren ist in der Regel unzulässig, und zwar auch dann, wenn der Wahlverteidiger oder der Rechtsanwalt, den der Beschwerdeführer als den zu bestellenden Pflichtverteidiger benannt hatte, rechtzeitig und auch begründet seine Bestellung beantragt hatte. Eine Ausnahme ist dann anzunehmen, soweit der Antrag auf Beiordnung gestellt worden ist und pflichtwidrig eine unverzügliche Entscheidung über diesen unterlassen worden ist.

2. Aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren ergibt sich die Verpflichtung auf zeitnahe Entscheidung über seinen Pflichtverteidigerantrag. Die Bemessung dieser Prüfungs- und Überlegungsfrist kann dabei nicht starr erfolgen. Sie muss vielmehr an den Umständen des Einzelfalls und Zweck der Pflichtverteidigung ausgerichtet sein, der darin besteht, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Beschuldigter in den vom Gesetz bestimmten Fällen rechtskundigen Beistand erhält und dass ein ordnungsgemäßer Verfahrensablauf gewährleistet ist.

Und dann noch der ebenso schöne/richtige LG Hannover, Beschl. v. 05.02.2025 – 101 Qs 7/25 -:

1. Wenn der Beschuldigte vor der Verfahrenseinstellung die Beiordnung eines Verteidigers beantragt hat, die Voraussetzungen der Bestellung vorlagen und die rechtzeitige Bescheidung aus rein justizinternen Gründen unterblieben ist, ist eine rückwirkende Pflichtverteidigerbeiordnung zulässig.
2. Eine Frist von zwei Wochen zwischen Eingang des Beiordnungsantrags bei der Polizei und dem Eingang bei der Staatsanwaltschaft ist zu lang.

An dritter stelle aber leider auch der LG Stuttgart, Beschl. v. 17.01.2025 – 3 Qs 3/24, über den man lieber das „Mäntelchen des Schweigens“ legen sollte. Denn das LG Stuttgart schreibt „Tünkram„. Anders kann man es m.E. nicht bezeichnen.

Wegen des Sachverhalts verweise ich auf den verlinkten Volltext. Den stelle ich, da er etwas umfangreicher ist, hier nicht ein. Nur so viel: Das „Gezerre“ um die Pflichtverteidigerbestellung und die vom Verteidiger beantragte Akteneinsicht geht seit Anfang 2023. Akteneinsicht wird dem Verteidiger dann endlich im Dezember 2023 gewährt, Anfang 2024 wird dann nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Gegen die Ablehnung der rückwirkenden Bestellung legt der Verteidiger dann am 13.02.2024 Beschwerde ein. Ohne Erfolg.

Das LG bejaht zwar – insofern ist der Beschluss  richtig – die grundsätzliche Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Es verneint dann aber das Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen:

„Die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO liegen jedoch nicht vor, weil dem ehemaligen Beschuldigten der Tatvorwurf nicht eröffnet wurde. Die Kammer vertritt wie bereits im Beschluss vom 21.08.2023 weiterhin die Auffassung, dass die Eröffnung des Tatvorwurfs einen förmlichen Akt der Strafverfolgungsbehörden voraussetzt und es nicht genügt, dass der Betroffenen auf sonstige Art und Weise von einem Tatverdacht Kenntnis erhält. Die Neuregelung der Verteidigerbestellung erfordert auch unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsmaterialien keine abweichende richtlinienkonforme Auslegung (zum Ganzen KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 141 Rn. 3 mwN; offen gelassen BGH, Beschluss vom 09.02.2023 – StB 3/23 -, juris = NStZ 2023, 686 mwN). Regelmäßig wird der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft im Sinn von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert. Relevant ist, wie sich das Verhalten des ermittelnden Beamten nach außen, insbesondere in der Wahrnehmung des Beschuldigten, darstellt (zum Ganzen Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 141 Rn. 3 mwN; BGH, Beschluss vom 09.02.2023 – StB 3/23 – , juris = NStZ 2023, 686 mwN). Die Bestellung eines Pflichtverteidigers setzt gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO voraus, dass die betreffende Person Beschuldigter in einem Strafverfahren ist und die Strafverfolgungsbehörde ihr durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise die Einleitung gegen sie gerichteter Ermittlungen zur Kenntnis gebracht hat. Vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens sowie im Zeitraum noch nicht offen geführter Ermittlungen ist für eine Pflichtverteidigerbestellung kein Raum (zum Ganzen BGH, Beschluss vom 06.08.2024 StB 45/24 – , juris mwN). Anträge auf Pflichtverteidigerbestellung, die ohne vorangegangene förmliche Mitteilung lediglich aufgrund von Mutmaßungen über Ermittlungen gestellt werden, sind unzulässig (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 141 Rn. 3 mwN; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 141 Rn. 3 mwN; BGH, Beschluss vom 06.08.2024 -StB 45/24 -, juris mwN). In der Gewährung von Akteneinsicht an Rechtsanwalt Pp. lag im vorliegenden Fall keine Eröffnung des Tatvorwurfs gegenüber dem ehemaligen Beschuldigten im Sinn des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO. Ein Verteidiger bzw. Beschuldigter hat gemäß § 147 Abs. 1, Abs. 4 S. 1 StPO grundsätzlich ein Akteneinsichtsrecht. Dieses kann gemäß § 147 Abs. 2 S. 1 StPO vor Abschluss der Ermittlungen nur versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart gab dem Antrag von Rechtsanwalt Pp. auf Akteneinsicht unter Verweis hierauf zunächst nicht statt, teilte diesem aber mit, die Akteneinsicht werde vorgemerkt. Rechtsanwalt Pp. wiederholte den Akteneinsichtsantrag in der Folge mehrfach mit zum Teil ausführlicher Begründung seines Rechts auf Akteneinsicht. Nach Vorlage der Akte durch die Polizei nach Abschluss deren Ermittlungen wurde Rechtsanwalt Pp. dann durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart Akteneinsicht gewährt. Hierdurch wurde, wie sich aus dem geschilderten Verfahrensablauf ergibt, dessen Recht auf Akteneinsicht stattgegeben. Dagegen war seitens der Staatsanwaltschaft Stuttgart vorliegend nicht beabsichtigt, dem ehemaligen Beschuldigten dadurch den Tatvorwurf zu eröffnen. Es erfolgte mit der Gewährung von Akteneinsicht auch in der Wahrnehmung des ehemaligen Beschuldigten – keine Manifestation eines Verfolgungswillens der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wies Rechtsanwalt Pp. hierauf – wenngleich nachträglich – ausdrücklich hin. Unabhängig hiervon ergibt sich dies ebenfalls aus dem Gang des Verfahrens. Die vorangegangenen polizeilichen Ermittlungen gegen den ehemaligen Beschuldigten hatten sich in Feststellungen zu dessen Person und der Untersuchung dessen Reisepasses auf Echtheit sowie einem augenscheinlichen Vergleich von Lichtbildern von seiner Person mit von einem Zeugen gefertigten Videoaufnahmen von den Tätern und Wahllichtbildvorlagen bei eventuellen Zeuginnen, die zu keinem Ergebnis geführt hatten, erschöpft. Einer polizeilichen Anregung auf Beantragung eines Haftbefehls gegen den ehemaligen Beschuldigten kam die Staatsanwaltschaft Stuttgart nicht nach. Kurze Zeit nach Erledigung des Akteneinsichtsgesuchs von Rechtsanwalt Pp. stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Beschuldigten ohne weitere Ermittlungen oder Erkenntnisse gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.“

Dazu ist anzumerken – so steht es demnächst auch im StRR: M.E. hätte hier beigeordnet werden müssen, da dem dem ehemaligen Beschuldigten der Tatvorwurf im Sinn des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO nämlich eröffnet war. Man fragt sich, warum das LG so viel Worte macht, um den Leser seines Beschlusses vom Gegenteil zu überzeugen, was dann aber nicht gelingt. Zutreffend ist der Ansatz des LG, wonach regelmäßig der Verfolgungswille der Strafverfolgungsbehörde durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert wird (BGH, Beschl. v. 9.2.2023, StB 3/23, NStZ 2023, 686). Aber das LG unterschlägt, die davon abweichende Mehrzahl von Entscheidungen, die jegliche Kenntnisnahme genügen lassen (LG Hamburg, Beschl. v. 11.3.2022 – 613 Qs 7/22; LG Karlsruhe, Beschl. v. 16.9.2022 – 6 Qs 41/22, StV 2023, 159; LG Magdeburg, Beschl. v. 24.7.2020 – 25 Qs 65/20, StV 2021, 162; LG Neubrandenburg, Beschl. v. 30.7.2021 – 23 Qs 86/21; s. vor allem auch AG Hagen, Beschl. v. 16.2.2021 – 67 Gs 115/21, das Kenntnis des Beschuldigten vom neuen Verfahren angenommen hat, weil dem Verteidiger insoweit Akteneinsicht gewährt wurde). Und diese abweichende Meinung ist zutreffend, denn es war gerade Absicht des Gesetzgebers bei der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidiger, den Beiordnungszeitpunkt ganz bewusst weg vom gerichtlichen Verfahren hin zum Ermittlungsverfahren vorzuverlagern wollte. Dem und auch dem LG selbst angeführten Unverzüglichkeitsgebot würde es zuwider laufen, würde man den Beschuldigten, der Kenntnis von dem gegen ihn geführten Verfahren erlangt hat, darauf verweisen, in jedem Fall abzuwarten, bis die Ermittlungsbehörden förmlich an ihn herantreten. Überdies hätte es sonst die Staatsanwaltschaft in der Hand, Verteidigerbestellungen durch schlichte Untätigkeit zu verhindern, indem sie den Beschuldigten einfach nicht anhört. Der hier gegebene Verfahrensablauf ist dazu gerade ein Paradebeispiel. Zudem haben auch die der Reform des Rechts der Pflichtverteidigung zugrundeliegenden europäischen Richtlinien keine förmliche Mitteilung des Tatvorwurfs verlangt (so zutr. LG Magdeburg, a.a.O. und Burhoff/Hillebrand, EV, Rn 3799). Daran ändert auch nichts, wenn die Staatsanwaltschaft – wie hier – den ehemaligen Beschuldigten – und das auch noch nachträglich – darauf hingewiesen hat, dass in der Gewährung von Akteneinsicht keine Manifestation eines Verfolgungswillens der Staatsanwaltschaft liege. Das wäre ja noch schöner, wenn die Staatsanwaltschaft es in der Hand hätte, die einmal geschaffenen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers wieder rückgängig zu machen. Unverständlich sind schließlich auch die Ausführungen des LG dazu, dass in der Gewährung von Akteneinsicht an den Verteidiger keine Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens/ Manifestation des Verfolgungswillens liege. Was soll es denn sonst sein, wenn der Verteidiger (sic!!) Akteneinsicht erhält von einem Verfahren, in dem die Polizei ja sogar schon einen Haftbefehl angeregt hatte. Insgesamt kann man nur sagen: Gewogen und erheblich zu leicht befunden.

Und dann noch: Die sofortige Beschwerde des Verteidigers datiert vom 13.02.2024 (!!), der LG-Beschluss vom 1701.2025 (!!). Man fragt sich, warum die Stuttgarter Strafverfolgungsbehörden fast ein Jahr gebraucht haben, um diese einfache Frage zu entscheiden. Einen nachvollziehbaren Grund sehe ich nicht, zumal nicht, wenn man solchen „Tünkram“ schreibt.

Pflichti III: Und nochmals rückwirkende Bestellung, oder: Zwei Wochen Zeit sind nicht unverzüglich

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Und dann – wie meist im dritten Posting – noch etwas zur Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Dazu habe ich heute aber nur eine Entscheidung, nämlich den AG Halle (Saale), Beschl. v. 10.01.2025 – 396 Gs 356 Js 51201/24 (43/24) :

„Dem Antrag des Verteidigers auf Bestellung zum Pflichtverteidiger war zu entsprechen, denn sämtliche Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO sind erfüllt. Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor, weil die vormals Beschuldigte sich seit dem 25.11.2024 in anderer Sache in Haft befindet. Der ehemals Beschuldigten war der Tatvorwurf mit dem polizeilichen Schreiben vom 04.11.2024 eröffnet worden und es lag ein über ihren Verteidiger gestellter Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers vor. Mithin hätte die ermittelnde Polizeidienststelle gemäß § 142 Abs. 1 S. 2 StPO diesen Antrag unverzüglich dem gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 1 StPO zuständigen Gericht zur Entscheidung vorlegen müssen. Diese Unverzüglichkeit liegt nicht vor, weil der Antrag des Verteidigers vom 19.11.2024 erst am 03.12.2024 an das hiesige Amtsgericht übermittelt wurde, wo er ausweislich eines Eingangsstempels am 05.12.2024 eingegangen ist. Ein Ausnahmefall des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO liegt hier nicht vor, denn diese Ausnahmevorschrift bezieht sich nach dem Wortlaut ausschließlich auf § 141 Abs. 2 S. 1 StPO und nicht auf § 141 Abs. 1 StPO.“