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Pflichti III: Und wieder „rückwirkende Bestellung“, oder: Alles nur „gute“ Entscheidungen

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Und dann im letzten Posting – traditionsgemäß – einige Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, und zwar:

Der Bestellung eines Pflichtverteidigers steht im Strafbefehlsverfahren nicht entgegen, dass ein Strafbefehl zum Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung bereits erlassen ist.

1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist ausnahmsweise zulässig.

2. Auf Fälle einer Bestellung eines Pflichtverteididgers auf Antrag des Beschuldigten gem. § 140 Abs. 1 StPO ist Abs. 2 S. 3 des § 141 StPO nicht anwendbar.

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist zulässig, wenn der Antrag rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt worden, dann aber von der Staatsanwaltschaft erst verspätet dem Gericht zur Entscheidung vorgelegt worden ist.

Anwalt I: Rückwirkende Bestellung des Pflichti, oder: Die Waage neigt sich zur „Zulässigkeit“

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Und heute gibt es dann einen Tag mit „Pflichti-Entscheidungen“, aber nicht nur. Das letzte Posting betrifft eine Entscheidung vom BFH, die aber auch den Rechtsanwalt betrifft, daher der Oberbegriff „Anwalt“.

Ich beginne mit den Entscheidungen, die mir in der letzten Zeit zur rückwirkenden Bestellung zugegangen sind. Das sind alles „positive“ Entscheidungen, also solche, die die rückwirkende Bestellung als zulässig angesehen haben. M.E. dreht sich das Blatt und wir haben zunehmend Gerichte, die dieser Auffassung sind. Hier kommen dann:

    1. Liegt es allein an von dem Beschuldigten nicht zu beeinflussenden Abläufen, ob die Entscheidung über seinen Antrag – hier: Bestellung eines Pflichtverteidigers – vor dem Abschluss des Verfahrens ergeht, ist ihm faktisch die Möglichkeit der Herbeiführung einer Entscheidung im gerichtlichen Beschwerdeverfahren verwehrt, mit der Folge, dass er auch noch nach Abschluss des Verfahrens Beschwerde gegen die Ablehnung seines Antrags, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen, einlegen kann.
    2. Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BT-Drucks. 19/13829, S. 36 ff.) und aufgrund der dieser Gesetzesänderung zugrundeliegenden RL 2016/1919/EU ist die Annahme eines Verbotes der rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht mehr begründbar.
    3. An der bisher vertretenen anderen Auffassung hält die Kammer nicht mehr fest.
    1. Liegt es allein an von dem Beschuldigten nicht zu beeinflussenden Abläufen, ob die Entscheidung über seinen Antrag – hier: Bestellung eines Pflichtverteidigers – vor dem Abschluss des Verfahrens ergeht, ist ihm faktisch die Möglichkeit der Herbeiführung einer Entscheidung im gerichtlichen Beschwerdeverfahren verwehrt, mit der Folge, dass er auch noch nach Abschluss des Verfahrens Beschwerde gegen die Ablehnung seines Antrags, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen, einlegen kann.
    2. Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Vertei­digung vom 10.12.2019 (BT-Drucks. 19/13829, S. 36 ff.) und aufgrund der dieser Gesetzesände­rung zugrundeliegenden RL 2016/1919/EU ist die Annahme eines Verbotes der rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht mehr begründbar.
    3. Hat der der Betroffene (s)einen Antrag rechtzeitig gestellt und alle formalen Voraussetzungen für dessen Bewilligung erfüllt sind, soll es ihm und indirekt dem von ihm beauftragten Anwalt finanziell nicht zum Nachteil gereichen, dass aus von ihnen nicht zu vertretenden und einzig im Verantwortungsbereich der Justiz liegenden Umständen mit einer Entscheidung hierüber bis zum Abschluss der Instanz zugewartet worden ist.
    4. Entgegenstehende Rechtsprechung wird aufgegeben.
    1. § 68a Abs. 1 Satz 1 JGG bestimmt in den Fällen der notwendigen Verteidigung lediglich den Zeitpunkt, zu welchem dem Jugendlichen oder Heranwachsenden „spätestens“ ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, nämlich bevor eine Vernehmung des Jugendlichen oder Heranwachsenden oder eine Gegenüberstellung mit ihm durchgeführt wird. Aus der Formulierung „spätestens“ folgt, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 68 JGG dem Beschuldigten auch bereits vor dem in § 68a Abs. 1 Satz 1 JGG genannten Zeitpunkt ein Pflichtverteidiger bestellt werden kann.
    2. Unter besonderen Umständen ist die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers möglich, etwa wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss bzw. Einstellung des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte, insbesondere die Entscheidung über den Beiordnungsantrag seitens der Justiz wesentlich verzögert bzw. das in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO statuierte Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
    1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Abschluss des Verfahrens ist zulässig, wenn trotz des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aus justizinternen Gründen nicht entschieden worden ist oder die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Hiergegen lässt sich insbesondere nicht einwenden, dass eine solche Beiordnung allein noch dem Kosteninteresse des Beschuldigten und seines Verteidigers dient.
    2. Der Anwendungsbereich des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO Vorschrift beschränkt sich auf Fälle der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 StPO.
    1. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist vorzunehmen, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
    2. Eine entsprechende Anwendung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO auch auf Fälle einer ausdrücklichen Antragsstellung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO kommt nicht in Betracht.

StPO III: Vorenthalten/Veruntreuen von Arbeitsentgelt, oder: War der Prokurist faktischer Geschäftsführer?

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Und dann noch der LG Chemnitz, Beschl. v. 15.02.2024 – 4 Qs 424/23. Der Beschluss ist wegen der vielen Anonymisierungen etwas schwer zu lesen, es sollte aber gehen, um das Wesentliche zu erfassen.

Die Staatsanwaltschaft führte seit 2014 ein umfangreiches Ermittlungsverfahren gegen die beiden Angeschuldigten und zwei weitere (später abgetrennte) Personen wegen des Tatverdachts des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt und des Betruges im großen Ausmaß. Am 08.05.2020 hat sie Anklage vor dem AG wegen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt und des Betruges. erhoben. Das AG hat die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen und teils aus rechtlichen Gründen (absolute Verjährung) abgelehnt.

Dagegen hat die StA sofortige Beschwerde eingelegt. Die hatte keinen Erfolg. Das LG führt u.a. aus:

„Soweit es die faktische Geschäftsführertätigkeit des Angeschuldigten pp. betrifft, ist der Staatsanwaltschaft Recht zu geben, dass dies lediglich für die Firma pp. zu prüfen war und für die Firma pp. nur für den Zeitraum nach dem 21.03.2018. Denn vom 31.08.2015 bis zum 21.03.2018 war pp. als formeller Geschäftsführer der Firma pp. im Handelsregister eingetragen.

Soweit das Amtsgericht die Beweisbarkeit einer faktischen Geschäftsführung unter Zugrunde-legung der vorgelegten Beweismittel verneint, schließt sich die Kammer diesen Ausführungen an. Soweit eine formelle Geschäftsführung vorlag, führt dies aus den unten (Ziffern 2. und 3.) dargelegten Gründen zu keinem anderen Ergebnis. Gleiches gilt für die formelle Geschäftsführertätigkeit des Angeschuldigten  im Zeitraum 03.06.2014 bis 11.06.2015 bei der Firma pp. Der Angeschuldigte pp. war Prokurist der Firma pp.. Gemäß § 49 Absatz I HGB ermächtigt die Prokura zu allen Arten von gerichtlichen und außergerichtlichen Geschäften und Rechtshandlungen, die der Betrieb eines Handelsgewerbes mit sich bringt. Ausnahmen bestehen lediglich für Grundstücksgeschäfte (Absatz 2) und für höchstpersönliche Pflichten (wie z.B. die Handelsregistereintragung). Eine Prokura umfasst insbesondere die arbeitsrechtliche Vertretung des Unternehmens gegenüber den Mitarbeitern, z.B. Abschluss, Durchführung und Beendigung eines Arbeitsvertrages (vgl. MüKo 5. Aufl., Rn. 16 ff zu § 49 HGB). Insoweit sind die Aussagen der Zeuginnen pp und pp., dass der Angeschuldigte pp. die Arbeitsverträge mit ihnen abschloss und ihnen auch die Personalausweise der Arbeiter zur Ausfertigung von Arbeitsverträgen gab, kein Indiz für eine faktische Geschäftsführung. Dass der Angeschuldigte auch Vertretungshandlungen vornahm, die sich auf grundlegende Entscheidungen über die Organisation des Unternehmens bezogen, wie z.B. Änderung der Fertigungstechnik, Einführung neuer Produkte (vgl. MüKO, a.a.O), ist nicht belegt. Die Zeugin pp. hat auch ausgesagt, dass die Meldungen für die SOKA und die BG Bau durch ein Lohnbüro erfolgt seien.

Die in der Anklageschrift genannten Tätigkeiten des Angeschuldigten pp. sind sämtlich von einer üblichen Prokura umfasst. Dies gilt insbesondere auch für die Vertretung der Geschäfts-führer bei den jeweiligen Projekten (Auftragsakquise) und auf den jeweiligen Baustellen (Organisation der Arbeiter, Stundenzettel etc.). Dass dem Angeschuldigten für seine umfangreichen Tätigkeiten in dieser Stellung auch eine Kontovollmacht erteilt wurde, ist selbstverständlich und begründet gleichfalls keinen Verdachtsmoment. Das Kontoeröffnungsformular wurde von den beiden formellen Geschäftsführern unterzeichnet,pp. wurde eine Verfügungsberechtigung und eine Bankkarte erteilt (Sonderband Vermögensabschöpfung).

Ein Prokurist ist jedoch nicht automatisch faktischer Geschäftsführer. Die Feststellungen zu dem formellen Geschäftsführer pp. beschränken sich auf seinem damaligen Wohnsitz.

Aufgrund der modernen Telekommunikation ist ein Wohnsitz im Ausland aber nicht ausreichend, eine reine „Stroh-Geschäftsführung“ zu beweisen. Auch der Umstand, dass sich der Angeschuldigte pp. dem Zeugen gegenüber als „Chef‘ der Firma pp. ausgegeben hat und vom Zeugen pp. als „stellvertretender Chef“ bezeichnet wurde, ist für sich allein kein Beweis für eine faktische Geschäftsführertätigkeit, zumal es sich bei ersterem nicht um eine Äußerung im Rechtsverkehr gehandelt haben dürfte. Der Zeuge pp. hat insoweit auch ausgesagt, dass sich pp. zwar als „Chef‘ bezeichnet habe, er – der Zeuge – jedoch später herausgefunden habe, dass pp. nur die Arbeitnehmer gestellt und abkassiert sowie die Preise mit pp. und der pp. ausgehandelt habe.

…..“

Pflichti I: 4 x etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: Betreuung, Gesamtstrafe, (Schwer)Behinderungen

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Heute ist es dann mal wieder Zeit für einen Pflichtverteidigungstag. Bei der Gelegenheit: Herzlichen Dank allen Kollegen/Kolleginnen, die mir immer wieder Entscheidungen (auch) zu den Fragen schicken.

Ich beginne hier mit Entscheidungen, die mir zu den Beiordnungsgründen vorliegen, und zwar:

Eine Pflichtverteidigerbestellung kommt in Betracht, wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht. § 140 Abs. 2 ist dabei schon anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur eigenen Verteidigung erhebliche Zweifel bestehen. Das kann der Fall sein, wenn der Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt ist.

Auch bei einer überschaubaren zu erwartenden Rechtsfolge in einem Strafbefehl von 30 Tagessätzen Geldstrafe ist bei Gesamtstrafenfähigkeit die Bestellung eines Verteidigers erforderlich.

Die Verteidigung ist notwendig, wenn zu bezweifeln ist, dass der Beschuldigte seine Interessen selbst wahren und inner- und außerhalb der Hauptverhandlung alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vornehmen kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn auf der Grundlage ärztlicher Unterlagen beim Angeschuldigten eine Schwerbehinderteneigenschaft mit einem Grad der Behinderung von 50 festgestellt und diese mit der Gesundheitsstörung „Verhaltensstörungen und Lernbehinderung“ begründet wird.

§ 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO sieht einen Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn ein seh-, hör- oder sprachbehinderter Beschuldigter die Bestellung beantragt. Daher ist einem Beschuldigten mit einer Sehbehinderung von 40 % eine Pflichtverteidiger zu bestellen.

 

Pflichti I: 2x atypischer, 1x typischer Rückwirkungsfall, oder: Änderung des Vorwurfs bzw. der Gesetzeslage

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Der letzte „Pflichti-Tag“ liegt schon etwas zurück. Inzwischen sind bei mir wieder einige Entscheidungen von Kollegen eingegangen, so dass ich heute mal wieder nur Entscheidungen zur Pflichtverteidigung vorstelle.

Und ich beginne mit drei Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, von denen zwei etwas untypisch sind.

Zunächst hier der LG Potsdam, Beschl. v. 19.12.2021 – 23 Qs 37/21. Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten mit der Anklageschrift eine gemeinschaftliche räuberische Erpressung in Tateinheit mit gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung begangen zu haben. So wird eröffnet. In der Hauptverhandlung weist das AG nach erfolgter Beweisaufnahme darauf hin, dass sich weder der Tatvorwurf der räuberischen Erpressung noch der Körperverletzung bestätigt hat und eine Nötigung verbleibt. Danach erfolgt mit Beschluss vom 03.09.2021 eine die vorläufige Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO. Mit Schriftsatz vorn 06.09.2021 beantragte der Verteidiger die Beiordnung als Pflichtverteidiger. Das AG lehnt ab, das LG ordnet auf die Beschwerde hin bei:

„Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO vor. Dem Beschwerdeführer wird mit der zugelassenen Anklage ein Verbrechen zur Last gelegt und es ist aufgrund des Eröffnungsbeschlusses die Zuständigkeit des Schöffengerichts gegeben.

Das Verfahren ist bislang nicht endgültig eingestellt worden und kann durch das Amtsgericht nach zwischenzeitlich offenbar ergebnislos verstrichener Zahlungsfrist jederzeit wieder aufgenommen werden. Die damit lediglich vorläufige Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO hat auf die vorgenannten Beiordnungsgründe – anders als auf den Beiordnungsgrund des § 140 Abs. 2 StPO – keine Auswirkungen.

Für die vorgenannten Beiordnungsgründe ist weiterhin gleichgültig, wenn nach dem weiteren Verfahrensverlauf die Verurteilung nicht mehr wegen des angenommenen Verbrechens, sondern nur wegen eines Vergehens – hier: wegen einer Nötigung – zu erwarten ist. Vielmehr bleibt die einmal notwendige Verteidigung solange notwendig, bis rechtskräftig (§ 143 Abs. 1 StPO) entschieden ist, dass kein Verbrechen vorliegt (siehe Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2021, § 140 Rz. 21).

Eine rückwirkende Beiordnung kommt zwar nicht in Betracht (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht 1. Beschluss vom 09. März 2020 – 1 Ws 19/20), ist aber vorliegend auch nicht gegeben, zumal es nach dem Verstreichen der Auflagenfrist nicht mehr allein in der Hand des Beschwerdeführers liegt, das Verfahren zu beenden.“

Zu der Entscheidung passt ganz gut der LG Chemnitz, Beschl. v. 13.12.2021 – 2 Qs 306/21 jug. In dem Verfahren geht es umden Vorwurf des Verbreitens kinderpornographischer Inhalte. Dem Beschuldigten wird zur Last gelegt, am 15.02.2021 von seiner Wohnanschrift aus einen ihm unbekannten Zeugen über die Internetplattform ,,Planetromeo“ kontaktiert und anschließend kinderpornografische Inhalte zugesandt zu haben. Aufgrund Beschlusses des AG Chemnitz vom 20.05.2021 findet dann am 27.07.2021 beim Beschuldigten eine Durchsuchung statt. Der Rechtsanwalt beantragte mit Schriftsatz vom 03.08.2021 seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, die das AG ablehnt. Das LG ordnet auf die Bestellung hin dann bei:

„Die sofortige Beschwerde ist gem. § 143 Abs, VII Satz 1 StPO zulässig und hat auch in der Sache Aussicht auf Erfolg, da ein Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO vorliegt.

Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder vom 16.06.2021 (BGBl, 2021, Teil Nr. 33) am 01.07.2021 ist sowohl die Verbreitung, als auch der Besitz kinderpornografischer Inhalte nach § 184 b Abs. 1 Nr. 1 und § 184 b Abs. 3 StGB in der neuen Fassung mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr und damit als Verbrechen zu ahnden.

Nach dem bisherigen Ermittlungsstand ist nicht davon auszugehen, dass eine Verurteilung wegen Verbreitens kinderpornografischer Inhalte nach der zum 15.02.2021 geltenden Fassung des § 184 b StGB erfolgen kann, da der Zeuge die ihm gesandten Inhalte nur beschrieben hat, die Inhalte selbst aber auf seinen Medien nicht mehr vorhanden sind.

Selbst wenn der Nachweis des Verbreitens kinderpornografischer Inhalte unterstellt wird, besteht zum Besitz kinderpornografischer Inhalte, der erst mit der erfolgten Durchsuchung beendet ist, Tateinheit (zum Konkurrenzverhältnis Fischer, Kommentar zum StGB, 68. Auflage 2021, Rn. 45 zu § 184 b).

Für die Frage der Notwendigkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers war daher auf den 27.07.2021 und die neue Gesetzeslage abzustellen.“

Und dann der „typische“ Fall im AG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2022 – 31 Gs 13/22:

Die zwischenzeitlich erfolgte Einstellung des Verfahrens hindert die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ausnahmsweise nicht, wenn im Falle einer unverzüglichen Entscheidung die Beiordnung erfolgt wäre.