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StPO III: Entscheidung über Strafaussetzung steht an, oder: Anwesenheit des Angeklagten erforderlich?

Und dann zum Abschluss des Tages noch der OLG Köln, Beschl. v. 17.09.2025 – III-1 ORs 176/25. Der behandelt eine Frage aus dem Berufungsverfahren, nämlich Erforderlichkeit der Anwesenheit in der Berufungshauptverhandlung.

Das AG hat den Angeklagten am 14.02.2023 u.a. wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und die erkannte Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen hat die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Das LG hat dann Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten. Das OLG hat auf diese mit Beschluss vom 29.10.2024 (III-1 ORs 158/24) das Urteil teilweise abgeändert und u.a  im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben. Das LG hat dann den Angeklagten nach Teileinstellung zu Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der dieser u.a. geltend macht, die Berufungsverhandlung habe nicht ohne den Angeklagten erfolgen dürfen, weil im Rahmen der Entscheidung über die Aussetzungsfrage ein persönlicher Eindruck von diesem unabdingbar gewesen wäre. Das Rechtsmittel hatte Erfolg:

„Das Zulässigkeitsbedenken nicht unterliegende Rechtsmittel hat Erfolg; es führt gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 StPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz. Die Revision rügt in einer § 344 Abs. 2 S. 2 StPO noch genügenden Form und in der Sache zu Recht eine Verletzung von § 329 Abs. 2 S. 1 2. Alt. StPO.

Nach der genannten Vorschrift findet die Hauptverhandlung auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft ohne den nicht genügend entschuldigten Angeklagten statt, wenn seine Abwesenheit nicht erforderlich ist.

1. Die Rüge ist unter Berücksichtigung des Vortrags in der Revisionsbegründung, des Inhalts der dem Senat auf die zugleich erhobene Sachrüge zugänglichen Urteilsgründe sowie der von diesem im Rahmen der Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmenden Aktenbestandteile zulässig erhoben:

Den Umstand, dass die Hauptverhandlung (nur) auf die von der Staatsanwaltschaft eingelegte Berufung stattfand hatte der Senat im Rahmen der Prüfung einer etwa der Berufungsentscheidung entgegenstehenden Rechtskraft der amtsgerichtlichen Entscheidung von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen.

Mit der Revisionsbegründung wird vorgetragen, dass die Berufungshauptverhandlung ohne den Angeklagten stattgefunden habe; dass dieser trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht erschienen ist, lässt sich den Gründen des landgerichtlichen Urteils entnehmen.

Zur Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten heißt es in der Revisionsbegründung immerhin, dass sich die Kammer im Rahmen der Entscheidung über die Aussetzungsfrage einen persönlichen Eindruck von dem Angeklagten hätte verschaffen müssen.

2. Die Rüge ist auch begründet:

Die Berufungsstrafkammer führt zur Frage der Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten (s. zur diesbezüglichen Begründungspflicht OLG Brandenburg – Beschl. v. 09.09.2019 – (1) 53 Ss 108/19 (63/19) – Juris Tz. 10; im Zusammenhang mit einem Verwerfungsurteil gemäß § 329 Abs. 4 StPO auch OLG Jena Beschl. v. 01.10.2019 – 1 OLG 161 Ss 83/19 – Juris) aus, dass „keine Gesichtspunkte bekannt geworden (seien), die die Anwesenheit des Angeklagten erforderlich gemacht hätten“. Zudem sei der Angeklagte verteidigt gewesen. Das genügt nicht, um dem Senat einsichtig zu machen, dass die Berufungshauptverhandlung ohne den Angeklagten stattfinden durfte.

a) Die Frage, ob die Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung erforderlich ist, ist verbreiteter Auffassung zufolge nach den Maßstäben der tatrichterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) zu beantworten (BayObLG Beschl. v. 20.03.2024 – 204 StRR 77/24 = BeckRS 29024, 5361 Tz. 33; MüKo-StPO-Quentin, 2. Auflage 2024, § 329 Rz. 80; BeckOK-StPO-Eschelbach, 56. Ed. Stand 01.07.2025, § 329 Rz. 47; sehr weitgehend OLG Hamburg, Beschl. v. 21.10.2016 – 1 Rev 57/16 = NStZ 2017, 607 [608]: die Anwesenheit des Angeklagten sei nur in wenigen Ausnahmefällen, nämlich nur dann nicht erforderlich, wenn sich „Fragen der Tatschuld oder der Straße nicht oder nicht mehr“ stellten; krit. Sommer StV 2016, 55). Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles ist daher danach zu fragen, ob sich die Berufungsstrafkammer dazu gedrängt sehen musste, sich der Person des Angeklagten zu versichern. Das ist der Fall:

b)aa) Freilich führt nicht bereits der Umstand, dass das Berufungsgericht über eine Strafmaßberufung der Staatsanwaltschaft zu entscheiden hatte ohne weiteres dazu, dass nicht ohne den Angeklagten hätte verhandelt werden dürfen (so die Konstellation in Senat Beschl. v. 17.06.2011 – III-1 RVs 140/11 = StraFo 2011, 360; Schmitt/Köhler-Schmitt, StPO, 68. Auflage 2025, § 329 Rz. 36). Nach Aufhebung und Zurückverweisung auf die alleinige Revision des Angeklagten verbot § 358 Abs. 1 StPO im neuen Rechtsgang eine höhere Bestrafung als ein Jahr und sechs Monate Gesamtfreiheitsstrafe.

bb) Bereits die Entwurfsbegründung ging indessen davon aus, dass dem persönlichen Eindruck bei der Frage der Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung besondere Bedeutung beigemessen werde (BT-Drucks. 18/3562, S. 47 und S. 73 unter Hinweis auf OLG Hamm StV 1997, 346 und OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 21 [22]), wobei jedoch auch in diesem Fall eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten erfolgen könne, wenn das Berufungsgericht seine Anwesenheit nicht für Zwecke einer besseren Beurteilung der für die Entscheidung über eine Strafaussetzung maßgeblichen Tatsachen für erforderlich halte (BT-Drucks. 18/3562, S. 73; BayObLG Beschl. v. 20.03.2024 – 204 StRR 77/24 = BeckRS 2024, 5361; KK-StPO-Paul, 9. Auflage 2023, § 329 Rz. 11b; Schmitt/Köhler-Schmitt a.a.O.; Frisch NStZ 2015, 69 [72f.]).

Danach erwies sich hier die Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung als erforderlich. Das Verteidigungsziel bestand in der Aussetzung der erkannten Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung. Zwischen erster und zweiter Berufungshauptverhandlung waren – worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift mit Recht hingewiesen hat – deutlich mehr als eineinhalb Jahre verstrichen. Neue Verurteilungen in dieser Zeit sind ausweislich der Urteilsgründe nicht bekannt geworden. Ergänzende Angaben zu den aktuellen Lebensverhältnissen des Angeklagten konnte der anwesende Verteidiger nicht machen. Diese Umstände mussten die Kammer dazu drängen, sich im Hinblick auf die Aussetzungsfrage einen eigenen aktuellen Eindruck von dem Angeklagten zu verschaffen, was nach Lage der Dinge nur durch dessen Anwesenheit zu gewährleisten war.

Etwas anderes ergibt sich für den vorliegenden Fall auch nicht aus dem Umstand, dass aufgrund des Senatsbeschlusses vom 29. Oktober 2024 die zweite (unbedingte) Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten aus dem Urteil der 4. kleinen Strafkammer des Landgerichts Aachen vom 18. Oktober 2023 rechtskräftig und grundsätzlich isoliert vollstreckbar war. Dieser Umstand ist angesichts der vorerwähnten Gegebenheiten ebenso wenig geeignet, die Aussetzungsfrage zu präjudizieren wie es die Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in einem anderen Verfahren gewesen wäre.“

StPO II: (Keine) Schöffin mit Kopftuch in der HV, oder: Verletzung der Neutralitätspflicht

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Als zweite Entscheidung habe ich dann den OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.10.2025 – 1 OGs 1/25, der sich noch einmal zur Verletzung des Neutralitätsgebot durch eine Schöffing äußert, die in der Hauptverhandlung ein Kopftuch tragen will.

Das OLG hat sie ihres Amtes enthoben:

2. Der Amtsenthebungsantrag ist in der Sache begründet.

Die betroffene Schöffin war gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 GVG ihres Amtes zu entheben. Die Haltung, das Schöffenamt nur mit getragenem Kopftuch auszuüben, stellt eine grobe Amtspflichtverletzung im Sinne dieser Vorschrift dar.

Eine zur Amtsenthebung führende gröbliche Verletzung von Amtspflichten ist nach Sinn und Zweck des § 51 GVG anzunehmen, wenn die Schöffin ein Verhalten zeigt, das sie aus objektiver Sicht verständiger Verfahrensbeteiligter ungeeignet für die Ausübung des Schöffenamtes macht. Ob eine erhebliche Pflichtverletzung gegeben ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 4. September 2017, 2 (S) AR 32/17 (1), juris, Rn. 8).

Das Tragen eines Kopftuchs in der Hauptverhandlung verstößt gegen § 31a NJG. Nach dieser Vorschrift darf derjenige, der in einer Verhandlung ihm obliegende richterliche Aufgaben wahrnimmt, keine sichtbaren Symbole oder Kleidungsstücke tragen, die eine religiöse, weltanschauliche oder politische Überzeugung zum Ausdruck bringen. Hiermit sollen die verfassungsrechtlich garantierte Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und das Vertrauen der Gesellschaft in die Neutralität und Unabhängigkeit der Justiz gewährleistet werden. Der damit einhergehende Eingriff in das Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist verfassungsgemäß (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020, 2 BvR 1333/17, juris, Rn. 82 ff.).

Vorliegend hat die Schöffin trotz des Hinweises des Senatsvorsitzenden auf die Regelung des § 31a NJG in ihrem Schreiben vom 8. Oktober 2025 nochmals ihre Haltung bekräftigt, dass sie nicht bereit ist, ihr Kopftuch während künftiger Hauptverhandlungstermine abzulegen. Der damit zum Ausdruck gebrachten Weigerung, die Amtspflichten aus § 31a NJG zu befolgen, kann nur mit ihrer Enthebung vom Amt als Schöffin begegnet werden (so auch: OLG Celle, Beschluss vom 10. Juli 2025, 2 AR 16/25, juris, Rn. 8). Soweit teilweise vertreten wird, dass die Weigerung einer Schöffin, ihr Kopftuch während der Hauptverhandlung abzulegen, keine gröbliche Amtspflichtverletzung, sondern stattdessen eine Unfähigkeit der betreffenden Schöffin im Sinne des § 52 Abs. 1 Nr. 1 GVG darstellt, was die Streichung der betreffenden Schöffin von der Schöffenliste zur Folge hat (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 11. April 2024, III-5 Ws 64/24, juris, Rn. 7ff.), hält der Senat dies nicht für überzeugend (ebenso: OLG Celle, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15. April 2025, 16 F 10/25, juris, Rn. 19). § 52 GVG ist im Zusammenhang mit den §§ 31 bis 34 GVG zu sehen, die sich auf die Unfähigkeit zum Schöffenamt beziehen und in denen das Tragen eines Kopftuchs nicht genannt wird.

Der Grundsatz der Religionsfreiheit erfährt eine verfassungsimmanente Schranke wegen eines Gemeinschaftswertes von Verfassungsrang, nämlich dem für Gerichtsverfahren zentralen Grundsatz der staatlichen Neutralität (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 87ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.). Hinzu kommt die negative Religionsfreiheit der übrigen Verfahrensbeteiligten, insbesondere der Angeklagten (BVerfG; a.a.O., Rn. 93ff.). Außerdem ist nicht nur eine Abwägung zwischen der grundrechtlich geschützten Religionsausübung und den staatlichen Neutralitätsvorgaben betroffen, vielmehr würde ein für alle Verfahrensbeteiligten offensichtlicher Verstoß einer ehrenamtlichen Richterin gegen § 31a NJG auch das Vertrauen der Allgemeinheit in die Bindung der Justiz an Recht und Gesetz gefährden (OLG Celle, a.a.O.), weil dem Bürger eine Richterin gegenüberträte, die geltendes Recht missachtet.

Mildere Mittel als die Amtsenthebung stehen nicht zur Verfügung, weil die Haltung der betroffenen Schöffin gefestigt ist. Bereits am 18. September 2025 hatte sie gegenüber dem RiLG Dr. B sowie am 23. September 2025 gegenüber dem RiLG K jeweils erklärt, dass sie nicht bereit sei, ihr Kopftuch während künftiger Hauptverhandlungstermine abzulegen.

Der Hinweis der betroffenen Schöffin auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Januar 2015 (BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2015, 1 BvR 471/10, BVerfGE 138, 296-376) verfängt nicht, weil die genannte Entscheidung sich auf Lehrkräfte an öffentlichen Schulen bezieht und auf die vorliegende Konstellation – die Ausübung des Schöffenamts – wegen der Regelung des § 31a NJG nicht ohne Weiteres übertragbar ist. Im Gerichtssaal tritt der Staat dem Bürger demgegenüber „klassisch-hoheitlich“ gegenüber (BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020, 2 BvR 1333/17, juris, Rn. 95).

Soweit die Schöffin darauf hinweist, dass sie ihr Kopftuch nicht als politisches Zeichen, sondern als Akt der Frömmigkeit sehe, das in keiner Weise im Widerspruch zur Unparteilichkeit ihres Schöffenamtes stehe, ist entgegenzuhalten, dass es auf die Sicht eines objektiven Betrachters ankommt (OLG Dresden, a.a.O.). Aus Sicht eines objektiven Betrachters kann es eine religiöse Überzeugung zum Ausdruck bringen, wenn eine Schöffin während der Hauptverhandlung ein Kopftuch trägt. Es gilt zudem, bereits dem „bösen Schein“ mangelnder Objektivität entgegenzuwirken (BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020, 2 BvR 1333/17, juris, Rn. 98).

Dass die Schöffin das Schöffenamt sieben Jahre zuverlässig und pflichtbewusst ausgeübt hat, mag zutreffend sein. Die nunmehr erforderlich gewordene Amtsenthebung resultiert jedoch aus der Haltung der Schöffin, ihr Kopftuch trotz mehrfacher Hinweise des Landgerichts und schließlich des Senatsvorsitzenden auf § 31a NJG während künftiger Hauptverhandlungen nicht ablegen zu wollen.“

StPO I: Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten, oder: Wahrnehmung der Verteidigungsrechte

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Heute mache ich einen StPO-Tag. Den eröffne ich mit einem Beschluss des BayObLG, den ich hier schon mal in anderem Zusammenhang vorgestellt habe (vgl. Berufung I: Der Angeklagte sitzt im Zuschauerraum, oder: Ist der Angeklagte erschienen?). 

In dem diesem Posting zugrunde liegenden BayObLG, Beschl. v. 23.06.2024 – 203 StRR 234/25 – hat das BayObLG dannn auch noch – in einer Segelanweisung – zur Verhandlungsfähigkeit Stellung genommen, und zwar wie folgt:

„3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

Der neue Tatrichter wird mit Blick auf die Verhaltensauffälligkeiten des Angeklagten zu prüfen haben, ob in der Berufungshauptverhandlung Anhaltspunkte für eine Verhandlungsunfähigkeit bestehen.

a) Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne bedeutet nach allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, dass der Angeklagte in der Lage sein muss, seine Interessen in und außerhalb der Verhandlung vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Februar 1995 – 2 BvR 345/95 –, juris Rn. 29 m.w.N.; BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 – 5 StR 46/18 –, juris Rn. 9). Die Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten sind je nach Verfahrensart und Verfahrenslage unterschiedlich. Neben der Schwierigkeit des Verhandlungsgegenstands und dem jeweiligen Verfahrensstand kommt es darauf an, wie und in welchem Ausmaß der Angeklagte darin beeinträchtigt ist, die ihm in der konkreten Verfahrenssituation zu gewährenden Mitwirkungsmöglichkeiten wahrzunehmen (Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 15; Schneider in KK-StPO a.a.O. § 205 Rn. 9). Bei Angeklagten, deren geistige, psychische oder körperliche Fähigkeit zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte eingeschränkt ist, liegt Verhandlungsunfähigkeit nicht vor, wenn die Auswirkungen dieser Einschränkungen auf die tatsächliche Wahrnehmung der Verfahrensrechte durch Hilfen für den Angeklagten hinreichend ausgeglichen werden können. Die Grenze zur Verhandlungsunfähigkeit ist erst dann überschritten, wenn dem Angeklagten auch bei Inanspruchnahme solcher verfahrensrechtlicher Hilfen eine selbstverantwortliche Entscheidung über grundlegende Fragen seiner Verteidigung und eine sachgerechte Wahrnehmung der von ihm persönlich auszuübenden Verfahrensrechte nicht mehr möglich ist (BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 – 5 StR 46/18 –, juris Rn. 9). Ist der Angeklagte nur bedingt verhandlungsfähig, muss das Gericht, wenn es die Hauptverhandlung durchführen will, diese so gestalten, dass der Angeklagte ihr folgen kann (Becker a.a.O. § 230 StPO Rn. 7).

b) Erscheint der Angeklagte zur Berufungshauptverhandlung in einem Zustand der Verhandlungsunfähigkeit und ist dieser Zustand nicht vom Angeklagten verschuldet, kann nicht nach § 329 Abs. 1 StPO verfahren werden (Gössel a.a.O. § 329 Rn. 7; Paul a.a.O. § 329 Rn. 4). Nur die vorsätzliche und schuldhafte Herbeiführung einer Verhandlungsunfähigkeit kann die Folge des § 329 Abs. 1 StPO nach sich ziehen, weil nur der Fall des Erscheinens des Angeklagten in einem von ihm selbst verschuldeten Zustand der Verhandlungsunfähigkeit, besonders nach Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenkonsum, der physischen Abwesenheit zu Beginn der Hauptverhandlung gleichzustellen ist (BGH, Beschluss vom 6. Oktober 1970 – 5 StR 199/70 –, BGHSt 23, 331-336, juris; KG Berlin, Beschluss vom 12. September 2000 – (4) 1 Ss 107/00 (138/00), juris; BT Drucks. 18/3562 S. 69; Gössel a.a.O. § 329 Rn. 7; Paul a.a.O. § 329 Rn. 4; Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 18; Frisch a.a.O. § 329 Rn. 9, 46e und 46f; Brunner a.a.O. § 329 Rn. 19; Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 15; a.A. Deiters a.a.O. § 230 Rn. 15 ff.; zur eigenverantwortlichen Herbeiführung eines psychopathologischen Zustandes BGH, Beschluss vom 22. Mai 1991 – 2 StR 453/90 –, juris und BayObLG, Beschluss vom 24. Februar 1999 – 5St RR 237/98 –, juris Rn. 11).

c) Voraussetzung der Verwerfung der Berufung wegen verschuldeter Verhandlungsunfähigkeit ist zwingend nach § 329 Absatz 1 Satz 3 StPO, dass das Berufungsgericht einen Arzt als Sachverständigen angehört hat (BT Drucks. 18/3562 S. 69; Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 18; Frisch a.a.O. § 329 Rn. 9 und 46h; Brunner a.a.O. § 329 Rn. 19; Paul a.a.O. § 329 Rn. 4; Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 15).

d) Das Verschulden muss vom Tatrichter im Urteil zweifelsfrei festgestellt werden. Bei insoweit verbleibenden Zweifeln hat der Berufungsrichter von einer sofortigen Verwerfung der Berufung abzusehen (KG Berlin, Beschluss vom 12. September 2000 – (4) 1 Ss 107/00 (138/00) –, juris Rn. 4).

e) Hat das Tatgericht Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten, darf es nicht weiterverhandeln (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2023 – 5 StR 453/23 –, juris Rn. 7; BGH, Beschluss vom 17. Juli 1984 – 5 StR 449/84 –, juris; Gmel/Peterson a.a.O. § 230 Rn. 3).“

Pflichti III: Keine „Umbeiordnung“ des „Pflichti“, oder: Schwierige Sachlage und Schwere der Tat

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Und in diesem dritten Posting habe ich dann noch drei Entscheidungen „aus der Instanz“. Von denen stelle ich aber nur die Leitsätze vor. Es handelt sich um folgende Entscheidungen:

Das OLG Schleswig hat im OLG Schleswig, Beschl. v. 09.09.2025 – 1 Ws 133/25 – zu den Voraussetzungen einer „Umbeiordnung“ eines Pflichtverteidigers und zu den Folgen der Beauftragung eines Wahlverteidigers erst nach Eröffnung des Hauptverfahrens Stellung genommen und meint:

1. Der Wechsel eines notwendigen Verteidigers – unbeschadet der Tatsache, ob dieser für die Staatskasse „kostenneutral“ wäre – steht nicht zur Disposition der beteiligten Rechtsanwälte und unterliegt deshalb auch nicht ihrer Absprache in Form eines einverständlichen Verteidigerwechsels.

2. Der beigeordnete Verteidiger hat einen staatlichen Auftrag, den er zu erfüllen hat, solange sich nicht in der Sache Gründe ergeben, die eine Aufhebung der Beiordnung erfordern.

3. Ist der erst nach Terminsbestimmung gewählte Verteidiger an den bestimmten Terminen verhindert, steht seiner Beiordnung ein wichtiger Grund im Sinne von § 142 Abs. 5 Satz 3 StPO entgegen.

4. Es liegt grundsätzlich in der Risikosphäre des Angeklagten, dass ein erst spät beauftragter Verteidiger das Mandat zeitlich nicht ausüben kann.

Als zweite Entscheidung dann den LG Hildesheim, Beschl. v. 02.10.2025 – 15 Qs 14/25 – zum Bestellungsgrund „schwierige Sachlage“ (§ 140 Abs. 2 StPO):

Eine schwierige Sachlage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist dann anzunehmen, wenn – zum Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Antrag auf Bestellung eines notwendigen Verteidigers entscheiden muss – ein Sachverständigengutachten bereits Verfahrensbestandteil ist oder ein solches angeordnet wird und zu erwarten ist, dass dieses Gutachten für den Ausgang des Verfahrens als Beweismittel eine entscheidende Rolle spielt (für ein gerichtlich beauftragtes Unfallrekonstruktionsgutachten eines Sachverständigen, dem mangels anderer unmittelbarer Beweismittel verfahrensentscheidende Bedeutung zukommt.

Und als dritte Entscheidung der LG Schweinfurt, Beschl. v. 07.10.2025 – 4 Qs 96/25 – zu Bestellung wegen Schwere der Tat (§ 140 Abs. 2 StPO), wenn die Eltern Beschuldigte einer fahrlässigen Tötung zum Nachteil eines leiblichen Kindes sind:

1. Im Einzelfall kann die Schwere des Tatvorwurfs bereits für sich, also unabhängig von der zu erwartenden Rechtsfolge, die notwendige Verteidigung begründen. Davon ist auszugehen, wenn dem Beschuldigten der Vorwurf der fahrlässigen Tötung zum Nachteil seiner beiden Kinder zur Last gelegt wird.

2. Für eine Pflichtverteidigerbestellung ausreichende Zweifel an der Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten liegen vor, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschuldigte aufgrund der mit dem ihm zur Last gelegten Tod von zwei Kindern verbundenen, emotionalen Ausnahmesituation nicht in der Lage ist, sich neben der Bewältigung der zumindest moralischen Verantwortung für den Tod seiner Kinder und den damit zweifellos verbundenen Verlust- und Schuldgefühlen auch mit dem strafrechtlichen Tatvorwurf umfassend und sachgerecht auseinanderzusetzen.

Pflichti II: Dauer der Pflichtverteidigerbestellung, oder: Aussetzung der HV macht kein neues Verfahren

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Die zweite „Pflichti-Entscheidung kommt dann mit dem BGH, Beschl. v. 02.10.2025 – StB 49/25 – auch „von ganz oben.

Ergangen ist der Beschluss in einem beim OLG München anhängigen Verfahren. In dem sind am 30.09.2024 dem Angeklagten der vormalige Wahlverteidiger Rechtsanwalt H. und die von ihm benannte Rechtsanwältin S. als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens hat das OLG am 16.01.2025 erstmals mit der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten und Mitangeklagte begonnen. Am 17.04.2025 hat es aufgrund Reise- und Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten das Verfahren gegen ihn abgetrennt und die Hauptverhandlung ausgesetzt. Mit Verfügung vom 05.08.2025 hat der Senatsvorsitzende neuen Termin zur Hauptverhandlung auf den 06.10.2025 und 35 Fortsetzungstermine bis zum 30.01.2026 bestimmt.

Mit Schriftsatz vom 12.08.2025 hat Rechtsanwältin R. die Verteidigung und Vertretung des Angeklagten angezeigt. Mit ihrem Schriftsatz vom 18.08.2025 hat der Angeklagte den Antrag gestellt, die Bestellung von Rechtsanwältin S. aufzuheben und Rechtsanwältin R. selbst als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Rechtsanwältin S. hat mit Schriftsatz vom 22.08.2025 mitgeteilt, sie habe zu keinem Zeitpunkt ein Einverständnis zu ihrer Entpflichtung erteilt.

Mit Beschluss vom 29.08.2025 hat das OLG den Antrag des Angeklagten abgelehnt. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Angeklagten. Diese hatte keinen Erfolg:

„Die gemäß § 143a Abs. 4, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1, § 32a Abs. 3 Satz 2, § 311 Abs. 1 und 2 StPO) sofortige Beschwerde ist unbegründet. Der zur Entscheidung berufene Vorsitzende des mit der Sache befassten Strafsenats des Oberlandesgerichts (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO) hat den Antrag auf Aufhebung der Beiordnung von Rechtsanwältin S. unter gleichzeitiger Bestellung von Rechtsanwältin R. als Pflichtverteidigerin beanstandungsfrei abgelehnt.

1. Die Bestellung der Rechtsanwälte H. und S. ist – entgegen dem Beschwerdevorbringen – nicht mit der Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten oder der Aussetzung der Hauptverhandlung gegen ihn beendet.

Nach § 143 Abs. 1 StPO endet die Bestellung eines Pflichtverteidigers mit der Einstellung oder dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens. Da das Verfahren hier nicht abgeschlossen und insbesondere nicht durch Abtrennung oder Aussetzung beendet ist, wirkt die Bestellung der Pflichtverteidiger fort:

Die Staatsanwaltschaft kann einzelne Strafsachen gegen verschiedene Beschuldigte zu einem einheitlichen Ermittlungsverfahren verbinden und gemeinsam anklagen, wenn zwischen den Sachen ein Zusammenhang besteht (§ 3 StPO), etwa die Vorwürfe auf einem einheitlichen Lebenssachverhalt beruhen (s. Meyer-Goßner, NStZ 2004, 353, 355, 358; LR/Claus/Erb/Nicknig, StPO, 28. Aufl., § 2 Rn. 5). Werden sie nach Eröffnung des Hauptverfahrens und Zulassung der Anklage getrennt (vgl. § 4 Abs. 1 StPO als Regelung im Zusammenhang mit der sachlichen Zuständigkeit), indem das Verfahren gegen einen Angeklagten aus dem Verbund abgetrennt wird, handelt es sich weiterhin um die nämliche gegen diesen Angeklagten – nunmehr prozessual selbständig – betriebene Sache (vgl. Rotsch/Sahan, JA 2005, 801, 804; HK-GS/Bosbach, StPO, 5. Aufl., § 4 Rn. 9; KK-StPO/Geilhorn, 9. Aufl., § 4 Rn. 13; LR/Claus/Erb/Nicknig aaO, § 4 Rn. 30; Schmitt/Köhler/Schmitt, StPO, 68. Aufl., § 4 Rn. 11; SK-StPO/Weßlau/Weißer, 5. Aufl., § 2 Rn. 1, 19, § 4 Rn. 10), somit im Hinblick auf ihn um die Fortsetzung des vorausgegangenen Verfahrens. Mit der Aussetzung der Hauptverhandlung (nicht des Verfahrens) nach § 228 Abs. 1 Satz 1 StPO wird der Prozess in den Stand zurückversetzt, den er nach Zulassung der Anklage hatte, so dass die Hauptverhandlung neu beginnen muss (vgl. MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 228 Rn. 3, § 229 Rn. 36); die Aussetzung der Hauptverhandlung bewirkt hingegen kein neues Verfahren.

Der Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt H. ist mithin gegenstandslos, weil dieser aus den dargelegten Gründen weiterhin Pflichtverteidiger des Angeklagten ist. Der Antrag kann mit der Beschwerde nicht erfolgreich weiterverfolgt werden.

2. Die Voraussetzungen eines Pflichtverteidigerwechsels nach § 143a Abs. 2 Satz 1 StPO sind nicht erfüllt.

a) Anhaltspunkte dafür, dass Rechtsanwältin S. aus in ihrer Person liegenden Gründen daran gehindert sein könnte, die Verteidigung ordnungsgemäß zu führen (§ 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alternative 2 StPO), liegen nicht vor.

b) Für eine schwerwiegende und endgültige Erschütterung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Angeklagten und seiner gegenwärtigen Pflichtverteidigerin, die gemäß § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alternative 1 StPO einen Pflichtverteidigerwechsel gebieten könnte (vgl. insofern BGH, Beschluss vom 12. März 2024 − StB 16/24, NStZ-RR 2024, 155, 156 mwN), ist nichts ersichtlich. Solches ist von dem Beschwerdeführer auch nicht vorgetragen worden. Sein pauschales Vorbringen, es handele sich bei den Rechtsanwälten H. und R. um die Verteidiger seines Vertrauens und er wünsche eine Verteidigung durch Rechtsanwältin S. nicht (mehr), genügt insofern nicht.

3. Ein konsensualer Pflichtverteidigerwechsel (vgl. BGH, Beschluss vom 10. August 2023 − StB 49/23, NStZ 2024, 310 Rn. 4 ff.) scheidet schon deshalb aus, weil es an einer diesbezüglichen Einverständniserklärung von Rechtsanwältin S. fehlt.“