Archiv der Kategorie: StPO

KCanG I: Gesetzesänderung nach Berufungs-Urteil, oder: Schuldspruchänderung und mildere Strafe

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Und heute dann mal wieder KCanG. Es haben sich einige Entscheidungen angesammelt, nichts Besonderes, aber ich stelle sie der Vollständigkeite halber dann doch vor.

Hier kommt dann zunächst der KG, Beschl. v. 17.05.2024 – 3 ORs 32/24 – schon etwas älter, aber er ist jetzt erst „geliefert“ worden. Es geh noch einmal um eine Schuldspruchänderung bei Gesetzesänderung nach Berufungsentscheidung.

Das AG hat den Angeklagten mit Urteil vom 30.11.2022 unter Freispruch im Übrigen wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen gemäß §§ 1 Abs. 3, 29 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 BtMG, 53 StGB zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Auf die vom Angeklagten eingelegte und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung hat das Landgericht das Urteil des Amtsgerichts Urteil vom 28.08.2023 im Rechtsfolgenausspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte pp. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat verurteilt wird, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.

Dagegen nun die Revision, über die dann das KG entschieden hat. Das KG hat das angefochtene Urteil im Schuldspruch dahingehend neu gefasst, dass der Angeklagte wegen unerlaubten Handeltreibens mit Cannabis in zwei Fällen (§§ 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG, 53 StGB) verurteilt ist, und im Strafausspruch aufgehoben und dann zurückverwiesen.

Hier reichen nur die Leitsätze zu der Entscheidung, nämlich:

1. Im Verhältnis zu § 29 Abs. 3 BtMG ist § 34 Abs. 3 BtMG das mildere Gesetz im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB.

2. Eine Gesetzesänderung ist in jeder Lage des Verfahrens – vom Revisionsgericht jedenfalls auf die allgemeine Sachrüge – zu berücksichtigen.

3. Ist eine den Angeklagten im anzuwendenden Strafrahmen begünstigende Rechtsänderung nach Erlass des Berufungsurteils eingetreten, führt dies zur Aufhebung der Rechtsfolgenentscheidung.

4. Da das mildere Gesetz als Ganzes anzuwenden ist, führt dies – auch im Falle einer an sich nach § 318 StPO wirksamen Beschränkung der Berufung – zur Aufhebung Schuldspruchs.

5. Im Falle einer wirksamen Berufungsbeschränkung kann der Schuldspruch durch das Revisionsgericht neu gefasst werden.

Dolmetscher II: Übersetzer im Vollstreckungsverfahren, oder: Es gelten die allgemeinen Regeln

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

In der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, geht es um Zuziehung eines Dolmetschers im Strafvollstreckungsverfahren. Folgender Sachverhalt:

Der Verurteilte ist litauischer Staatsangehöriger und der deutschen Sprache nicht mächtig. Er verbüßte eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Die bedingte Entlassung zum Zweidrittelzeitpunkt lehnte die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 07.12.2022 ab.

Diesem Beschluss war am 30.11.2022 die mündliche Anhörung des Verurteilten vorausgegangen. Den Termin hatte die Strafvollstreckungskammer mit dem Verteidiger abgestimmt. Der Verteidiger hatte angekündigt, einen Dolmetscher mitbringen zu wollen. Es war insoweit vereinbart worden, dass die Staatskasse die anteiligen Kosten für den Dolmetscher übernehme, sofern dieser auch zu der gerichtlichen Anhörung hinzugezogen werde. Die Dolmetscherleistungen, die die mündliche Anhörung des Verurteilten betrafen, wurden gegenüber dem Gericht geltend gemacht und durch die Staatskasse beglichen.

Gestritten wird nun noch um weitere Auslagen in Höhe von 361,24 EUR. Diese betreffen die Dolmetscherkosten für das im Vorfeld der Anhörung geführte Gespräch zwischen dem Verurteilten und seinem Verteidiger. Die Strafvollstreckungskammer insoweit hat den Festsetzungsantrag abgelehnt. Dagegen hat der Verteidiger für den Verurteilten sofortige Beschwerde eingelegt. Diese hatte beim OLG mit dem OLG Koblenz, Beschl. v. 30.08.2024 – 2 Ws 413/23 – Erfolg:

„c) …. Die angegriffene Entscheidung erweist sich indes in der Sache im Wesentlichen als fehlerhaft.

aa) Die Kammer ist noch zutreffend davon ausgegangen, dass sich ein Anspruch auf Erstattung der Dolmetscherkosten für das Vorgespräch mit dem Verteidiger mangels Ver-handlung nicht aus § 185 GVG herleiten lassen kann.

bb) Auch aus § 187 GVG lässt sich ein Anspruch auf Erstattung der Dolmetscherkosten für ein Verteidigergespräch nicht ableiten, da die Vorschrift nur regelt, unter welchen Voraussetzungen das Gericht verpflichtet ist, einen Dolmetscher für den Verurteilten heranzuziehen. Hier geht es indes um die Erstattungsfähigkeit derjenigen Kosten, die dadurch entstanden sind, dass der Verteidiger für das Mandantengespräch mit dem Verurteilten einen Dolmetscher hinzugezogen hat.

cc) Ein Anspruch auf Erstattung der Dolmetscherkosten ergibt sich auch nicht aus Art. 6 Abs. 3 lit e) EMRK. Nach dieser Vorschrift hat jede angeklagte Person das Recht, unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht. Die Vorschrift, die als Berechtigten die „angeklagte Person“ benennt, ist auf das Strafvollstreckungsverfahren nicht anwendbar (OLG Karlsruhe, 2 Ws 300/19 v. 2.9.2019, BeckRS 2019, 44105 Rn. 9 m.w.N.; BeckOK StPO/Valerius, 52. Ed. 1.7.2024, EMRK Art. 6 Rn. 2; Karpenstein/Mayer/Meyer, 3. Aufl. 2022, EMRK Art. 6 Rn. 37).

dd) Ein Anspruch auf Erstattung der Dolmetscherkosten für das Gespräch mit dem Verteidiger, das die Anhörung vor der Entscheidung über eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung vorbereiten soll, ergibt sich aber unmittelbar aus Art. 3 Abs. 3 GG.

Jeder Ausländer hat im Verfahren vor Gerichten der Bundesrepublik Deutschland dieselben prozessualen Grundrechte und denselben Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren wie jeder Deutsche. Das Recht auf ein faires Verfahren verbietet es, den der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtigen Angeklagten zu einem unverstandenen Objekt des Verfahrens herabzuwürdigen; er muss in die Lage versetzt werden, die ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensvorgänge zu verstehen und sich im Verfahren verständlich machen zu können (BVerfG, 2 BI« 2032/01 v. 27.8.2003, NJW 2004, 50).

Art. 3 Abs. 3 GG verbietet jede Diskriminierung wegen der Sprache oder anderer dort auf-geführter Merkmale. Die Norm verstärkt den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, indem sie der dem Gesetzgeber darin eingeräumten Gestaltungsfreiheit engere Grenzen zieht. Die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Merkmale dürfen grundsätzlich weder unmittelbar noch mittelbar als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Dem Beschuldigten, der die Gerichtssprache nicht versteht oder sich nicht in ihr ausdrücken kann, dürfen daher keine Nachteile im Vergleich zu einem dieser Sprache kundigen Beschuldigten entstehen. Dementsprechend ist für das Ermittlungs- und Erkenntnisverfahren in Ausfüllung dieser Maßstäbe anerkannt, dass der fremdsprachige Angeklagte zum Ausgleich seiner sprachbedingten Nachteile in jedem Verfahrensstadium einen Dolmetscher hinzuziehen darf und ihm die Dolmetscherkosten für die erforderlichen Mandantengespräche nicht nur mit dem Pflichtverteidiger, sondern auch mit einem Wahlverteidiger zu ersetzen sind (BGH, 3 StR 6/00 v. 26.10.2000, NJW 2001, 309; OLG Karlsruhe 2 Ws 305/09 v. 9.9.2009, BeckRS 2009, 139810 Rn. 4 Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 464a, Rn. 9). Die unentgeltliche Beistandsleistung eines Dolmetschers auch für die vorbereitenden Gespräche mit dem Verteidiger ist unabdingbar, da eine wirksame Verteidigung und damit ein faires Verfahren ohne vorbereitende Verteidigergespräche kaum denkbar sind (BVerfG, a.a.O.). Das mit den zusätzlichen Dolmetscher-kosten erhöhte Kostenrisiko soll den Verurteilten auch nicht an der Zuziehung eines Verteidigers hindern (BVerfG, a.a.O.; Brandenburgisches Oberlandesgericht, 1 Ws 83/05 v. 27.7.2005, BeckRS 2005, 30360540).

Diese Grundsätze finden auch auf den vorliegenden Fall Anwendung, bei dem es im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens um die Vorbereitung der Entscheidung über die bedingte Entlassung nach § 57 Abs. 1 StGB geht. Auch hier verbietet sich gerade in Anbetracht der unmittelbaren Grundrechtsrelevanz (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) der anstehenden Entscheidung, bei der es um die Frage geht, ob der Verurteilte zum Halb- oder Zweidrittelzeitpunkt auf freien Fuß gelangt, einen fremdsprachigen Verurteilten im Verhältnis zu einem der deutschen Sprache mächtigen Verurteilten auf Grund seiner fehlenden Sprachkenntnisse ungleich zu behandeln (LG Dresden, 3 Qs 11/19 v. 8.4.2019, Rn. 28, juris; LG Kassel, 3 StVK 62/12 v. 29.1.2019, juris).

Dies gilt auch für das vorbereitende Gespräch mit seinem Verteidiger. Würde man einem fremdsprachigen Verurteilten die Erstattung von Dolmetscherkosten für dieses Gespräch mit seinem Verteidiger verweigern, so stünde er schlechter als ein deutschsprachiger. Beiden stünde zwar gleichermaßen das in § 137 Abs. 1 StPO normierte Recht zu, sich in jeder Lage des Verfahrens – wozu insoweit auch das Strafvollstreckungsverfahren gehört (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 137 Rn. 2 m.w.N.; BeckOK StPO/Wessing, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 137 Rn. 2) – des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen. Dabei muss ein Verurteilter – soll dieses Recht nicht leerlaufen – die Möglichkeit haben, sich in Vorbereitung der Anhörung mit dem Verteidiger zu besprechen. Dem deutschsprachigen Verurteilten ist dies möglich, ohne dass ihm zusätzliche Kosten durch Dolmetscherleistungen entstehen. Der Verurteilte, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, kann dieses Gespräch nur führen, wenn er einen Dolmetscher hinzuzieht, was mit weiteren Kosten verbunden ist. Würden man nunmehr dem der deutschen Sprache nicht mächtigen Verurteilten die Erstattung dieser Kosten verweigern, würde er allein auf Grund seiner Sprache schlechter gestellt sein, als ein deutschsprachiger Verurteilter, ohne dass ein sachlicher Grund vorläge (so auch Volpert in Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 3. Auflage 2021, 7. Strafvollstreckung Rn. 54).

Um eine solche Ungleichbehandlung zu vermeiden, ist dem Verurteilten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, jedenfalls im Verfahren über die Reststrafenaussetzung nach § 57 StGB ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Hinzuziehung eines Dolmetschers zu dem die Anhörung vorbereitenden Gespräch mit dem Verteidiger zuzuerkennen (so auch LG Dresden, a.a.O.). Die Inanspruchnahme eines Dolmetschers für Mandantengespräche durch einen Verteidiger ist nicht von der vorherigen Bewilligung durch das Tatgericht abhängig (OLG Karlsruhe, a.a.O.; BVerfG, a.a.O.).

Dementsprechend kann der Verurteilte hier dem Grunde nach Ausgleichung der verfahrens-gegenständlichen Auslagen verlangen.

d) Bedenken gegen die in Ansatz gebrachten Kosten der Höhe nach bestehen in Bezug auf die Einzelpositionen nicht, zumal die geltend gemachten Dolmetscher- und Fahrkosten den JVEG-Sätzen entsprechen.

……“

Dolmetscher I: Anhören aufgezeichneter Gespräche, oder: Wenn der Verteidiger nicht russisch spricht

Bild von Tessa Kavanagh auf Pixabay

Heute beginnt dann die 40 KW., in die ich mit zwei Entscheidungen zu Dolmetscherfragen starte.

Ich stelle zunächst den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 02.09.2024 – 18 Qs 41/24 – vor. Gestritten wird um den Anspruch des/der Beschuldigten auf Beiordnung eines Dolmetschers gemäß § 187 Abs. 1 GVG. Die russischsprachige Beschuldigte möchte, dass, ihrem (wohl) nicht der russischen Sprache mächtigen Verteidiger bei durch ihn in ihrer Abwesenheit erfolgendem Anhören aufgezeichneter Gespräche in russischer Sprache – mithin bei deren Inaugenscheinnahme als Form der Besichtigung amtlich verwahrter Beweisstücke gemäß § 147 Abs. 1 StPO – auf Staatskosten ein Dolmetscher (oder Sprachsachverständiger) zur Verfügung gestellt werden, damit ihr Verteidiger den Inhalt der aufgezeichneten Gespräche verstehen und nachvollziehen könne.

Das LG äußert sich zunächst zum richtigen Weg -insofern ist die Entscheidung für all diejenigen interessant, die sich mit der Frage immer wieder schwer tun. Das LG lässt die Frage dann aber offen, denn:

„2. Letztlich kann diese Frage – Antrag auf Beiordnung oder auf Feststellung der Erforderlichkeit – hier dahinstehen, weil ein Anspruch auf – in diesem Sinne gesonderte – Beiordnung eines Dolmetschers im vorliegenden Fall nicht besteht. Zur Ausübung ihrer strafprozessualen Rechte (Akteneinsicht gemäß § 147 Abs. 1 StPO durch ihren Verteidiger, Erörterung des Inhaltes der Gespräche mit diesem und anschließender Vortrag gegenüber den Ermittlungsbehörden) ist die (gesonderte) Heranziehung eines (zusätzlichen) Dolmetschers oder Übersetzers nicht erforderlich. Bei sachgerechter Verfahrensweise würde die Beschwerdeführerin über ihren Verteidiger beantragen, die Gespräche gemeinsam mit diesem anzuhören, deren Inhalt unter Zuhilfenahme des gleichzeitig anwesenden und bereits beigeordneten Dolmetschers erörtern und im Anschluss zu den Gesprächen über ihren Verteidiger vortragen lassen.

a) aa) § 187 Abs. 1 GVG begründet nach den Vorgaben von Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK unabhängig von der finanziellen Lage des fremdsprachigen Beschuldigten oder Verurteilten einen von Amts wegen zu beachtenden Anspruch auf unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers für das gesamte Strafverfahren, auch außerhalb der Hauptverhandlung und damit auch für vorbereitende Gespräche mit dem Verteidiger, unabhängig davon, ob es sich um einen Wahl- oder einen Pflichtverteidiger handelt. Der Anspruch nach § 187 Abs. 1 S. 1 GVG ist aber auf das zur Wahrnehmung der strafprozessualen Rechte Erforderliche beschränkt (vgl. KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, GVG § 187 Rn. 1 m. w. N.). Die Bestimmung von Art und Umfang der zur Wahrnehmung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten als erforderlich anzunehmenden Dolmetscher- und Übersetzungsleistung obliegt dem für die Hinzuziehung zuständigen Gericht unter besonderer Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls (vgl. Simon in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2022, § 187 GVG, Rn. 4; Kissel/Mayer/Mayer, 10. Aufl. 2021, GVG § 187 Rn. 14).

Seine eigentliche Bedeutung gewinnt § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG in den Fällen, in denen es über die unmittelbare gegenseitige Verständigung mit den Strafverfolgungsorganen hinaus allgemein um die Unterstützung des Beschuldigten bei der Ausübung seiner strafprozessualen Rechte geht. Soweit erforderlich, hat das Gericht einen Dolmetscher oder Übersetzer danach auch für interne Besprechungen der sprachunkundigen Person mit ihrem Verteidiger oder Beistand heranzuziehen, ebenso für die Vorbereitung und Formulierung von Prozesserklärungen, Anträgen und sonstigen Eingaben, z. B. schriftlichen Einlassungen, Anträgen auf Beweiserhebungen, Anschlusserklärungen, Adhäsionsanträgen, Rechtsmittelschriften (vgl. Kissel/Mayer/Mayer, a. a. O. Rn. 6). Ein Dolmetscher ist etwa erforderlich, wenn zu befürchten ist, der Sprachunkundige könne sich dem Verteidiger bzw. dem Beistand nicht vollständig mitteilen oder umgekehrt dessen Erklärungen nicht vollständig zur Kenntnis nehmen. Gleichermaßen ist ein Übersetzer erforderlich, wenn es (lediglich) auf die Kenntnis des Inhalts eines Schriftstücks ankommt, den vollständig zu erfassen die Person aber nicht in der Lage ist (vgl. Kissel/Mayer/Mayer, a. a. O. Rn. 14).

bb) Der Verteidiger ist befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen (§ 147 Abs. 1 StPO). Dem Wortlaut des § 147 Abs. 4 Satz 1 StPO entsprechend ist nur der unverteidigte Beschuldigte in entsprechender Anwendung der Absätze 1 bis 3 des § 147 StPO befugt, die Akten einzusehen und unter Aufsicht amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. Das Recht auf Einsicht in die Akten und Beweismittel konkretisiert den Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und ist zur Verwirklichung der Rechte aus Art. 6 EMRK und aus dem Rechtsstaatsprinzip zwingend erforderlich (vgl. MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 147 Rn. 1). Der Verteidiger nimmt insoweit nicht eigene, sondern strafprozessuale Rechte des Beschuldigten wahr.

Bei den Originalaufzeichnungen einer Telefonüberwachung handelt es sich – jedenfalls soweit sie noch auf einem Server der Ermittlungsbehörde originär gespeichert sind – um Augenscheinsobjekte und damit um Beweisstücke, die nur am Ort der amtlichen Verwahrung besichtigt bzw. bei Tonaufzeichnungen angehört werden dürfen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2014 – 1 StR 355/13; OLG Frankfurt, Beschluss vom 13. September 2013 – 3 Ws 897/13; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 2 Ws 146/12; OLG Stuttgart, Beschluss vom 3. Dezember 2012 – 2 Ws 295/12; OLG Frankfurt, Beschluss vom 13. September 2001 – 3 Ws 853/01; LG Regensburg, Beschluss vom 24. Juli 2017 – 6 Qs 29/17)

Von einer ausreichenden Gewährung des Rechts auf Akteneinsicht und Besichtigung dieser amtlich verwahrten Beweisstücke ist auszugehen, wenn der Verteidigung die Möglichkeit eingeräumt wird, sich aufgezeichnete Telefongespräche in den Räumlichkeiten der Justizbehörden oder der Polizei anzuhören, erforderlichenfalls auch mehrfach und unter Hinzuziehung von Dolmetschern sowie gegebenenfalls auch zusammen mit dem Beschuldigten (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2014 – 1 StR 355/13; OLG Celle, Beschluss vom 5. Juli 2016 – 2 Ws 114/16). Ein dem Art. 6 Abs. 3 EMRK entsprechendes Verfahren gebietet es, dass nicht nur der Verteidiger, sondern auch der Beschuldigte die in diesem Verfahren relevanten Gespräche als amtlich verwahrtes Beweisstück im Sinne des § 147 Abs.1 StPO „besichtigen“ kann. Der Umfang von Gesprächen, deren oftmals schlechte Qualität sowie der Umstand, dass die Gespräche nicht auf Deutsch geführt sind, können es notwendig machen, dass der Beschuldigte selbst Gelegenheit erhält, sich zur Vorbereitung eines Mandantengesprächs die Telefonate anzuhören (vgl. LG Düsseldorf, Verfügung vom 17. Januar 2008 – 11 KLs 60 Js 1789/07 – 28/07; BeckOK StPO/Wessing, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 147 Rn. 26; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., 2001, Rdnr. 19 zu § 147; Jahn in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27., neu bearbeitete Auflage 2021, § 147 StPO, Rn. 126). So darf der Verteidiger Tonbandaufzeichnungen über eine Telefonüberwachung nicht nur unter Hinzuziehung eines vereidigten Dolmetschers, sondern auch im Beisein des Beschuldigten anhören, wenn für den Verteidiger ohne Beteiligung des Beschuldigten die Aufzeichnungen nicht hinreichend verständlich sind und nur mit dessen Hilfe zu klären ist, welche Stimmen wem zuzuordnen sind, ob Verwechslungen stattgefunden und welchen Sinngehalt bestimmte Äußerungen haben (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 30. September 1994 – 2 Ws 400/94; OLG Frankfurt, Beschluss vom 13. September 2001 – 3 Ws 853/01).

b) Die hier in Rede stehenden strafprozessualen Rechte der Beschwerdeführerin bestehen bei lebensnaher Betrachtung vorliegend darin, dass ihrem Verteidiger nach den obigen Vorgaben die Möglichkeit gewährt wird, sich die noch auf einem Server der Ermittlungsbehörde originär gespeicherten und nicht auf einem gesonderten Datenträger vervielfältigten Originalaufzeichnungen als Beweisstücke anzuhören und dass die Beschwerdeführerin aufgrund der Fremdsprachigkeit und möglicherweise schwerer Verständlichkeit des Zusammenhangs, in dem die Gespräche stehen, die Gelegenheit erhält, sich diese Gespräche gemeinsam mit ihrem Verteidiger anzuhören, um ein zeitgleich in diesem Zusammenhang geführtes Mandantengespräch vorbereiten und durchführen zu können, und letztlich eine Verteidigungsschrift fertigen zu lassen. Für die Ausübung dieser strafprozessualen Rechte bedarf es allerdings nicht der (zusätzlichen) Beiordnung eines Dolmetschers für die russische Sprache. Dieses ist zur Ausübung ihrer strafprozessualen Rechte – anders als es § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG voraussetzt – nicht erforderlich. Der Verteidiger hat lediglich „uneingeschränkten Zugang zu den aufgezeichneten Gesprächen im Original sowie die Genehmigung, diese Gespräche ggfls. gemeinsam mit einem Dolmetscher zur Kenntnis nehmen zu können“ beantragt. Die (rechtliche) Möglichkeit, sich die aufgezeichneten Telefongespräche in den Räumlichkeiten der Justizbehörden oder der Polizei gemeinsam anzuhören, erwog er weder erkennbar noch stellte er einen entsprechenden Antrag. Anlässlich eines solchen Termins, bei dem auch der der Beschwerdeführerin bereits am 06.08.2024 für Verteidigergespräche beigeordnete Dolmetscher antragsweise zugegen wäre, könnten die in russischer Sprache geführten Gespräche von der Beschuldigten gehört und im Rahmen eines gleichzeitig unter Zuhilfenahme des beigeordneten Dolmetschers geführten Mandantengesprächs zwischen der Beschuldigten und ihrem Verteidiger erörtert werden. Hernach wäre es der Beschuldigten über ihren Verteidiger ohne Weiteres möglich vorzutragen, ob und inwiefern einzelne Gespräche durch die Ermittlungsbehörden inhaltlich falsch bewertet worden sein könnten. Der Verteidiger mag ein persönliches Interesse daran haben, unabhängig von den ihm gegenüber abgegebenen Erklärungen der Beschuldigten zum Inhalt der Gespräche im Rahmen einer zusätzlichen Übersetzung durch einen Sprachsachverständigen die Richtigkeit ihrer Äußerungen zu überprüfen. Für die Ausübung der strafprozessualen Rechte der Beschuldigten selbst ist dieses jedoch nicht erforderlich.

2. Unabhängig hiervon hätten die Beschwerdeführerin und ihr Verteidiger – wie die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg und das Amtsgericht Nürnberg zutreffend ausgeführt haben – keinen Anspruch darauf, sämtliche im Rahmen der Telefonüberwachung aufgezeichnete, in russischer Sprache geführte Telefongespräche in Übersetzung zur Verfügung gestellt zu bekommen (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 30. Juni 1995 – 1 Ws 322/95). Ein solcher ergibt sich auch nicht aus § 147 Abs. 1 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2007 – 3 StR 404/07). Ein Anspruch auf Erstellung weiterer Aktenteile besteht nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2014 – 1 StR 355/13).

3. Die durch die Beschwerde vorgetragenen Argumente rechtfertigen keine andere Betrachtung.

Der Einwand, bei sinngemäßen Wiedergaben könnten der wesentliche Inhalt und der Kontext, sowie die Nuancen der Gespräche verloren gehen, was eine fundierte und faire Beurteilung des Inhalts erschwere, ist nach kriminalistischer Erfahrung zutreffend. Wortprotokolle (hier in Form einer Übersetzung) können insoweit einen detailreicheren Inhalt und höheren Beweiswert haben. Allerdings besteht zum einen nach dem Dargelegten kein Anspruch der Beschwerdeführerin auf die Fertigung und Vorlage von Wortprotokollen, zum anderen wird erfahrungsgemäß häufig auch deren Inhalt mit der gleichen Begründung beanstandet. Selbst wenn in der vom Verteidiger beabsichtigten Vorgehensweise (Anhören der Gespräche in Anwesenheit eines – beigeordneten oder für erforderlich erklärten – Sprachmittlers und Übersetzung durch diesen) verfahren würde, wäre nicht ausgeschlossen, dass die Beschwerdeführerin auch die Richtigkeit dieser Übersetzung beanstanden würde.

Der Verweis auf § 168b StPO, nach dessen Absatz 1 das Ergebnis von Untersuchungshandlungen aktenkundig zu machen ist, geht fehl. Die (durchgeführte) ermittlungsbehördliche Maßnahme besteht in der Überwachung der Telekommunikation und der Übersetzung einzelner Gespräche in der geschehenen Art und Weise. Dieses ist in den Akten dokumentiert. Aus § 168b StPO kann – anders als die Beschwerde meint – kein „Recht auf eine umfassende Aufklärung der Tatsachen“ abgeleitet werden, wozu „die vollständige und wortgetreue Übersetzung der abgehörten Gespräche“ gehöre. Im Übrigen berührt dieses auch nicht die Frage, ob in dem beantragten Sinne ein weiterer Sprachmittler nach § 187 Abs. 1 GVG als erforderlich anzusehen ist.

Aus Art. 6 EMRK ergibt sich kein Anlass für eine anderslautende Entscheidung. Gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. e hat jede angeklagte Person das Recht, unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht. Im deutschen Recht ist der Umfang der nötigen Übersetzungen nunmehr in Umsetzung der EU-Richtlinie 2010/64/EU in § 187 GVG geregelt (vgl. KK-StPO/Lohse/Jakobs, 9. Aufl. 2023, MRK Art. 6 Rn. 116), dem folgend allerdings – nach dem Dargelegten – eine Beiziehung nicht erforderlich ist. Für die Verständigung zwischen verdächtigen oder beschuldigten Personen und ihrem Rechtsbeistand sollen Dolmetschleistungen gemäß der EU-Richtlinie 2010/64/EU vom 20.10.2010 zur Verfügung gestellt werden. Verdächtige oder beschuldigte Personen sollten unter anderem imstande sein, ihrem Rechtsbeistand ihre eigene Version des Sachverhalts zu schildern, auf Aussagen hinzuweisen, denen sie nicht zustimmen, und ihren Rechtsbeistand über Sachverhalte in Kenntnis zu setzen, die zu ihrer Verteidigung vorgebracht werden sollten (Ziffer 19). Nach dem Dargelegten wäre dieses der Beschwerdeführerin möglich, auch ohne dass der Verteidiger sich anlässlich der „Besichtigung“ der Gespräche diese übersetzen ließe.

Das vom fairen Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) implizierte Prinzip der Waffengleichheit ist nicht verletzt, wenn die Staatskasse nicht die Kosten dafür übernimmt, dass der Verteidiger beim – alleinigen – Anhören der Gespräche diese übersetzt erhält. Der Angeklagte bzw. die Verteidigung soll den Strafverfolgungsbehörden verfahrensrechtlich prinzipiell gleichgestellt sein (vgl. MüKoStPO/Gaede, 1. Aufl. 2018, EMRK Art. 6 Rn. 302 m. w. N.). Die „Waffengleichheit“ kann aber nur bezüglich solcher Information einen Auskunftsanspruch gegenüber der Ermittlungsbehörde begründen, die sie tatsächlich erhoben und gesammelt hat, hingegen begründet auch das Recht auf ein faires Verfahren keine Pflicht zur Aktenerweiterung (vgl. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 4. Januar 2021 – 202 ObOWi 1532/20; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. April 2024 – 2 ORbs 35 Ss 425/23; KG Berlin, Beschluss vom 17. April 2023 – 3 ORbs 78/23). Die Ermittlungsbehörden verfügen ihrerseits aber auch nur über die auf ihrem Server originär gespeicherten und nicht auf einem gesonderten Datenträger vervielfältigten Originalaufzeichnungen (zum Teil in russischer Sprache), die sich der Verteidiger im Rahmen der Akteneinsicht anhören kann, und über die in den Akten enthaltenen Gesprächszusammenfassungen, in die der Verteidiger bereits Einblick genommen hat. Das Verlangen nach Fertigung zusätzlicher Wortprotokolle stellte ein Begehren nach Aktenerweiterung dar, auf die kein Anspruch besteht.“

Sorry, ist ein wenig viel – und das gleich zum Wochenanfang. Ist aber leider unter den Aktenzeichen „18 Qs“ des LG Nürnberg-Fürth häufig der Fall und leider auch nicht immer richtig. So m.E. auch hier. M.E. lässt sich das mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht vereinbaren und auch nicht mit den Akteneinsichtsrecht des Verteidigers. Aber: Was will der Verteidiger nun tun? Rechtsmittel gibt es nicht. Er wird also jetzt nicht allein die Gespräche abhören, sondern die Beschuldigte mitnehmen müssen. Viel Spaß. Die Ermittlungsbehörden werden sich freuen.

News: Rechtsmittel-Handbuch, 3. Auflage, erschienen

Und dann zwischendurch News – in eigener Sache.. Zunächst aber mal:  <<Werbemodus an>>. Denn es ist ein Hinweisposting auf die soeben erschienene 3. Auflage von Burhoff (Hrsg.),  Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe. Was lange währt, wird dann dann doch/endlich gut. Es war ja zunächst nicht sicher, ob wir mit der 3. Auflage kommen, aber dann eben doch. Und dann ist es da und ich kann dann gleich den Schutzumschlag lösen 🙂 , was immer ein besonderes Ereignis ist.

Ich nehme dann dieses Posting zum Anlass, mich bei allen, die an der 3. Auflage beteiligt waren, zu bedanken für die reibungslose Zusammenarbeit. Das sind/waren die Autoren und die Mitarbeiter im Verlag, allen voran die Product-Managerin (früher nannte man das: Lektor/Lektorin 🙂 ). Es hat Spaß gemacht.

Und mit dem Erscheinen des Buches können alle, die das Werk vorbestellt haben, dass ihnen in den nächsten Tagen das Buch geliefert werden wird. Auch die „Widmungsexemplare“ kommen dann. Und alle die nicht vorbestellt haben, die können dann jetzt bestellen, und zwar wir immer hier auf der Bestellseite meiner Homepage, nämlich hier.

Wer die „Trilogie“ vorbestellt hat, muss sich leider noch etwas gedulden. Die drei Handbücher Ermittlungsverfahren, Hauptverhandlung, Rechtsmittel werden nach Erscheinen von Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlung geliefert. Also noch ein bisschen Geduld.

Und dann <<Werbemodus aus>> 🙂 .

Akten III: Kirchenrechtliches (Missbrauch)Verfahren, oder: Einsicht des Bistums in Ermittlungsakten?

entnommen wikimedia.org
By Radix81 – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=69468188

Und dann habe ich noch einen Beschluss vom BayObLG, und zwar den BayObLG, Beschl. v. 15.01.2024 – 204 VAs 177/23.

Der Beschluss hat folgenden Sachverhalt: Die Staatsanwaltschaft führte gegen den Antragsteller als Beschuldigten  ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vergewaltigung und der Verbreitung jugendpornografischer Inhalte gemäß § 177 Abs. 6 und Abs. 1, § 184c Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, § 53 StGB.

Das Generalvikariat des Bistums R. stellte daraufhin mit Schreiben vom 18.11.2022 Strafanzeige und Strafantrag gegen den Beschuldigten, einen Priester, und bat um Akteneinsicht mit der Begründung, die Ermittlungsergebnisse seien notwendig, um das kirchenrechtliche Verfahren durchführen zu können. Mit Bekanntwerden der Vorwürfe sei das kirchenrechtliche Vorverfahren eingeleitet worden. Der Priester sei bis zum Abschluss des Verfahrens von allen Aufgaben entbunden und ihm jegliche seelsorgerische Tätigkeit untersagt worden.

Laut Schlussvermerk der Kriminalpolizeiinspektion vom 16.01.2023 ergaben die Ermittlungen – nämlich die Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten sowie die Auswertung sichergestellter Datenträger – keine weiteren belastbaren Hinweise oder Erkenntnisse hinsichtlich der Tatvorwürfe. Der Tatnachweis hinsichtlich einer möglichen Vergewaltigung könne aus Sicht der Kriminalpolizei nicht geführt werden. Auf den sichergestellten Datenträgern hätten keine kinder- oder jugendpornografischen Dateien festgestellt werden können.

Mit Schreiben vom 09.02.2023 wiederholte das Generalvikariat des Bistums R. dann sein Akteneinsichtsgesuch. Mit Schreiben seines Verteidigers vom 24.02.2023 hat der Beschuldigte die ihm zur Last gelegten Vorwürfe bestritten.

Mit Verfügung vom 27.02.2023 bewilligte die Staatsanwaltschaft Akteneinsicht für das Bistum R., da ein berechtigtes Interesse hieran bestehe und keine schutzwürdigen Interessen entgegenstünden. Von der Akteneinsicht wurden ausdrücklich die Sonderhefte, welche Ausdrucke von Bildern enthalten, und die Lichtbilder (die sich offenbar auf der in der Akte befindlichen Blue-ray befinden) ausgenommen. Sie gab dem Beschuldigten Gelegenheit, innerhalb von 10 Tagen vor beabsichtigter Ausführung dieser Verfügung Einwände vorzubringen.

Mit Verfügung vom 01.03.2023 stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Zur Begründung führte sie aus, dass nach dem Ergebnis der durchgeführten Ermittlungen, insbesondere einer Durchsuchung am 15.11.2022, sich die Tatvorwürfe nicht bestätigt hätten. Die objektiven Beweismittel könnten einen hinreichenden Tatverdacht, mithin eine hinreichende Verurteilungswahrscheinlichkeit, nicht stützen. Hinweise, die den Tatnachweis einer Sexualstraftat zu begründen geeignet seien, hätten sich in keiner Weise ergeben. Hinsichtlich des Tatvorwurfs des Besitzes und/oder Verbreitens jugendpornografischer oder kinderpornografischer Inhalte hätten keine einschlägigen inkriminierten Dateien sichergestellt werden können. Das gelte auch für das zur Begründung des Durchsuchungsbeschlusses herangezogene Bild eines Jugendlichen, bei dem es sich noch nicht um ein vom Gesetzgeber als inkriminiert einzustufendes geschlechtsbezogenes jugendpornografisches Bild handle.

Am 07.03.2023 beantragte der Beschuldigte, dem Bistum R. Akteneinsicht zu verweigern, und stellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Ein berechtigtes Interesse des Bistums an der Akteneinsicht sei weder dargetan noch aus den Umständen ersichtlich. Wegen der sich in den Akten befindlichen intimen Details zu den sexuellen Vorlieben des Antragstellers – sofern man unterstellt, dass dieser der Nutzer des jeweiligen Accounts gewesen sei – ergebe sich ein überwiegendes Interesse des Antragstellers, Akteneinsicht gegenüber Dritten zu verweigern.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung des Beschuldigten hatte mit dem Beschluss vom 15.01.2024 Erfolg. Das BayOBLG hat die rechtlichen Voraussetzungen für eine Bewilligung von Akteneinsicht oder auch nur für eine Erteilung von Auskünften aus den Ermittlungsakten an das Generalvikariat des Bistums R. verneint, weshalb die Staatsanwaltschaft dem Generalvikariat zu Unrecht Akteneinsicht bewilligt hat.

Ich stelle hier jetzt nicht die fast 30 Seiten der Begründung ein – also ggf. selbst lesen – sondern beschränke mich auf die Leitsätze, die lauten:

1. Bistümer der römisch-katholischen Kirche können Einsicht in strafrechtliche Ermittlungsakten zur Durchführung eines kirchenrechtlichen Verfahrens gegen einen Priester grundsätzlich nur über § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO i.V.m. § 12 Abs. 2, § 13 Abs. 2 i.V.m. § 14 Abs. 1 Nr. 4 erhalten, wonach unter bestimmten Voraussetzungen von Amts wegen die Übermittlung von personenbezogenen Daten aus Strafverfahren an öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften zulässig ist.

2. Besteht bei einer Verfahrensbeendigung nach § 170 Abs. 2 StPO nicht einmal ein Restverdacht hinsichtlich der dem Ermittlungsverfahren zugrundeliegenden Tatvorwürfe, so kommt eine Akteneinsicht danach in der Regel nicht in Betracht.

3. Die Stellung öffentlich-rechtlicher Religionsgesellschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts (Art.140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV) bedeutet angesichts ihres verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstverwaltungsrechts (Art.?140 GG i.V.m. Art.?137 Abs. 3 WRV) und des Fehlens einer staatlichen Aufsicht einerseits sowie der religiösen und konfessionellen Neutralität des Staates nach dem Grundgesetz andererseits keine Gleichstellung mit anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, die ihre Betätigungsvollmacht vom Staate herleiten und in diesen eingegliederte Verbände sind, sondern nur die Zuerkennung eines öffentlichen Status.

4. Da öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften – von Ausnahmen im Einzelfall abgesehen – nicht in vergleichbarer Weise wie die öffentlich-rechtlichen Körperschaften des Bundes und der Länder hoheitlich tätig sind, handelt es sich bei ihnen weder um eine öffentliche Stelle des Bundes noch der Länder im Sinne der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 und 2 BDSG. Somit nimmt das Bistum der römisch-katholischen Kirche über den Regelungsbereich des § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO hinaus nicht den Rang einer öffentlichen Stelle i.S.d. § 474 Abs. 2 StPO oder gar eines Gerichts oder einer Justizbehörde i.S.d. § 474 Abs. 1 StPO ein.

5. Dies gilt auch dann, wenn das Bistum ein kirchenrechtliches Verfahren gegen einen Priester einleitet, da dieses den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten der Kirche betrifft. Somit wird es auch bei Ergreifung dienstrechtlicher Maßnahmen, die dem beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren wesensgleich sind, nicht vergleichbar einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft des Bundes und der Länder hoheitlich tätig.