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StPO I: Hinweispflicht nach Veränderung der Sachlage, oder: Hinweispflicht verletzt?

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Heute dann ein Bisschen zur StPO, und zwar dreimal vom BGH,.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 10.04.2024 – 5 StR 85/24 – zur Hinweispflicht nach § 265 StPO. Der Angeklagte hatte sich an einer körperlichen Auseinandersetzung beteiligt, bei der das Opfer durch Messerstiche getötet wurde. Im Vorfeld hatte sich der Zeuge B. mit dem Opfer zu einem Kampf verabredet und sich mit einem Küchenmesser bewaffnet. Der Angeklagte und andere Freunde begleiteten B. zum Treffpunkt. Während des Kampfes griff der Angeklagte das Opfer zuerst an, woraufhin B. das Opfer mit dem Messer verletzte, was letztlich zu dessen Tod führte.

Das LG Berlin verurteilte den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4, 227 Abs. 1 StGB) in Tateinheit mit Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231 Abs. 1 StGB). Der Angeklagte wurde als Mittäter angesehen, da er die Handlungen von B. unterstützte und billigte, insbesondere im Wissen um die Bewaffnung und die Todesdrohung von B.

Mit seiner Revision hat der Angeklagten eine Verletzung der Hinweispflicht nach § 265 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 StPO gerügt, allerdings ohne Erfolg:

„Die Verfahrensbeanstandung, mit der der Beschwerdeführer eine Verletzung der Hinweispflicht gemäß § 265 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 StPO rügt, hat keinen Erfolg.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

a) Mit Anklageschrift vom 26. Juli 2022 war dem Angeklagten zur Last gelegt worden, nach wechselseitigen Schlägen im Rahmen einer verabredeten körperlichen Auseinandersetzung, mit bedingtem Tötungsvorsatz den am Boden liegenden Geschädigten mindestens zweimal massiv mit einem Messer in den Oberkörper gestochen zu haben, wobei ein Stich das Herz traf und zum Tod führte. Nach dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen ergebe sich gegen den am Tatort ebenfalls anwesenden Zeugen B.    , obgleich er sich durch seinen Verteidiger dahingehend eingelassen habe, in Richtung des Geschädigten gestochen und diesen gegebenenfalls auch verletzt zu haben, kein dringender Tatverdacht. Nach den Angaben anderer Zeugen sei eine Einwirkungsmöglichkeit des Zeugen B.     auf den Geschädigten ausgeschlossen. Zudem lasse sich die aus dem Obduktionsgutachten ergebende Stichführung nur mit der Position des Angeklagten zum Geschädigten erklären. Dass am Griff des vermeintlichen Tatmessers eine Mischspur mit dominanten Anteilen des Zeugen B.     festgestellt werden konnte, ändere nichts an der Einschätzung, da auch Anteile der DNA des Angeklagten in der Spur enthalten gewesen seien.

Mit Beschluss vom 24. November 2022 hat die Strafkammer das Hauptverfahren eröffnet und zugleich den gegen den Angeklagten erlassenen Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 17. Januar 2022 aufgehoben, weil zwar ein hinreichender, jedoch kein dringender Tatverdacht bestehe. Denn nach dem Ergebnis der zur Anklage führenden Ermittlungen sei nicht auszuschließen, dass die Messerstiche durch den Zeugen B.     ausgeführt wurden, welcher sich zuvor mit dem Geschädigten gestritten, ihn zur Durchführung einer Schlägerei aufgefordert und dem er mit dem Tod gedroht habe. Zudem sei die DNA des Zeugen B.    , der einen Messereinsatz gegen den Geschädigten über seinen Rechtsanwalt eingeräumt hatte, am Griff der mutmaßlichen Tatwaffe gefunden worden.

Am 12. Hauptverhandlungstag, den 25. August 2023, erteilte der Vorsitzende dem Angeklagten folgenden rechtlichen Hinweis: „Der Angeklagte wird für den Fall, dass nicht festgestellt wird, dass er die zum Tode führenden Messerstiche ausgeführt hat, gem. § 265 StPO darauf hingewiesen, dass möglicherweise auch eine Verurteilung wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung mit Todesfolge, §§ 227, 25 Abs. 2 StGB, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, §§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 4 StGB, 25 Abs. 2 StGB, und mit Beteiligung an einer Schlägerei, § 231 StGB, in Betracht kommen kann.“

Am 14. Hauptverhandlungstag, den 14. September 2023, gab der Vorsitzende gemäß § 257b StPO bekannt, dass nach vorläufiger Bewertung der Beweisaufnahme die Strafkammer „nicht mit einer für eine Verurteilung notwendigen Sicherheit feststellen [könne], dass der Angeklagte die beiden Messerstiche eigenhändig gegen das Tatopfer geführt hat.“ Weitere Hinweise sind nicht erteilt worden.

b) Der Beschwerdeführer, der den Tatvorwurf bestritten und sich sonst nicht zur Sache eingelassen hat, ist der Auffassung, dass der ihm und seinem Verteidiger erteilte Hinweis sprachlich irreführend und inhaltlich unzureichend gewesen sei. Die tatsächliche Abweichung im Tatbild zwischen Anklagevorwurf und Urteil hätte durch Substantiierung des Hinweises förmlich bekannt gegeben werden müssen.

2. Die gesetzliche Hinweispflicht ist nicht verletzt.

a) Nach § 265 Abs. 1 StPO hat das Gericht einen förmlichen Hinweis zu erteilen, wenn infolge einer anderen rechtlichen Beurteilung bei gleichbleibendem Sachverhalt oder wegen neuer Erkenntnisse in tatsächlicher Hinsicht eine Verurteilung wegen eines anderen als dem in der Anklage bezeichneten Strafgesetzes in Betracht kommt. Der Hinweis muss eindeutig sein und den Angeklagten und seinen Verteidiger in die Lage versetzen, die Verteidigung auf den neuen rechtlichen Gesichtspunkt einzurichten. Daher muss für den Angeklagten und den Verteidiger aus dem Hinweis allein oder in Verbindung mit der zugelassenen Anklage nicht nur erkennbar sein, auf welches Strafgesetz nach Auffassung des Gerichts eine Verurteilung möglicherweise gestützt werden kann, sondern auch, durch welche Tatsachen das Gericht die gesetzlichen Merkmale des Straftatbestandes als möglicherweise erfüllt ansieht. Der Hinweis muss geeignet sein, dem Angeklagten Klarheit über die tatsächliche Grundlage des abweichenden rechtlichen Gesichtspunktes zu verschaffen und ihn vor einer Überraschungsentscheidung zu bewahren (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Mai 2021 – 3 StR 443/20 mwN; vom 13. Juli 2018 – 1 StR 34/18, NStZ 2018, 673, 674 f.; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl., § 265 Rn. 31; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 265 Rn. 73).

b) Der am 12. Hauptverhandlungstag vom Vorsitzenden der Strafkammer erteilte und protokollierte Hinweis erfüllte die genannten Anforderungen. Dieser bezeichnete die aus Sicht der Strafkammer abweichend von der zugelassenen Anklage in Betracht kommenden Straftatbestände, nach denen der Angeklagte sich bei Vorliegen einer bestimmt bezeichneten Sachverhaltsvariante schuldig gemacht haben könnte. Damit ist der gesetzlichen Hinweispflicht Genüge getan worden.

aa) Im Einzelfall kann bei einem Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO auch die bloße Bezeichnung der neu in Betracht kommenden Gesetzesbestimmungen ausreichen; dies gilt insbesondere bei unveränderter Sachlage, aber auch, wenn die tatsächlichen Grundlagen des neu in Betracht gezogenen Straftatbestandes für den Angeklagten ohne Weiteres zweifelsfrei ersichtlich sind (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2021 – 3 StR 443/20 mwN; Urteile vom 16. Oktober 1962 – 5 StR 276/62, BGHSt 18, 56, 57 f.; vom 3. November 1959 – 1 StR 425/59, BGHSt 13, 320, 324; BeckOK StPO/Eschelbach, 51. Ed., § 265 Rn. 18; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl., § 265 Rn. 31; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 265 Rn. 15b; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 265 Rn. 75). Letzteres ist hier der Fall gewesen.

bb) Die tatsächlichen Grundlagen der neu in Betracht gezogenen Straftatbestände waren für den (verteidigten) Angeklagten aufgrund des erteilten Hinweises zweifelsfrei ersichtlich. Die der geänderten rechtlichen Wertung der Strafkammer zugrundeliegenden tatsächlichen Annahmen ergaben sich aus der mit dem Eröffnungsbeschluss verbundenen Haftentscheidung. Diese zeigte einen alternativen Sachverhalt auf, wonach der Zeuge B.     die zum Tode führenden Messerstiche gegen den Geschädigten eigenhändig ausgeführt haben konnte. Hierdurch hat die Strafkammer die bereits in der Anklageschrift aufgeworfene Frage eines Messereinsatzes durch diesen Zeugen aufgegriffen und anders gewertet. Genau auf dieses Alternativgeschehen hat sich der rechtliche Hinweis am 12. Hauptverhandlungstag bezogen („für den Fall, dass nicht festgestellt wird, dass [der Angeklagte] die zum Tode führenden Messerstiche ausgeführt hat“). Durch die zusätzliche Erklärung des Vorsitzenden am 14. Hauptverhandlungstag über die – einen sachlichen Bezug zum erteilten Hinweis und der Haftentscheidung aufweisende – vorläufige Bewertung des Ergebnisses der Beweisaufnahme ist dem Angeklagten und seinem Verteidiger die für die Entscheidung des Landgerichts maßgebliche Tatsachenbasis nochmals verdeutlicht worden. Weitergehende Anforderungen ergaben sich gemessen am Sinn und Zweck des § 265 StPO, den Angeklagten vor Überraschungen zu bewahren (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2020 – GSSt 1/20, BGHSt 66, 20, 26), nicht.

Durch den mit Gesetz vom 17. August 2017 geschaffenen § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist der Umfang der Hinweispflicht nach § 265 Abs. 1 StPO nicht erweitert worden. Der Gesetzgeber hat insoweit an die ständige Rechtsprechung angeknüpft, wonach eine Veränderung der Sachlage eine Hinweispflicht auslöst, wenn sie in ihrem Gewicht einer Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts gleichsteht. Die durch den Bundesgerichtshof hierzu entwickelten Grundsätze sollten kodifiziert, weitergehende Hinweispflichten hingegen nicht eingeführt werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2024 – 6 StR 276/23, NJW 2024, 1595, 1597; vom 20. Mai 2021 – 3 StR 443/20; vom 24. Juli 2019 – 1 StR 185/19, NStZ 2020, 97 f.; Urteil vom 9. Mai 2019 – 1 StR 688/18; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl., § 265 Rn. 26; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 265 Rn. 50).“

StPO II: Hinweispflicht nach Veränderung der Sachlage, oder: Anforderungen an die Revisionsbegründung

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Als zweite Entscheidung dann der OLG Hamm, Beschl. v. 13.01.2022 – 5 RVs 4/22 – zur Hinweispflicht in den (neuen) Fällen des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO und zu den Anforderungen an die Revisionsbegründung.

Das AG hat den Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz verurteilt. Soweit es den Angeklagten verurteilt hat, hat es folgende Feststellungen getroffen: „Im Herbst 2019 fiel auf, dass der Angeklagte ein Auto auf seinen Namen angemeldet hatte. Insoweit entstand der Verdacht auf Seiten des Ausländeramtes A, dass der Angeklagte möglicherweise doch Papiere hatte, da diese für die Anmeldung des PKW üblicherweise vorgelegt werden müssen.“

Daher erwirkte das Ausländeramt A beim AG Gladbeck einen Durchsuchungsbeschluss, der am 19.09.2019 erteilt wurde für die Wohnung des Angeklagten, um Identifikationspapiere oder sonstige Urkunden und Unterlagen, die Hinweise auf die Identität oder Staatsangehörigkeit des Betroffenen geben könnten, aufzufinden und sicherzustellen. Der Durchsuchungsbeschluss wurde in der Hauptverhandlung.

Am 15.11.2019 begaben sich die Zeugen B und C zur Wohnung des Angeklagten und führten dort die Durchsuchung durch. Zuvor fragten sie den Angeklagten ausdrücklich danach, ob er im Besitz von Urkunden oder Identifikationsunterlagen wäre, was der Angeklagte verneinte. Im Rahmen der Durchsuchung wurde zunächst ein Führerschein des Angeklagten aufgefunden und bis zum Abschluss der Maßnahme in einer Mappe des Ausländeramtes abgelegt, um diesen sicherzustellen. Des Weiteren wurde eine auf Arabisch verfasste Urkunde aus dem Libanon aufgefunden, die sich später als Heiratsurkunde des Angeklagten herausstellte. Der Angeklagte, der dies bemerkte, riss den Zeugen die Heiratsurkunde aus der Hand, zerriss die Urkunde und warf die Fetzen der Urkunde aus dem Fenster der Wohnung. Fragmente der Urkunde sind sodann durch die Zeugin B sichergestellt worden und die Urkunde wurde weitestmöglich rekonstruiert und in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen. Es handelte sich dabei tatsächlich um eine Heiratsurkunde. Die Urkunde wurde übersetzt, soweit sie noch leserlich war und im Termin verlesen. Der Angeklagte gab dazu an, die Urkunde erst nach 2016 von Angehörigen erhalten zu haben.“

Gegen das Urteil des AG wendet sich der Angeklagte mit der Sprungrevision. Er rügt eine Verletzung des § 265 StPO, weil der Tatvorwurf, aufgrund dessen letztlich die Verurteilung erfolgte, nicht von der Anklageschrift umfasst gewesen und auch kein rechtlicher Hinweis nach § 265 StPO erteilt worden sei. Die Revision hatte Erfolg:

„2. Die Revision dringt mit der hinreichend i.S.v. § 344 Abs. 2 StPO ausgeführten Verfahrensrüge durch.

a) Für die Prüfung der Erforderlichkeit des Hinweises war hier nicht darzulegen, ob der Angeklagte durch den Gang der Hauptverhandlung über die Veränderung der Sachlage bereits hinreichend unterrichtet war und ein ausdrücklicher Hinweis deswegen unterbleiben konnte (vgl. insoweit BGH – 5. Strafsenat – NStZ 2019, 239, 240). Anders als in der zitierten Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofes geht es vorliegend nicht lediglich um die Unterrichtung des Angeklagten über die vom Gericht gezogenen Konsequenzen aus einem erhobenen Entlastungsbeweis, sondern unmittelbar um eine Änderung der Tatsachenbasis, denn die der Verurteilung zu Grunde liegende eigentliche Handlung (die Verneinung der Frage nach relevanten Urkunden bei der Hausdurchsuchung trotz Vorhandenseins einer Heiratsurkunde) war in der Anklageschrift nicht erwähnt. Bei einer solchen Veränderung der Sachlage bedarf es eines Revisionsvorbringens hinsichtlich einer etwaigen anderweitigen Unterrichtung des Angeklagten durch den Gang der Hauptverhandlung nicht (BGH – 3. Strafsenat – NStZ 2019, 236, 237 m. zust. Anm. Gubitz; BGH – 1. Strafsenat – NStZ 2019, 747; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 265 Rdn. 24; offengelassen: BGH – 4. Strafsenat – NStZ-RR 2021, 346). Da der Gesetzgeber mit dem Verweis in § 265 Absatz 2 auf Absatz 1 StPO auch auf die Erforderlichkeit eines „besonderen“ Hinweises, also eines ausdrücklichen Hinweises, Bezug genommen hat und aus den Gesetzesmaterialien nicht erkennbar wird, dass er lediglich die entsprechende Rechtsprechung zu § 265 StPO a.F. in Gesetzesform bringen wollte (vgl. Gubitz NStZ 2019, 238), reicht die Information des Angeklagten bzgl. der veränderten Sachlage durch den bloßen Gang der Hauptverhandlung regelmäßig nicht aus (vgl. BGH NStZ 2020, 97; Windsberger jurisPR-StrafR 11/2020 Anm. 2; aA: Arnoldi NStZ 2020, 99, 101; Schlosser NStZ 2020, 267, 270), so dass dementsprechend hierzu auch in der Rechtsmittelbegründung nichts vorgetragen werden muss. Die Voraussetzung in § 265 Abs. 1 Nr.3 StPO, dass der Hinweis zur genügenden Verteidigung „erforderlich“ sein muss, bezieht sich demnach nicht auf die Form der Information (durch „besonderen Hinweis“ oder durch den Gang der Hauptverhandlung), sondern auf die Bedeutung der Änderung der Sachlage für Reaktionen des Angeklagten im Rahmen seiner Verteidigung (vgl. BT-Drs. 18/11277 S. 37).

Dass die Revision nichts dazu vorgetragen hat, warum der Angeklagte durch das Unterlassen des Hinweises in seiner Verteidigung beschränkt war und wie er sein Verteidigungsverhalten nach erfolgtem Hinweis anders hätte einrichten können, ist im vorliegend Fall ebenfalls unschädlich. Ein solcher Vortrag ist zwar im Regelfall zu verlangen (BGH NStZ 2019, 239), Es handelt sich nicht um grundsätzlich nicht erforderlichen Vortrag allein zur Beruhensfrage (so aber: Eschelbach in: Graf, StPO, 4. Aufl. § 265 Rdn. 82). Denn Anwendungsvoraussetzung des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist (u.a.), dass der Hinweis auf die veränderte Sachlage zur genügenden Verteidigung des Angeklagten „erforderlich“ ist (vgl. Ceffinato JR 2020, 6, 13). Allerdings kann ein Vortrag zur Erforderlichkeit dann unterbleiben, wenn sich diese von selbst versteht (BGH NStZ 2019, 239, 240). So verhält es sich aber hier. Bei dieser den Kernbereich des Tatgeschehens betreffenden Änderung der Sachlage erfordert eine genügende Verteidigung des Angeklagten, ihm die Möglichkeit zu eröffnen, zu erwägen ob er Beweisanträge stellt, etwa (vgl. unten) auf Vernehmung weiterer bei dem sich als neue Sachlage darstellenden Tatgeschehen anwesender Zeugen.

b) Die Rüge ist auch begründet. Das Amtsgericht hat die Hinweispflicht nach § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO verletzt. Mit der zugelassenen Anklage vom 12.03.2020 war dem Angeklagten ein Verstoß gegen § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (a.F.) sowie ein Verstoß gegen § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zur Last gelegt worden. Der Angeklagte soll am 12.01.2016 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sein und bei seiner Anhörung am 14.10.2016 angegeben haben, dass alle Personenstandsurkunden auf der Reise abhandengekommen seien. Tatsächlich sei bei einer Hausdurchsuchung am 15.11.2019 bei ihm aber eine Heiratsurkunde gefunden worden, die er zerrissen habe. Nachdem der gestellte Asylantrag seit dem 26.07.2019 rechtskräftig abgelehnt worden sei, sei er seit dem 27.08.2019 vollziehbar ausreisepflichtig gewesen, habe sich aber seitdem illegal im Bundesgebiet aufgehalten. Als Tatort wird in der Anklageschrift „A“ angegeben, als Tatzeit „am 14.10.2016 sowie seit dem 27.08.2019“. Das Amtsgericht sah diese Vorwürfe aber nicht als erwiesen an, weil es die Einlassung des Angeklagten, er habe die Heiratsurkunde erst zeitlich nach seinen Angaben in der Anhörung vom 14.10.2016 zugeschickt bekommen, nicht hat widerlegen können und weil der Angeklagte zwar seit dem 27.08.2019 vollziehbar ausreisepflichtig war, aber seitdem durchgehend über eine Duldung verfügt habe. Die Verurteilung stützt das Amtsgericht vielmehr auf die bei der Hausdurchsuchung vom 15.11.2019 vom Angeklagten getätigte Äußerung, er sei nicht im Besitz von Urkunden oder Identifikationsunterlagen.

Bei dem Gegenstand der Verurteilung handelt es sich zwar noch um dieselbe prozessuale Tat, wie sie auch in der Anklageschrift zu Grunde gelegt war (so dass das Verfahren nicht etwa wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen war). Das folgt daraus, dass eine Identität des Tatortes besteht, der Tatzeitpunkt 15.11.2019 auch noch von dem Tatzeitraum der Anklageschrift („seit dem 27.08.2019) umfasst ist, Personenidentität besteht und auch schon das Geschehen der Hausdurchsuchung als solche (wenn auch nicht die von dem Angeklagten getätigte Äußerung mit ihrer rechtlichen Einordnung) in der Anklageschrift erwähnt wurde. Auch geht es um dasselbe Rechtsgut.

Die Sachlage innerhalb dieser prozessualen Tat, die der Verurteilung zu Grunde liegt, hat sich jedoch wesentlich verändert. Hinweispflichten auf eine geänderte Sachlage bestehen bei einer wesentlichen Veränderung des Tatbildes beispielsweise betreffend die Tatzeit, den Tatort, das Tatobjekt, das Tatopfer, die Tatrichtung, eine Person des Beteiligten oder bei der Konkretisierung einer im Tatsächlichen ungenauen Fassung des Anklagesatzes (BGH NStZ 2019, 239 m.w.N.; vgl. auch BGH NStZ 2020, 97). Hier liegt mit den unrichtigen Angaben im Rahmen der Hausdurchsuchung eine andere Tatrichtung als in dem bloßen Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel i.S.v. § 92 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor, wobei beide Vorwürfe, wären sie beide gegeben, in Tatmehrheit zueinander stünden, da eine bloße zeitliche Überschneidung für die Annahme von Tateinheit nicht ausreicht, vielmehr hier ein anderer Tatentschluss gefasst und eine neue Tathandlung getätigt werden musste.

Zwar wurde im Eröffnungsbeschluss darauf hingewiesen, dass auch eine Strafbarkeit wegen unrichtiger Angaben in Betracht komme. Diese Maßgabe bezieht sich aber allein auf das in der Anklageschrift umschriebene Tatgeschehen, welches im Anklagesatz lediglich mit „unvollständige“ rechtlich gewürdigt wurde. Ein Hinweis i.S.v. § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO wurde in der Hauptverhandlung nicht erteilt.

Die Veränderung der Sachlage ist für das Verteidigungsverhalten des Angeklagten, der sich nicht zur Sache eingelassen hat, bedeutsam und deswegen zur genügenden Verteidigung des Angeklagten geboten. So kommt etwa die Anbringung von Beweisanträgen auf Vernehmung weiterer Zeugen, etwa – offenbar zugegen gewesener (vgl. UA S. 3 unten) „weiterer Bewohner der Wohnung“ zum Beweis, dass entsprechende Angaben vom Angeklagten nicht getätigt wurden, in Betracht.“