Als zweite Entscheidung dann der OLG Schleswig, Beschl. v. 06.05.2025 – 1 Ws 56/25. Der äußert sich zur Gewährung von Akteneinsicht an den Nebenkläger bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation und zum Beschwerderecht des Angeklagten.
Folgender Sachverhalt:
Dem Angeklagten wird u. a. sexuelle Nötigung zum Nachteil der Nebenklägerin vorgeworfen. Die Strafkammer hat mit Beschluss vom 10.02.2025 das Hauptverfahren eröffnet, Haftfortdauer angeordnet und den Anschluss der Zeugin als Nebenklägerin für berechtigt erklärt. Die Hauptverhandlung läuft seit dem 02.05.2025 und ist derzeit bis zum 23.06.2025 geplant. Die Vernehmung der Nebenklägerin als Zeugin ist/war für den 13.05.2025 vorgesehen.
Bereits am 15.11.2024 hatte der Beistand der Nebenklägerin Akteneinsicht beantragt und zugleich versichert, der Nebenklägerin keine Akteninhalte zur Verfügung zu stellen. Am 27.03.2025 hat der Verteidiger in einem Telefongespräch mit dem Vorsitzenden der Gewährung von Akteneinsicht an den Beistand der Nebenklägerin widersprochen und dies mit Schriftsatz vom 07.04.2025 wiederholt.
Der Vorsitzende hat mit Verfügung vom 09.04.2025 Akteneinsicht für den Beistand der Nebenklägerin gewährt und dies dem Angeklagten, dem Verteidiger und dem Beistand der Nebenklägerin zur Kenntnis gegeben. Vor dem Hintergrund der anhängigen Beschwerde vom 14.04.2025 ist die Gewährung von Akteneinsicht auf die Verfügung des Vorsitzenden allerdings noch zurückgestellt worden, zunächst bis zum 30.04.2025 und nunmehr bis zum 06.052025. Damit ist/war die Akteneinsicht für den Beistand der Nebenklägerin faktisch noch nicht durchgeführt.
Das OLG hat die Beschwerde als zulässig, aber als unbegründet angesehen.
Das OLG folgt hinsichtlich des Beschwerderechts des Angeklagten in diesen Fällen der Auffassung in der Rechtsprechung, nach welcher der Angeklagte auch im Falle des Versagungsgrundes nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO (Gefährdung des Untersuchungszwecks) beschwert ist, wenn dem Verletzten Akteneinsicht gewährt wird. Insoweit verweise ich wegen der Einzelheiten der Begründung auf den verlinkten Volltext.
Zur Begründetheit führt es sodann aus:
„Die Beschwerde ist indes unbegründet.
a) Im maßgeblichen Ausgangspunkt folgt der Senat dabei den in der Entscheidung OLG Braunschweig, Beschluss vom 3. Dezember 2015 ? 1 Ws 309/15, NStZ 2016, 629, niedergelegten Erwägungen (i. Ü. auch Anschluss BGH, Beschluss vom 5. April 2016 – 5 StR 40/16, BeckRS 2016, 07515, OLG Schleswig, Beschluss vom 5. April 2023 – 2 Ws 33/23). Demnach kann in der besonderen Beweiskonstellation „Aussage gegen Aussage“ eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO gegeben sein, wenn die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Unbefangenheit, die Zuverlässigkeit oder den Wahrheitsgehalt einer von ihm zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte. Dies ist allerdings nicht schon generell und ohne weiteres der Fall. Vielmehr ist dem Vorsitzenden bei seiner Entscheidung darüber, ob einem Akteneinsichtsbegehren § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO entgegensteht, auch in dieser Konstellation ein weiter Ermessensspielraum eröffnet [vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2005 – 1 StR 498/04; Senat, Beschluss vom 19. Februar 2016 – 1 Ws 59/16 (33/16) -, juris, Rn. 5]. Das Beschwerdegericht trifft eine eigene Ermessensentscheidung. Es ist nicht darauf beschränkt ist, die angefochtene Entscheidung auf Ermessensfehler zu überprüfen.
Bei der Entscheidung gilt:
Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks durch Gewährung von Akteneinsicht an den Nebenklägervertreter ist auch bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation regelmäßig auszuschließen, wenn der Nebenklägervertreter — wie hier — zusagt, die Akte der vertretenen Person nicht zugänglich zu machen (Anschluss OLG Braunschweig a. a. O.).
Zwar ist eine solche Verzichtserklärung letztlich nicht durchsetzbar, gleichwohl aber durch das Tatgericht im Rahmen der zeugenschaftlichen Befragung des Nebenklägers als Zeuge überprüfbar. Zudem liegt es auch im Interesse des Nebenklägervertreters, den Beweiswert der Angaben seines Mandanten nicht zu gefährden. Darüber hinaus sieht auch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 21. März 2002 – 1 BvR 2119/01, juris, Rn. 13), dass Rechtsanwälte ihre Aufgaben als vertrauenswürdige Organe der Rechtspflege wahrnehmen, der Rechtsverkehr also in der Regel auf ihre Integrität und Zuverlässigkeit vertrauen darf. Dies im Übrigen, auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Verteidigung in ihrem Schriftsatz vom 2. Mai 2025, soweit es um § 11 Abs. 1 BORA (diese Vorschrift dürfte mit dem von der Verteidigung in Bezug genommenen § 12 Abs. 1 BORA gemeint gewesen sein) und § 1 Abs. 3 Satz 1 BORA geht, die jeweils einer Verzichtserklärung nicht zwingend entgegenstehen.
Dagegen würde ein genereller und letztlich ausnahmsloser Wegfall der Akteneinsicht für den Beistand des Nebenklägers bei Vorliegen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation (so im Ergebnis HansOLG Hamburg, Beschluss vom 11. November 2022 – 6 Ws 74/22 – „Ermessensreduzierung auf Null“) die Verfahrensbeteiligungsrechte von Verletzten und Nebenklägern in bedenklicher Weise und entgegen den Grundgedanken des 2. Opferrechtsreformgesetzes (BGBl. 2009 I 2280) einschränken. Denn insbesondere das Fragerecht in der Hauptverhandlung kommt nur dann wirksam zur Geltung, wenn etwa Vorhalte getätigt werden können; auch Beanstandungs- und Antragsrechte können von dem Beistand des Nebenklägers nur dann wirksam ausgeübt werden, wenn Aktenkenntnis besteht.
Im Einzelnen:
b) Der Beistand der Nebenklägerin hat vorliegend gemäß § 406?e Abs.1 StPO einen Anspruch auf umfassende Einsicht in die Verfahrensakten. Ein Versagungsgrund, insbesondere ein solcher nach § 406?e Abs. 2 Satz 2 StPO, besteht nicht. Nach dieser Vorschrift kann die Akteneinsicht des Berechtigten versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Dies ist hier nicht der Fall. Der Beschuldigte hatte vor der Akteneinsicht das erforderliche rechtliche Gehör (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2021 – 1 BvR 2192/21).
Vorliegend ist zu beachten, dass den Tatvorwürfen schon nicht durchweg eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zugrunde liegt. Keine solche, besondere Beweissituation liegt vor, wenn die belastende Aussage — wie hier — durch andere Beweismittel bestätigt wird (vgl. KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, StPO § 261 Rn. 100). Dies ist bereits der Fall, wenn die Aussage der Belastungszeugin jedenfalls in den Randbereichen durch Bekundungen eines anderen Zeugen bestätigt wird (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 2003 – 2 StR 486/02, NStZ-RR 2003, 268) oder andere belastende Indizien vorliegen (vgl. BGH, Beschluss vom 2. September 2015 – 2 StR 101/15, NStZ-RR 2016, 87). Vorliegend werden die Angaben der Nebenklägerin sowohl durch Bekundungen anderer Zeugen, als auch durch weitere belastende Indizien bestätigt (vgl. Senat, Beschluss vom 5. März 2025 – 1 Ws 30/25).
Im Übrigen sind die entgegenstehenden Interessen im Rahmen einer Ermessensentscheidung in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.
Einzustellen in die Ermessensentscheidung ist zum einen, dass mit dem Grundsatz der Wahrheitsermittlung als Ausfluss seiner Freiheitsrechte nach Art. 2 Abs. 2 S. 2, 20 Abs. 3 und 104 Abs. 1 GG ein sehr hohes Gut zugunsten des Angeschuldigten streitet. Demgegenüber stehen ein Informationsrecht des Verletzten sowie seine Rechte auf Fürsorge, Gleichbehandlung und Menschenwürde, wobei letztere ebenfalls Verfassungsrang (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 2, 3 Abs. 1, 20 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG) genießen.
Der Grundsatz der Wahrheitsermittlung bei einer umfassenden Akteneinsicht der Nebenklägerin erscheint im vorliegenden Verfahren kaum nennenswert gefährdet. Vor dem Hintergrund der vorgenannten Erwägungen und auch unter dem Aspekt der Waffengleichheit bedarf der Nebenklägervertreter zur sachgerechten Vorbereitung der Vernehmung seiner Mandantin und zur effektiven Wahrung ihrer Verfahrensrechte und nicht zuletzt unter Opferschutzgesichtspunkten möglichst umfassende Akteneinsicht. Es besteht hier nicht die Besorgnis, dass der Nebenklägervertreter entgegen seiner Zusage die Akten oder Bestandteile hiervon der Nebenklägerin zugänglich machen wird; konkrete tatsächliche Anhaltspunkte dafür hat der Senat nicht.
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