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StPO II: Anforderungen an Durchsuchungsbeschluss, oder: Angaben zum Tatzeitraum im KiPO-Verfahren

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Im zweiten Posting dann etwas von einem Landesverfassungsgericht zur Durchsuchung, und zwar der VerfG Brandenburg, Beschl. v. 21.06.2024 – VfGBbg 35/21.

Zugrunde liegt der Entscheidung ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Der Beschwerdeführer ist sorgeberechtigter Vater seiner im Jahr 2013 geborenen Tochter. Von der ebenfalls sorgeberechtigten Kindesmutter ist er seit Januar 2016 rechtskräftig geschieden. Seit der Trennung im Februar 2014 hatte der Beschwerdeführer zunächst regelmäßig Umgang mit seiner Tochter. Ab dem Jahr 2019 war das Umgangsrecht auf Veranlassung der Kindesmutter eingeschränkt. Am 12. 012021 erstattete diese Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer, woraufhin das Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war, das zwischenzeitlich mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden ist.

Am 21.01.2021 ordnete das AG wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern die Durchsuchung der Wohn- und Geschäfts-räume, einschließlich aller Nebenräume und Kraftfahrzeuge sowie der Person des Beschwerdeführers, an. Daneben wurde die Beschlagnahme eventuell vorgefundener Beweismittel, wie Computer, Laptops, Mobiltelefone, Digitalkameras und anderer Speichermedien, angeordnet. In der Begründung des Beschlusses wird ausgeführt:

„Es besteht gegen den Beschuldigten aufgrund der bisherigen Ermittlungsergebnisse der Verdacht des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Der Verdacht beruht auf den bisherigen Ermittlungsergebnissen, insbesondere auf Zeugenaussagen sowie zur Akte gereichten Berichte. Danach besteht der Anfangsverdacht gegen den Beschuldigten, zwei Kinder mit der weiteren Be-schuldigten pp. sexuell missbraucht zu haben, wobei Teile der Taten gefilmt worden sein sollen.“

Gegen diese Durchsuchungsanordnung geht der ehemalige Beschuldigte vor. Er hat aber weder beim AG noch beim LG Erfolg. Das VerfG gibt ihm dann endlich Recht:

„….. 2. Die angegriffenen Entscheidungen tragen den aus Art. 15 Abs. 2 LV folgenden Anforderungen an die Begrenzungsfunktion von Durchsuchungsanordnungen nicht hinreichend Rechnung.

a) Der Beschluss des Amtsgerichts enthält zunächst keine Angabe zum Tatzeitraum (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfG, Beschluss vom 4. April 2017 2 BvR 2551/12 -, Rn. 21 ff., juris). Die Begründung des Beschlusses vermittelt auch sonst keine Anhaltspunkte für eine Begrenzung des Tatzeitraums. Vielmehr ermöglicht die mit dem Beschluss getroffene Anordnung der Sache nach eine Durchsuchung und Beschlagnahme von Beweismitteln für einen unbestimmten Zeitraum und wird bereits deshalb seiner Begrenzungsfunktion nicht gerecht.

b) Darüber hinaus lassen sich der Begründung des Beschlusses des Amtsgerichts keine hinreichenden tatsächlichen Angaben über das dem Beschwerdeführer konkret vorgeworfene strafrechtswidrige Verhalten entnehmen, dessen Aufklärung die An-ordnung der Durchsuchung dienen soll.

Die Beschlussbegründung erwähnt nur schlagwortartig den „Verdacht des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern“, bezieht sich auf bisherige, allerdings nicht näher beschriebene Ermittlungsergebnisse, insbesondere auf Zeugenaussagen und zur Akte gereichte Berichte, und behauptet dann formelhaft, dass nach diesen Unterlagen der Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer bestehe, zwei Kinder mit einer weiteren Beschuldigten sexuell missbraucht zu haben, wobei Teile der Tat gefilmt worden seien.

Offen erscheint danach bereits, unter welchen der in § 176a StGB geregelten Qualifikationstatbestände in der bis zum 30. Juni 2021 geltenden Fassung der Tatvorwurf einzuordnen ist. Der Beschlussinhalt lässt sich zwar dahin deuten, dass das Amtsgericht seinen Tatvorwurf auf § 176a Abs. 2 Nr. 1 a. F. StGB stützt. Danach macht sich strafbar, wer als Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich vornehmen lässt, die mit dem Eindringen in den Körper verbunden sind. An diesem Tatbestand orientierte konkrete Lebenssachverhalte werden in dem Durchsuchungsbeschluss nicht bezeichnet, obwohl dies, wie der Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts vom 12. April 2021 zeigt, ohne Weiteres mit Hilfe der in der angefochtenen Durchsuchungsanordnung bezeichneten Unterlagen möglich gewesen wäre. Entsprechende Handlungen erschließen sich jedenfalls nicht aus der Bemerkung des Amtsgerichts, Teile der Taten seien gefilmt worden.

Soweit die in dem Durchsuchungsbeschluss enthaltene – möglicherweise versehentliche – Formulierung des Betreffs („wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Wiederholungstäter“) auf § 176a Abs. 1 a. F. StGB verweist, enthält der Beschluss des Amtsgerichts keine Angaben darüber, ob der Beschwerdeführer innerhalb der letzten fünf Jahre wegen einer Straftat nach § 176 Abs. 1 oder 2 StGB rechtskräftig verurteilt worden ist. Der in der Beschlussbegrün-dung enthaltene Hinweis des Amtsgerichts, dass Teile der Taten gefilmt worden sein sollen, könnte dahingehend verstanden werden, dass sich der Tatvorwurf auch auf § 176a Abs. 3 a. F. StGB stützen soll. Insoweit fehlt es aber an Angaben dazu, ob der Beschwerdeführer als Täter oder anderer Beteiligter in der Absicht gehandelt hat, die Tat zum Gegenstand eines pornographischen Inhalts (§ 11 Abs. 3 StGB) zu machen, der i. S. d. § 184b Abs. 1 oder 2 StGB verbreitet werden soll.

c) Die beschriebenen Mängel bei der ermittlungsrichterlich zu verantwortenden Um-schreibung des Tatvorwurfs in zeitlicher und sachlicher Hinsicht konnten weder durch den Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts vom 12. April 2021 noch durch das Landgericht im Beschwerdeverfahren geheilt werden.“

OWi III: Verwerfungsurteil und Verfahrensverzögerung, oder: Begründung der (Verfahrens)Rüge

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Und dann als dritte Entscheidung der BayObLG, Beschl. v. 24.04.2024 – 201 ObOWI 339/24 – zur Begründung der Verfahrensrüge zur Beanstandung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung bei Verwerfungsurteil-

Das AG hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid wegen Geschwindigkeitsverbot mit einem Fahrverbot von einem Monat mit Urteil vom 24.03.2021 gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Das Urteil wurde dem Verteidiger am 26.03.2021 zugestellt. Das Hauptverhandlungsprotokoll wurde am 29.03.2021 fertiggestellt. Gegen das Urteil hat der Betroffene am 29.03.2021 Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der er die Verletzung „formellen und materiellen Rechts“ rügte. Er hat mit Verteidigerschriftsatz vom 13.10.2023 beantragt, eingegangen bei Gericht am 21.11.2023, das Verfahren wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung einzustellen. Am 27.11.2023 wurde dem Verteidiger das Urteil nochmals zugestellt. Eine ergänzende Rechtsbeschwerdebegründung ist nicht erfolgt. Die Rechtsbeschwerde wurde vom BayObLG als unbegründet verworfen:

„b) Das vom Betroffenen geltend gemachte Verfahrenshindernis der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bedurfte vorliegend auch nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils der Erhebung einer formalen Rüge. Eine solche wurde jedoch nicht in zulässiger Weise ausgeführt (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

aa) Will der Beschwerdeführer die Verletzung des Beschleunigungsgebotes geltend machen, erfordert dies grundsätzlich die Erhebung einer Verfahrensrüge (st.Rspr., vgl. u. a. BGH, Beschl. v. 20.06.2007 – 2 StR 493/06 bei juris Rn. 9; zuletzt BGH, Beschl. v. 15.03.2022 – 4 StR 202/21 bei juris Rn. 16, jew. m.w.N.). Ein Ausnahmefall, für den die höchstrichterliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren angenommen hat, das Rechtsmittelgericht habe wegen eines Erörterungsmangels auf die Sachrüge hin einzugreifen, liegt hier schon deshalb nicht vor, weil die Verzögerung erst nach Urteilserlass eingetreten ist und sich nicht aus den Urteilsgründen ergibt.

Allerdings kann für Verzögerungen nach Urteilserlass die bloße Erhebung der Sachrüge ausreichend sein, wenn der Betroffene die Gesetzesverletzung deshalb nicht form- und fristgerecht rügen konnte, weil die Verzögerung erst nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist eingetreten ist und deshalb vom Beschwerdeführer nicht (mehr) mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden konnte (BGH NStZ 2001, 52; BGH, Beschl. v. 20.06.2007 a.a.O. Rn. 10). Ein solcher Fall liegt jedoch nicht vor, da die Frist zu Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde erst mit Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe begann (§ 345 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 OWiG). Die am 26.03.2021 erfolgte Zustellung des Urteils konnte die Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde nicht in Lauf setzen, weil nach § 273 Abs. 4 StPO das Urteil nicht zugestellt werden durfte, bevor das Protokoll fertiggestellt war. Der Verstoß hiergegen machte die Zustellung wirkungslos und setzte deshalb die genannten Fristen nicht in Lauf (st.Rspr., vgl. zuletzt zur Revisionsbegründungsfrist BGH, Beschl. v. 24.11.2020 – 5 StR 439/20 bei juris = NStZ-RR 2021, 57 = StraFo 2021, 164 = BeckRS 2020, 36921 m.w.N.). Der Betroffene war von daher nicht gehindert, zu den Verfahrenstatsachen vorzutragen, aus denen er das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung herleiten will, zumal er vor der zweiten Zustellung Akteneinsicht hatte.

bb) Die Erhebung einer Verfahrensrüge war auch nicht deshalb entbehrlich, weil bei Vorliegen einer zulässigen Rechtsbeschwerde grundsätzlich (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 66. Aufl. Einl. Rn. 150 m.w.N.) das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses von Amts wegen zu prüfen ist (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. und Art. 6 EMRK Rn. 9g; Meyer-Goßner NStZ 2003, 173; a.A. Wohlers JR 2005, 189; offengelassen: BGH, Beschl. v. 10.09.2003 – 5 StR 330/03 bei juris). Dies gilt jedenfalls in den Fällen, in denen der Tatrichter lediglich den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verwirft.

(1) Aus rechtsstaatlichen Gründen kann die Verfahrenseinstellung wegen überlanger Verfahrensdauer dann unabweisbar sein, wenn sie auf einer außergewöhnlichen, vom Betroffenen nicht zu vertretenden und auf Versäumnisse der Justiz zurückzuführenden Verfahrensverzögerung beruht, die den Betroffenen im Lichte der Gesamtdauer des Verfahrens unter Abwägung der Gesamtumstände des Einzelfalls, namentlich des Tatvorwurfs, des Umfangs und der Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes, des festgestellten oder voraussichtlich feststellbaren Schuldumfangs sowie möglicher Belastungen durch das Verfahren, in unverhältnismäßiger Weise belastet und der Verzögerung im Rahmen der Sachentscheidung nicht mehr hinreichend Rechnung getragen werden kann (vgl. BGHSt 35, 137 ff.; BGHSt 46, 159 ff.).

(2) Die Frage, ob und in welchem Umfang eine Kompensation bei Vorliegen einer Verfahrensverzögerung erforderlich ist, ist somit das Ergebnis einer Abwägung der Gesamtumstände des Einzelfalls. Ob eine Verfahrensverzögerung unerheblich ist, ob die bloße Feststellung der Verfahrensverzögerung dem Betroffenen ausreichende Kompensation verschafft (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 02.10.2018 – 6 Kart 6/17 [OWi] bei juris Rn. 1269; OLG Stuttgart, Beschl. v.04.06.2018 – 3 Rb 26 Ss 786/17 bei juris), ob ein „Normalfall“ überlanger Verfahrensdauer vorliegt, der durch die Anrechnung eines Teils der verhängten Geldbuße oder des Fahrverbots kompensiert werden kann (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 11.02.2021 – 4 RBs 13/21 bei juris; beim Verwerfungsurteil verneinend: OLG Rostock, Beschl. v. 27.01.2016 – 21 Ss OWi 2/16 [B] bei juris Rn. 11) oder ob sich der Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot als derartig schwer und außergewöhnlich darstellt, dass ihm nur durch die Einstellung des gesamten Verfahrens Rechnung getragen werden kann, kann nicht ohne Kenntnis der verhängten Sanktion und der damit verbundenen Belastungen für den Betroffenen beantwortet werden, wobei sich letztere oftmals der genauen Kenntnis der Justiz entziehen.

In einem Fall, in dem der Tatrichter lediglich den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verwirft, kommt hinzu, dass sich, anders als bei einem Urteil in der Sache, Tatunrecht und Verfahrensverzögerungen bis zum Erlass des Urteils schon nach der Natur der Entscheidung nicht aus den Urteilsgründen selbst ergeben, während der Betroffene hierzu unschwer Ausführungen machen kann. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von Amts wegen bei zulässiger Rechtsbeschwerde zu berücksichtigen, widerspräche somit der differenzierten geltenden rechtlichen Systematik, wonach der Betroffene gehalten ist, alle diesbezüglichen Umstände vorzutragen, es sei denn sie würden sich aus der Entscheidung selbst ergeben, die Entscheidung wäre lückenhaft oder die Umstände würden sich, weil sie erst nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist entstanden sind, der formgerechten Begründung entziehen.

cc) Die Rechtsbeschwerdeausführungen genügen nicht, um das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung aufzuzeigen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 OWiG).

(1) Die Rechtsbeschwerde teilt zwar mit, dass mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 27.04.2021 der Antrag des Betroffenen nach § 74 Abs. 4 OWiG auf Wiedereinsetzung in die versäumte Hauptverhandlung zurückgewiesen wurde. Sie verhält sich in diesem Zusammenhang aber nicht zu der Frage, wann dem Betroffenen der Beschluss zugestellt wurde, ob er dagegen Rechtsmittel eingelegt hatte und wann gegebenenfalls seitens des Rechtsmittelgerichts hierüber entschieden wurde. Ausführungen hierzu erweisen sich jedoch als notwendig, weil bis zur Rechtskraft des die Wiedereinsetzung versagenden Beschlusses das Rechtsbeschwerdeverfahren von Gesetzes wegen ruhte (§ 342 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG). Der Senat kann daher nicht prüfen, ob und in welchem Umfang die Notwendigkeit der Bearbeitung eines Rechtsmittels des Betroffenen mit dazu beigetragen hat, dass die Akten nicht dem Rechtsbeschwerdegericht vorgelegt wurden.

(2) Es fehlen auch sonst jegliche Darlegungen für den betreffenden Zeitraum vom 27.04.2021 bis 26.09.2023. Die Frage, ob und in welchem Umfang eine Verfahrensverzögerung eine Kompensation erforderlich macht und welcher Art diese gegebenenfalls sein muss, setzt, wie ausgeführt, eine wertende Betrachtung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls voraus. Maßstab ist der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Verfolgungsorgane und die daraus folgenden individuellen Belastungen für den Betroffenen (BGH, Urt. v. 13.03.2011 – 5 StR 411/11 bei juris Rn. 8; BGH, Urt. v. 23.10.2013 – 2 StR 392/13 bei juris Rn. 9). Der Senat kann jedoch, da Einzelheiten für den Grund der Verzögerung nicht genannt werden, nicht prüfen, ob und in welchem Umfang der Betroffene in ihm zurechenbarer Weise selbst zu der Verfahrensverzögerung beigetragen hat.

(3) Der vorliegende Fall weist zudem die Besonderheit auf, dass dem Kraftfahrtbundesamt nach dem Vorbringen des Betroffenen (fälschlicherweise) die Rechtskraft der Entscheidung vom 24.03.2021 mitgeteilt worden war. Nachdem es nicht der Lebenserfahrung entspricht, dass eine von der Vollstreckungsbehörde für rechtskräftig gehaltene Entscheidung nicht auch vollstreckt wird, liegt der Schluss nahe, dass der Betroffene seine Fahrerlaubnis in amtliche Verwahrung gegeben und die Geldbuße bezahlt hat, obwohl er damit rechnen musste, dass die zugrunde liegende Entscheidung noch gar nicht rechtskräftig war, nachdem er gegen sie Rechtsbeschwerde eingelegt hatte und eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nicht ergangen war. Im Rahmen der Gesamtbetrachtung zu Notwendigkeit und Art der Kompensation, bei der auch die Folgen der Verfahrensverzögerung speziell für den Betroffenen und sein Umgang mit dieser von Bedeutung sind, hätte dieser Umstand nicht unberücksichtigt bleiben dürfen und es hätte hierzu von der Rechtsbeschwerde vorgetragen werden müssen.

dd) Ob im vorliegenden Fall dem Grunde nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung der nicht ordnungsgemäß ausgeführten Verfahrensrüge hätte in Betracht kommen können, braucht nicht entschieden zu werden. Eine solche ist auch nach Mitteilung der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft München vom 20.03.2024, aus der hervorging, dass die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde erst mit der am 27.11.2023 bewirkten Zustellung zu laufen begonnen hatte, und zur Geltendmachung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung die Erhebung einer Verfahrensrüge erforderlich war, nicht nachgeholt worden.“

U-Haft II: Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls, oder: Anforderungen an die Begründung

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Die zweite Entscheidung kommt vom VerfGH Berlin. Der hat im VerfGH Berlin, Beschl. v. 18.10.2023 – 77/23 – über eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des KG entschieden, mit dem ein Haftbefehl wieder in Vollzug gesettzt worden ist.

Vorgeworfen wird dem Angeklagten unerlaubter Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, davon in sieben Fällen als Mitglied einer Bande. Die Anklage stützt sich im Wesentlichen auf Erkenntnisse, die aus sog. EncroChat-Daten gewonnen wurden.

Das LG Berlin hat die Anklage am 29.06.2023 unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen. Zugleich beschloss es, das Verfahren analog § 262 Abs. 2 StPO auszusetzen, da die Entscheidung des Rechtsstreits von europarechtlichen Fragen zur Verwertbarkeit von EncroChat-Daten als Beweismittel abhänge; diese wolle das Gericht zunächst – wie bereits in dem Parallelverfahren C-670/22 – dem Europäischen Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV zur Entscheidung vorlegen. Des Weiteren hob das LG einen zuvor bereits mehrfach vom LG außer und vom KG wieder in Vollzug gesetzten Haftbefehl d auf. Die erneute Aufhebung begründete es damit, dass die von § 112 Abs. 1 StPO vorausgesetzte hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit angesichts der in dem Parallelverfahren noch ausstehenden Antwort des EuGH nicht gegeben sei; überdies sei die Anordnung einer Untersuchungshaft unverhältnismäßig, da eine Hauptverhandlung in der Sache – schon vor dem Hintergrund, dass derzeit noch offen sei, wann der EuGH entscheiden werde – voraussichtlich nicht vor 2024 durchgeführt werden könne. Auf eine hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft setzte das KG den Haftbefehl des wieder in Vollzug. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass auch unter Berücksichtigung des kooperativen Verhaltens des Angeklagten weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe, der nach wie vor nicht durch mildere Maßnahmen als den Vollzug der Untersuchungshaft ausgeräumt werden könne.

Dagegen die Verfassungsbeschwerde,die keinen Erfolg hatte:

„Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer weder in seinem Freiheitsgrundrecht nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB (1.) noch in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 15 Abs. 5 VvB (2.).

1. Der Beschluss des Kammergerichts vom 24. Juli 2023 verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem Freiheitsgrundrecht nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB. Anders als er meint, leidet die von ihm angegriffene fachgerichtliche Entscheidung an keinem verfassungsrechtlich zu beanstandenden Begründungs- oder Abwägungsdefizit.

Zwar ist dem Beschwerdeführer darin Recht zu geben, dass das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB) so ausgestaltet sein muss, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht. Dem ist durch eine verfahrensrechtliche Kompensation des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs, namentlich durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen. Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. Folglich sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten. In diesem Zusammenhang hat sich das die Haftfortdauer anordnende Gericht auch zur voraussichtlichen Gesamtdauer des Verfahrens, zu der für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehenden Straferwartung und – unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 StGB – zum hypothetischen Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe zu verhalten. Diese Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (Beschlüsse vom 26. Juli 2017 – VerfGH 90 A/17 -, juris, Rn. 23 und vom 22. November 2005 – VerfGH 146/05 -, juris, Rn. 31 ff.; wie alle hier zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes abrufbar unter gesetze.berlin.de; vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Beschlüsse vom 4. April 2006 – 2 BvR 523/06 -, juris Rn. 18, vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08 -, juris Rn. 33 und vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 42 ff.).

Diesen Anforderungen wird der Beschluss des Kammergerichts zur (erneuten) Invollzugsetzung des Haftbefehls vom 11. August 2022 wegen Vorliegens von Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 der StPO jedoch gerecht.

So stellt das Kammergericht zur Begründung seiner Entscheidung unter Bezugnahme auf seine vorangegangenen Beschlüsse vom 28. April und 16. Juni 2023 eine ausführliche Gesamtabwägung an. Dabei berücksichtigt es u. a. auch das kooperative Verhalten des Beschwerdeführers, etwa dass dieser sich nach der Entlassung aus der Haft in Neuruppin am 20. Januar 2023 weder ins Ausland abgesetzt hat noch im Inland untergetaucht ist, sich am 4. Mai 2023 freiwillig dem Ermittlungsrichter gestellt hat und den neuerlichen Haftverschonungsauflagen bislang nachgekommen ist. Zugleich hält es in nachvollziehbarer Weise an seinen bereits in den vorangegangenen Entscheidungen vom 28. April und 16. Juni 2023 angestellten und aus Sicht des Kammergerichts auch weiterhin zutreffenden Erwägungen fest.

Soweit der Beschwerdeführer meint, das Ergebnis der Abwägungen des Kammergerichts hätte anders ausfallen müssen, führt dies noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung. Vielmehr sind die Ausführungen des Kammergerichts hinreichend ausführlich, in sich schlüssig und vertretbar und daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

2. Die Entscheidung des 1. Strafsenats des Kammergerichts verletzt den Beschwerdeführer auch nicht in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 15 Abs. 5 S. 2 VvB). Die Besetzung des tätig gewordenen Spruchkörpers ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Zwar kann das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt sein, wenn die Wiederbesetzung einer freigewordenen Vorsitzendenstelle nicht in angemessener Zeit vorgenommen wird (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Dreierausschussbeschluss vom 3. März 1983 – 2 BvR 265/83 -, juris). Der 1. Strafsenat des Kammergerichts wird auch bereits seit dem 1. Januar 2023, zum Entscheidungszeitpunkt mithin schon seit knapp sieben Monaten, kommissarisch geführt. Bei der Beurteilung der Angemessenheit des Zeitraums ist jedoch zu berücksichtigen, ob die Wiederbesetzung ungerechtfertigt verzögert wird oder ob die Umstände des Einzelfalls – wie z. B. vorliegend eine Konkurrentenklage – der zügigen Auswahl und Ernennung eines geeigneten Nachfolgers entgegenstehen. Letzteres ist hier der Fall.“

StPO I: Formelle Rügen in einem „Klimakleberfall“, oder: Wahrunterstellung und Aufklärungsrüge

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Ich hatte bereits vor einiger Zeit über den BayObLG, Beschl. v. 21.04.2023 – 205 StRR 63/23 – berichtet. Das ist ein „Klimakleberfall“, in dem das BayObLG die Frage der Nötigung durch Festkleben auf einer Straße, um Autofahrer an der Weiterfahrt zu hindern und dadurch auf die Gefahren des Klimawandels aufmerksam zu machen bejaht hat (vgl. dazu Klima I: Festkleben auf Straßen zum Klimaschutz, oder: BayObLG sagt, das ist als Nötigung strafbar).

Ich komme dann heute auf den Beschluss noch einmal zurück, da das BayObLG in der Entscheidung auch zu Verfahrensfragen Stellung genommen hat. Mit der formellen Rügge hatte der Angeklagte nämlich geltend gemacht, das AG habe gegen § 244 Abs. 3 Nr. 6 StPO verstoßen, weil ein von der Verteidigung in der Hauptverhandlung gestellter Beweisantrag im Wege der Wahrunterstellung zurückgewiesen worden sei. Das Gericht habe aber die Zusage der Wahrunterstellung im Urteil nicht eingehalten. Und mit der Aufklärungsrüge gemäß § 244 Abs. 2 StPO war beanstandet worden, das AG hätte sich dazu gedrängt sehen müssen, durch Einführung der medialen Kommunikation des Angeklagten sowie zweier Zeitungsartikel Beweis zum „Zweck des Protests“ des Angeklagten zu erheben.

Beide Rügen hatten beim BayObLG keinen Erfolg:

„Ergänzend bemerkt der Senat:

1. Die formelle Rüge des Angeklagten, das Amtsgericht habe gegen § 244 Abs. 3 Nr. 6 StPO verstoßen, ist unbegründet, weil das Amtsgericht die Zusage der Wahrunterstellung in vollem Umfang eingehalten hat.

a) Die Revision argumentiert in diesem Zusammenhang zusammengefasst, im Urteil werde die als wahr unterstellte Tatsache „implizit als nicht gegeben angenommen“. Das Amtsgericht habe bereits deshalb die zugesagte Wahrunterstellung nicht eingehalten, weil es im Urteil unberücksichtigt gelassen habe, „dass die globale Erwärmung eine gegenwärtige Gefahr für die menschliche Zivilisation“ darstelle, „gegen die der Staat zu wenig“ unternehme. Implizit habe das Amtsgericht diese Gefahr auch deshalb negiert und damit gegen die zugesagte Wahrunterstellung verstoßen, weil es ausgeführt habe, die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz (GG) hätten unzweifelhaft nicht vorgelegen und ziviler Ungehorsam zur Beeinflussung der politischen Meinungsbildung sei daher nicht angemessen gewesen (RevBegr. S. 5).

b) Diese Ausführungen der Revision decken keinen Rechtsfehler zulasten des Angeklagten auf. Zusätzlich zu den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 20. Februar 2023 (dort S. 2ff) ist ergänzend auszuführen:

i) Das Amtsgericht hat die zugesagte Wahrunterstellung der unter Beweis gestellten Tatsachen entgegen der Ansicht der Revision im Urteil berücksichtigt. So führt das Amtsgericht im Rahmen seiner Überlegungen zur Strafzumessung aus, dass die verfolgten Fernziele des Angeklagten im Rahmen der Ahndungsfindung positiv zu berücksichtigen waren. Ihm sei es darum gegangen, mediales Interesse für sein nachvollziehbares und dringendes Anliegen, nämlich unverzügliche Einleitung nachhaltiger Schritte zur Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung und Kampf gegen den Klimawandel, zu erregen (UA S. 13). Aus diesen detaillierten Erwägungen des Amtsgerichts ergibt sich, dass die wahr unterstellten Tatsachen im Urteil Berücksichtigung fanden.

ii) Die Revision trägt weiter vor, das Amtsgericht habe die als wahr unterstellten Tatsachen nicht im Rahmen der Prüfung des rechtfertigenden Notstands gemäß § 34 StGB und des Widerstandsrechts nach Art. 20 Abs. 4 GG geprüft. Soweit dieser Vortrag so zu verstehen sein sollte, hieraus ergebe sich, dass das Amtsgericht von der zugesagten Wahrunterstellung abgewichen sei (RevBegr. S. 5), deckt dies keinen Rechtsfehler auf:

(1) Das Amtsgericht hat dazu im Urteil sinngemäß ausgeführt, eine Rechtfertigung der Tat nach § 34 StGB sei nicht gegeben. Es fehle an der Angemessenheit der vermeintlichen Notstandshandlung. Die Angemessenheit entfiele, wenn die Rechtsordnung für die Abwendung bestimmter Gefahren ein rechtlich geordnetes Verfahren vorsehe. In der Bundesrepublik hätten die Bürger zahlreiche legale Möglichkeiten zur Geltendmachung abweichender politischer Standpunkte. Deshalb seien Verkehrsblockaden gegen politische Maßnahmen und Entscheidungen nur unter den Voraussetzungen von Art. 20 Abs. 4 GG zulässig. Dessen Voraussetzung lägen aber „unzweifelhaft“ nicht vor (UA S. 10).

(2) Das Amtsgericht hat somit ausgeschlossen, dass die hier gegenständliche Verkehrsblockade ein angemessenes Mittel sei, die Gefahr abzuwenden, weil andere Möglichkeiten der politischen Teilhabe und Willensbildung in der Bundesrepublik bestehen. Im Rahmen der skizzierten Argumentation des Amtsgerichts kommt dem Vorliegen oder Nichtvorliegen der als wahr unterstellten Tatsachen keine Bedeutung zu. Es kann daher aus dem Umstand, dass das Amtsgericht die wahr unterstellten Tatsachen bei der Ablehnung der Anwendbarkeit von § 34 StGB nicht erwähnt, nicht geschlossen werden, das Amtsgericht sei von der zugesagten Wahrunterstellung abgewichen.

(3) Ähnliches gilt im Zusammenhang mit dem Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG. Das Amtsgericht hat dazu ausgeführt, die Voraussetzungen des Widerstandsrechts nach Art. 20 Abs. 3 GG lägen „unzweifelhaft“ nicht vor. Das grundgesetzlich garantierte Widerstandsrecht ist an mehrere Voraussetzungen geknüpft. Das Amtsgericht hat offengelassen, welches Tatbestandsmerkmal des Widerstandsrechts es als nicht gegeben angesehen hat. Somit kann auch in diesem Zusammenhang nicht geschlossen werden, das Amtsgericht sei von der zugesagten Wahrunterstellung abgewichen.

iii) Die als wahr unterstellte Tatsache war nicht von vornherein bedeutungslos, sondern geeignet, zu Gunsten des Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung Bedeutung zu erlangen. Dass die Verteidigung des Angeklagten durch die Wahrunterstellung von weiterem effektiven Verteidigungsvorbringen abgehalten worden wäre, ist nicht ersichtlich.

2. Die formelle Rüge, das Amtsgericht habe gegen seine Aufklärungspflicht verstoßen, indem es unterlassen hat, eine Stellungnahme des Angeklagten auf Video in Augenschein zu nehmen und zwei über die Tat des Angeklagten erschienene Zeitungsartikel (Bild-Zeitung und Süddeutsche Zeitung) zu verlesen, ist hinsichtlich des Artikels in der Süddeutschen Zeitung unzulässig erhoben. Im Übrigen deckt die Rüge jedenfalls keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf:

a) Die Aufklärungsrüge ist jedenfalls hinsichtlich des von der Revision näher bezeichneten Artikels in der Süddeutschen Zeitung unzulässig erhoben. Im Übrigen lässt es der Senat offen, ob die Aufklärungsrüge hinsichtlich Tw…-Video und Artikel in der Bild-Zeitung zulässig erhoben wurde.

i) Um eine zulässige Aufklärungsrüge zu erheben, muss der Revisionsführer das bekannte oder erkennbare Beweismittel angeben und die Beweisthematik so genau und konkret umschreiben, dass zu ersehen ist, welcher bestimmte Sachverhalt zum Gegenstand der Beweiserhebung hätte gemacht werden müssen. Weiter muss er ein zu erwartendes bestimmtes Beweisergebnis darlegen und eindeutig behaupten, eine Beweiserhebung würde die vorgetragenen Tatsachen ergeben haben. Weiter muss er die Relevanz dieses zu erwartenden Ergebnisses darlegen, also ausführen, dass es (möglichweise) für den Schuldspruch oder den Ausspruch über die Rechtfolgen Bedeutung erlangt hätte. Zudem muss der Revisionsführer die Umstände darlegen, die für die Beantwortung der Frage, ob sich dem Gericht die vermisste Beweiserhebung aufdrängen musste, bedeutsam sein konnten (Krehl in KK, StPO, 9. Aufl. 2023, § 244 Rn. 216) .

ii) Die Revision trägt nicht vor, aus welchen Gründen sich für das Tatgericht die Verlesung des Artikels in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Februar 2023 „Klimaaktivisten kleben sich auf der Straße fest“ aufgedrängt hätte. Der Artikel ist nicht Bestandteil der Akte. Die Revision führt zudem auch nicht aus, dass sie das Gericht mündlich oder schriftlich auf den Artikel und seine mögliche Bedeutung als Beweismittel hingewiesen habe. Ein Vortrag, dass dem Gericht der Artikel aus anderen Quellen bekannt geworden ist, liegt ebenfalls nicht vor. Die Revision führt lediglich aus, der Artikel sei für das Amtsgericht über eine „google-Recherche“ im Internet auffindbar gewesen (RevBegr. S. 15). Mangels jeglichen Vortrags, dass sich dem Tatgericht die Internet-Recherche und sich daraus ergebend die Verlesung des genannten Artikels der Süddeutschen Zeitung hätte aufdrängen müssen, ist die Aufklärungsrüge in diesem Zusammenhang unzulässig erhoben.

b) Die Aufklärungsrüge ist hinsichtlich des Tw…-Videos und des Artikels in der Bild-Zeitung jedenfalls unbegründet, weil die objektiven Gegebenheiten nicht zur Beweiserhebung durch das Tatgericht drängten:

i) Auf Grund einer zulässig erhobenen Aufklärungsrüge prüft das Revisionsgericht die mögliche Erheblichkeit einer vom Tatgericht unterlassenen Beweiserhebung unter Heranziehung des für die Begründetheit der Rüge relevanten Stoffs, vor allem anhand der tatrichterlichen Urteilsgründe und der Akten, sowie insbesondere auch die Frage, ob sich die unterlassene Beweiserhebung dem Tatrichter nach der Sachlage aufdrängen musste (Krehl in KK, StPO, 9. Aufl. 2023, § 244 Rn. 220). Entscheidend ist dabei allein, ob nach »Sicht der Dinge« des Revisionsgerichts die Durchführung der in Rede stehenden Beweiserhebung zur weiteren Aufklärung erforderlich gewesen wäre (BGH, StV 1996, 581, 582).

ii) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Sachlage nicht zur Erhebung der von der Revision vermissten Beweismittel gedrängt:

(1) Die Revision führt in diesem Zusammenhang aus, der Angeklagte habe in einem Tw…-Video medial kommuniziert, dass der Zweck des Protests in erster Linie die Verhinderung einer Klimakatastrophe gewesen sei. Die Bildzeitung hätte über die Straßenblockade als Klimaprotest berichtet und so öffentlichkeitswirksam die Klimakrise als das Hauptanliegen des Angeklagten und seiner Begleiter kommuniziert (RevBegr. S. 6).

(2) In dem Tw…-Video erklärt der Angeklagte nach dem Vortrag der Revision jedoch lediglich, er habe sich in München auf einer Straße festgeklebt, weil wir in einem globalen Klimakollaps seien, der in den nächsten Jahrzehnten ein Massensterben auslösen werde und Hungersnöte in der ganzen Welt, die wir heute schon sähen. Wir könnten so nicht weitermachen. Essen wegwerfen, sei in Anbetracht, dass 700 Millionen Menschen weltweit hungern würden, sowieso ethisch nicht vertretbar. Deswegen würden sie ein „Essen-Retten-Gesetz“ fordern. Er fordere die Bundesregierung auf, dieses Essen-Retten-Gesetz jetzt zu verabschieden. Wenn das passiere, würden sie mit dieser Störung aufhören. Die Ausführungen des Angeklagten in dem Video thematisieren zwar den „Klimakollaps“, indem sie ihn verantwortlich machen für Hungernöte auf der Welt. Nach diesen Worten ruft der Angeklagte dann dazu auf, kein „Essen“ mehr wegzuwerfen. Von der Bundesregierung fordert er den Erlass eines „Essen-Retten-Gesetzes“ und erklärt, die Störaktionen von ihm und seiner Gesinnungsgenossen würden aufhören, wenn ein solches Gesetz erlassen ist.

(3) Im von der Revision vorgelegten Artikel der Bild-Zeitung findet sich im thematisierten Zusammenhang in der Überschrift die Wendung, dass ein Sitzstreik für Klima in München stattgefunden habe. Im Artikel wird ausgeführt, fünf Klima-Aktivisten hätten einen Sitzstreik auf der F. straße durchgeführt. Außerdem hätte die Aktivisten Obst und Gemüse auf die Fahrbahn geworfen. Motto der Aktion sei gewesen: „Aufstand der letzten Generation“ und „Essen retten – Leben retten“. Ein Aktivist habe geäußert, sie würden für unser aller Klima kämpfen, sie wollten die Regierung unter Druck setzen. Dazu gehöre auch, aufzuhören, Nahrungsmittel im Überfluss zu produzieren, die dann weggeworfen würden.

(4) Das Amtsgericht hat in den Urteilsgründen ausgeführt, die drei Angeklagten hätten den äußeren Sachverhalt, wie festgestellt, glaubhaft eingeräumt. Das Amtsgericht hat dazu u.a. festgestellt, der Angeklagte und seine vier Begleiter hätten die F. straße blockiert. Sie hätten vor sich diverses Obst und Früchte verteilt und zwei Transparente ausgerollt. Auf diesen stand „Essen Retten Leben Retten“ und „Aufstand der Letzten Generation“ (UA. S. 5). Nach den Feststellungen des Amtsgerichts war demnach aufgrund des Transparents „Essen Retten Leben Retten“ und der Verteilung von Obst und Früchten auf der blockierten Fahrbahn der Kampf gegen Lebensmittelverschwendung klar und ausdrücklich ersichtlich. Das Transparent „Aufstand der Letzten Generation“ deutete lediglich mittelbar und auch nur für Personen, die mit den Sachverhalten vertraut waren, darauf hin, dass auch gegen den Klimawandel Stellung genommen werden sollte.

(5) Der von der Revision vorgetragene Inhalt des Videos stützt nicht die Annahme, der Zweck des Protestes sei in erster Linie die Verhinderung einer Klimakatastrophe gewesen. Vielmehr dient der Hinweis auf den „Klimakollaps“ als Hinführung zum Thema Nahrungsmittelverschwendung. Zu diesem Komplex bringt dann auch der Angeklagte seine Forderung nach einem „Essen-Retten-Gesetz“ vor und kündigt das Ende der Aktionen für den Fall an, dass ein solches Gesetz verabschiedet wird. Die „Klimakatastrophe“, der „Klimakollaps“ oder die „globale Erwärmung“ werden nicht mehr erwähnt. Auch in dem von der Revision vorgelegten Artikel in der Bild-Zeitung wird die Tat des Angeklagten als Kampf für das Klima und als Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung bezeichnet. Dass die Klimakrise das Hauptanliegen des Angeklagten gewesen sei, kann dem Artikel jedoch nicht entnommen werden. Vielmehr nimmt die Berichterstattung im Zusammenhang mit Lebensmitteln deutlich breiteren Raum ein. Der Kampf für das Klima wird hingegen lediglich in der Überschrift und in der Äußerung des von den Journalisten gehörten Aktivisten erwähnt. Bei dieser Sachlage unter Berücksichtigung der objektiven Umstände der Blockade und dem dargestellten Inhalt von Video und Zeitungsartikel hat die Sachlage nicht dazu gedrängt, das Video in Augenschein zu nehmen und den Zeitungsartikel zu verlesen.“

Puh 🙂

Strafe II: Begründung der kurzen Freiheitsstrafe, oder: Der „typisch verklärte Blick“ des BtM-Konsumenten?

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Und als zweite Entscheidung dann der OLG Celle, Beschl. v. 07.08.2023 – 3 ORs 42/23. Ein Klassiker, nämlich die Begründung der kurzfristigen Freiheitsstrage (§ 47 StGB).

Das AG hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zu Bewährung ausgesetzt wurde. Dagegen die Sprungrevision, die Erfolg hatte. Es passt mal wieder nicht:

„Die Erörterungen im Rechtsfolgenausspruch begegnen hinsichtlich des Strafausspruchs rechtlichen Bedenken.

Die Tatrichterin ist von dem zutreffenden Strafrahmen ausgegangen. Die Ausführungen zu der Unerlässlichkeit einer kurzen Freiheitsstrafe gemäß § 47 StGB halten rechtlicher Prüfung jedoch nicht stand.

§ 47 StGB ist Ausdruck der gesetzgeberischen Entscheidung, dass die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen nur im Ausnahmefall in Betracht kommt. Eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten statt einer (möglichen) Geldstrafe darf nur verhängt werden, wenn besondere Umstände entweder in der Tat oder in der Persönlichkeit des Täters gegeben sind. Die Freiheitsstrafe muss nach einer Gesamtwürdigung der die Tat und Täterpersönlichkeit kennzeichnenden Umstände unerlässlich sein. Mit Blick auf diesen Ausnahmecharakter erfordert die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe eine eingehende und nachvollziehbare Begründung (vgl. BGH StV 1982, 366; 1994, 370; OLG Köln, Beschluss vom 18. Februar 2003 – Ss 36/03422; BeckOK StGB/von Heintschel-Heinegg StGB § 47 Rn. 1). Aus dieser Begründung muss sich ergeben, aufgrund welcher konkreten Umstände sich die Tat oder der Täter derart von dem Durchschnitt solcher Taten oder dem durchschnittlichen Täter abhebt, dass eine Freiheitsstrafe ausnahmsweise unerlässlich ist (OLG Karlsruhe StV 2005, 275). Bejaht der Tatrichter – wie vorliegend – eine positive Sozialprognose iSv § 56 Abs. 1 StGB, bedarf es grundsätzlich einer eingehenden Darlegung und Würdigung der Gründe, welche die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter iSv § 47 Abs. 1 StGB (dennoch) unerlässlich machen (vgl. OLG Zweibrücken BeckRS 2022, 399), dies gilt umso mehr, wenn es sich um einen bislang nicht vorbelasteten Täter handelt (MüKoStGB/Maier StGB § 47 Rn. 59).

Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht. Die Tatrichterin begründet die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe einzig damit, dass es sich bei dem Angeklagten um einen „anhaltenden Betäubungsmittelkonsumenten“ handele.

Diese Annahme findet in den Urteilsgründen bereits keine hinreichende Tatsachengrundlage, die eine Überprüfung durch den Senat ermöglichen würde. In den Feststellungen des angefochtenen Urteils heißt es insoweit: „Sowohl bei der Durchsuchung am 3.2.22, wie auch an dem Tag der Hauptverhandlung, stand der Angeklagte unter dem Einfluss von unbekannten Betäubungsmitteln“. Die Annahme der Betäubungsmittelabhängigkeit stützt das Amtsgericht ausschließlich auf die Angaben des Zeugen Richter, dass der Angeklagte bei der Durchsuchung seiner Wohnung wie auch am Tag der Hauptverhandlung „einen typisch verklärten Blick gehabt, als würde er selbst Drogen konsumieren“, sowie aus dem persönlichen Eindruck in der Hauptverhandlung. Es handelt sich um eine bloße Annahme, die nicht mit Tatsachen belegt wird. Die Urteilsgründe verhalten sich weder dazu, warum der Zeuge oder die erkennende Richterin über die Sachkunde verfügten, eine etwaige Beeinflussung durch ein Betäubungsmittel feststellen zu können, noch wieso daraus auf einen anhaltenden Betäubungsmittelkonsum geschlossen werden kann. Objektive Beweismittel, die den Schluss einer Beeinträchtigung durch Betäubungsmittel am Tag der Durchsuchung stützen könnten, wie z.B. ein Protokoll über etwaige körperliche Auffälligkeiten des Angeklagten oder das Ergebnis einer toxikologischen Untersuchung etwaiger Blutproben oder andere Beweismittel, die auf einen Eigenkonsum hindeuten, lassen sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Dies gilt gleichermaßen für die Annahme einer (klinischen) Betäubungsmittelabhängigkeit wie auch für die Annahme, der Angeklagte habe am Hauptverhandlungstag unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln gestanden.

Unabhängig von den fehlenden objektiven Anknüpfungspunkten begegnet es auch erheblichen Bedenken, von einer (möglichen) zweimaligen Beeinflussung durch Betäubungsmittel auf eine Betäubungsmittelabhängigkeit zu schließen. Zutreffend führt die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme aus, dass Drogenabhängigkeit ein Zustand seelischer oder seelischer und körperlicher Abhängigkeit von einer legalen oder illegalen Droge mit zentralnervöser Wirkung ist, der durch die periodische oder ständig wiederholte Einnahme dieser Substanz charakterisiert ist, dessen Merkmale je nach Art der eingenommenen Droge variieren. Zur Feststellung einer Drogenabhängigkeit müssen die Einzelheiten über die Art der Droge, die Dauer des Konsums, die Dosierung sowie sonstige Umstände festgestellt werden, die Hinweise auf das Ausmaß der Abhängigkeit geben können, möglichst genau geklärt werden. Hieran fehlt es in dem angefochtenen Urteil gänzlich.

Unabhängig davon, dass die Feststellungen, auf denen das Tatgericht seine Entscheidung stützt, insoweit bereits lückenhaft sind, lässt die Entscheidung über die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe die erforderliche Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit vermissen. Das Tatgericht hat sich insoweit weder mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass der Angeklagte bislang unbestraft ist und sich vollständig zu seiner Tat bekannt hat, noch damit, dass eine positive Sozialprognose vorliegt. Diese gewichtigen Umstände werden jedoch heranzuziehen sein.“