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OWi II: Zum Verfahrensrecht im Bußgeldverfahren, oder: Quer durch das OWiG

Und im zweiten Psting hier ein paar Entscheidungen zum Verfahrensrecht im Bußgeldverfahren, ein wenig „Ecken sauber machen“. 🙂 Vorgestellt werden aber jeweils nur die Leitsätze, und zwar:

Eine Vertretung des Betroffenen in der Hauptverhandlung im Sinne der § 73 Abs. 3, 79 Abs. 4 OWiG setzt den Nachweis der Vertretungsvollmacht voraus. Im Falle einer Untervertretung genügt es hierfür nicht, wenn zwar eine vom Wahlverteidiger dem Untervertreter erteilte Vollmacht zu den Akten gelangt ist, aber keine dem Wahlverteidiger erteilte Vertretungsvollmacht nachgewiesen ist.

1. Zur Beurteilung der Frage, ob bei der Verhängung mehrerer Geldbußen die Wertgrenze des § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG überschritten ist, sind einzelne Geldbußen zu addieren, soweit sie wegen einer Tat im prozessualen Sinne gemäß § 264 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG verhängt wurden.

2. Kann aufgrund der unzulänglichen tatrichterlichen Feststellungen nicht beurteilt werden, um wie viele prozessuale Taten es sich bei den abgeurteilten Verstößen gegen das Steuerberatungsgesetz handelt, sind die verhängten Geldbußen für die Prüfung der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde zusammenzurechnen.

Das Verschlechterungsverbot hindert das neue Tatgericht im neuen Rechtsgang nicht an der Verurteilung wegen einer für den Betroffenen nachteiligen Schuldform (hier Vorsatz statt Fahrlässigkeit), wohl aber an der Verhängung einer gegenüber dem ersten Rechtsgang höheren Geldbuße.

1. Nach der unmissverständlichen Formulierung des § 79 Abs.1 Satz 2 OWiG ist die Zulassung der Rechtsbeschwerde nur gegen Urteile möglich. Gegen nach § 72 OWiG erlassene Beschlüsse ist eine Zulassungsrechtsbeschwerde ausgeschlossen.

2. Gibt das Tatgericht dem Betroffenen unter Fristsetzung die Möglichkeit, rechtsfolgenmindernde Umstände nachzuweisen (hier: verkehrserzieherische Nachschulung), so stellt es eine Verletzung rechtlichen Gehörs im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 OWiG dar, wenn der nach § 72 OWiG ergehende Beschluss vor Fristablauf ergeht.

1. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist nicht allein deshalb geboten, weil das angefochtene Urteil keine Urteilsgründe enthält, obwohl die Voraussetzungen des § 77b OWiG, unter denen von der Fertigung von Urteilsgründen abgesehen werden kann, nicht gegeben sind, da ggf. insbesondere bei massenhaft auftretenden Bußgeldverfahren wegen einfacher Verkehrsordnungswidrigkeiten, die in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten aufweisen, die Zulassungsvoraussetzungen häufig auch ohne Kenntnis von Urteilsgründen geprüft werden können.

2. Ist jedoch das Recht auf rechtliches Gehär des Betroffenen verletzt, ist die Rechtsbeschwerde ggf. zuzulassen.

So, Ecken sauber. Und das Bild mal nur so bzw.: Die o.a. Fragen sind alle auch in unserem OWi-Hnadbuch angesprochen. Zur <<Werbemodus an>> Bestellseite geht es hier. <<Werbemodus aus>>.

 

 

 

StGB I: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, oder: Entkleidung einer Frau im Beisein männlicher Beamter

© ernsthermann – Fotolia.com

Ich stelle heute dann StGB-Entscheidungen vor, die eins gemeinsam haben: Es handelt sich um nicht alltägliche Fallgestaltungen.

Schon etwas älter ist die erste Entscheidung, die ich vorstelle. Es handelt sich um den BayObLG, Beschl. v. 07.12.2022 – 206 StRR 296/22. Das LG hatte die Angeklagte wegen eines Geschehens, das noch in der „Corona-Zeit“ liegt wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung in Tatmehrheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit drei tateinheitlichen Fällen der Beleidigung“ verurteilt.

Dagegen die Revision der Angeklagten, die nur teilweise Erfolg hatte. Das BayObLG hat nämlich die Revision wegen eines Teils des Berufungsurteils verworfen, insoweit bitte selbst lesen. Wegen eines weiteren Teils hatte sie hingegen Erfolg. Insoweit geht es um die Frage der Strafbarkeit wegen tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) durch Widerstandshandlungen einer weiblichen Person, die aufgrund polizeirechtlicher Vorschriften zur Durchsetzung einer Platzverweisung in Gewahrsam genommen und in eine Haftzelle verbracht wurde, gegen ihre Entkleidung, die nach zunächst erfolglosen Maßnahmen weiblicher Polizeibeamtinnen unter Anwendung unmittelbaren Zwangs unter Beteiligung mehrerer männlicher Polizeibeamter bis auf den Slip durchgeführt wurde. Dazu das BayObLG:

„Die Revision erweist sich hingegen als begründet, soweit das Verhalten der Angeklagten im zweiten Teilkomplex des Gesamtgeschehens zu einer Verurteilung geführt hat. Das Berufungsurteil weist insoweit durchgreifende Darstellungs- und Erörterungsmängel auf.

1. Ein Schuldspruch wegen tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte setzt, was das Landgericht im Ansatz zutreffend gesehen hat, in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 3 StGB die Rechtmäßigkeit der vorgenommenen Diensthandlung voraus (Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 114 Rn. 6). Auf der Grundlage der Urteilsfeststellungen fehlt es hieran, wie die Revision zu Recht beanstandet. Auch die Generalstaatsanwaltschaft schließt sich dem in ihrer Stellungnahme vom 21. September 2022 im Ergebnis an; soweit die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft die Entkleidung der Angeklagten in der Haftzelle betreffen, nimmt der Senat hierauf ergänzend zu den nachfolgenden Ausführungen Bezug.

a) Der von der Angeklagten geleistete tätliche Widerstand richtete sich ausweislich der Feststellungen nicht gegen ihre Ingewahrsamnahme als solche gemäß Art. 17 PAG in der zur Tatzeit geltenden, von der aktuellen Rechtslage abweichenden Fassung vom 25. Mai 2018 bis 31. Juli 2021. Gegen ihre Verbringung zur Polizeidienststelle hat sich die Angeklagte nicht gewehrt. Tätlichen Widerstand leistete sie vielmehr erst gegen die ihr in der Haftzelle erteilte Aufforderung, sich (offensichtlich: vollständig oder nahezu vollständig) zu entkleiden, sowie gegen ihre zwangsweise Entkleidung, vorgenommen durch zwei Polizeibeamtinnen, die dabei von männlichen Beamten unterstützt wurden (UA S. 8), wobei der Senat anmerkt, dass in den Urteilsfeststellungen lediglich das Hinzukommen eines männlichen Beamten (POM …) geschildert wird, während sich aus den Aussagen der Zeugen eine Unterstützung durch drei männliche Beamte ergibt (UA S. 14, S. 15), von welchen einer sogar den BH der Angeklagten geöffnet hat (UA S. 15).

b) Ob die Ingewahrsamnahme der Angeklagten nach Art. 17 PAG gerechtfertigt war, begegnet zwar Bedenken, eine abschließende Entscheidung ist aber auf der Grundlage der insoweit lückenhaften Feststellungen weder möglich noch ist sie erforderlich. Selbst wenn eine etwaige weitere Sachverhaltsaufklärung durch den neuen Tatrichter die Beurteilung erlauben würde, dass die Ingewahrsamnahme als solche rechtmäßig war, stellt dies kein Präjudiz für die Rechtmäßigkeit der Entkleidungsanordnung dar. Die Frage der Anordnung der Ingewahrsamnahme und deren Vollzug sind grundsätzlich voneinander zu scheiden (BVerfG, Beschluss vom 13. Dezember 2005, 2 BvR 447/05, juris Rn. 61). Auch wenn die Anordnung der Ingewahrsamnahme rechtmäßig ist, kann sich eine einzelne Maßnahme während des Vollzugs als rechtwidrig erweisen (BVerfG a.a.O.).

c) Die Maßnahme der Entkleidung, gegen die die Angeklagte Widerstand leistete, stellt einen gravierenden, jedenfalls durch die festgestellten Tatsachen nicht zu rechtfertigenden Grundrechtseingriff dar und war damit rechtswidrig.

(1) Maßnahmen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen allgemein einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 GG dar (VG Augsburg, Urteil vom 10. Dezember 2021, Au 8 K 20.1952, juris Rn. 28; BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2009, 2 BvR 455/08, juris Rn. 25 für eine mit einer Entkleidung verbundene Durchsuchung). Neben dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ist auch die Menschenwürde, Art. 1 GG, tangiert. Die Maßnahme einer Entkleidung kann allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn sie zum Schutz der in Gewahrsam genommenen Person selbst oder zum Schutz der Beamten vor Gefahren für Leib und Leben im Einzelfall geboten erscheinen (VG Augsburg a.a.O.).

(2) Der Senat kann den Feststellungen keine tatsächlichen Umstände entnehmen, die die Entkleidung der Angeklagten hätten rechtfertigen können.

aa) Nach den Angaben der als Zeugin vernommenen Polizeibeamtin pp. habe sich die Anordnung auf „Vorschriften der HVOPol“ gestützt (UA S. 8, 14); eine konkrete Bestimmung wurde dabei von ihr nicht genannt. Weiter nach Aussage der Zeugin – der sich die Berufungskammer ohne weitere Erörterung kritiklos angeschlossen hat (UA S. 17) –, seien „in einem BH meistens Metallbügel verarbeitet, die man leicht entnehmen könne und die dann gefährlich sein könnten“ (UA S.17).

Auf diese Behauptungen und Wertungen lässt sich die Maßnahme indessen nicht stützen. Nr. 3 Abs. 1 der Haftvollzugordnung der Polizei (HVPol), die zur Tatzeit in Geltung war (Fassung vom 5. April 1978) und inzwischen außer Kraft ist (seit 1. Mai 2022) ordnete an, dass ein Polizeihäftling sachlich, gerecht und unter Achtung der Menschenwürde zu behandeln sei. Gemäß der auch vom Landgericht herangezogenen Nr. 16 Abs. 1 der HVPol waren Gegenstände des Polizeihäftlings, die u.a. zur Schädigung von Leben und Gesundheit verwendet werden konnten, zu beschlagnahmen; beispielhaft waren Messer, Werkzeuge, Gürtel, Hosenträger u.a. genannt. Nach Nr. 16 Abs. 2 der HVPol war ein Polizeihäftling auf die nach Abs. 1 sicherzustellenden Gegenstände gründlich zu durchsuchen.

Von einer Entkleidung ist in der Verordnung nicht die Rede. Selbst wenn unterstellt wird, dass in einen BH Metallbügel eingearbeitet sein können – worauf sich die Annahme, dies sei „meistens“ der Fall, stützt, ist nicht dargelegt und dürfte auch tatsächlich nicht zutreffen – erschließt sich dem Senat nicht, warum zur Feststellung, ob ein solcher BH von der Angeklagten getragen wurde, deren vollständige Entkleidung notwendig gewesen sein sollte, insbesondere auch der Bekleidung des Unterkörpers, wobei in den Feststellungen nicht einmal mitgeteilt wird, worin diese Kleidung bestand und ob von dieser irgendeine Gefahr ausgehen konnte. Dass es bedeutend mildere Maßnahmen zur Feststellung, ob der BH der Angeklagten im konkreten Fall tatsächlich so beschaffen war, dass er als Werkzeug zur Schädigung von Leben oder Gesundheit hätte verwendet werden können (z.B. Abtasten durch eine weibliche Beamtin unter der Oberbekleidung, ggf. Ablegen des BH unterhalb der Kleidung durch die Angeklagte), liegt auf der Hand. Feststellungen, wonach solche milderen Eingriffe im konkreten Fall nicht möglich gewesen wären, sind nicht getroffen. Die vollständige Entkleidung der Angeklagten – das Gericht teilt in den Feststellungen nicht mit, ob und welche Kleidungsstücke die Angeklagte anbehalten durfte, lediglich aus einer Zeugenaussage ergibt sich, dass sie wenigstens ihren Slip habe anbehalten dürfen (UA S. 15) – stellt sich im Hinblick darauf als grob unverhältnismäßig und als schwerwiegender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Angeklagten dar.

bb) Dass eine, wie von einer Zeugin geschildert, etwaige „allgemeine Anordnung des Polizeipräsidiums“ und „eine seit Jahren bewährte Praxis“ (UA S. 17) nicht geeignet sind, einen derart gravierenden Eingriff wie das vollständige Entkleiden einer in Polizeigewahrsam genommenen Person unabhängig von den Umständen des konkreten Einzelfalls zu rechtfertigen, bedarf keiner weiteren Erörterung. Derartige Faktoren können fehlende gesetzliche Eingriffsgrundlagen nicht ersetzen.

cc) Feststellungen dazu, dass sich die Entkleidung der Angeklagten aus anderen Gründen als zum Zweck der Sicherstellung eines etwaig getragenen Büstenhalters mit eingearbeiteten Bügeln als erforderlich erwiesen habe, sind nicht getroffen. Im Übrigen unterlassen es die Urteilsgründe zudem, mitzuteilen, ob und welche Art von BH von der Angeklagten tatsächlich getragen wurde.

(2) Hinzu kommt schließlich noch, dass die Entkleidung der Angeklagten – bei andauerndem Widerstand ihrerseits – unter Hinzuziehung männlicher Beamter stattgefunden hat, wobei sich zudem ein offener Widerspruch zwischen den Feststellungen (UA S. 8: PHM … sei „in die Zelle gekommen, um zu helfen“) und der erhobenen Beweise (UA S. 14): PHM … [männlich] habe sich zusammen mit PHM … [männlich] und PHM … [männlich] in die Zelle begeben, danach sei der Körper der Angeklagten fixiert worden. Schließlich habe der männliche Beamte … den BH-Verschluss geöffnet (UA S. 15).

Die Beteiligung männlicher Beamter an der Entkleidung der Angeklagten beinhaltet zunächst einen eklatanten Verstoß gegen Nr. 16 Abs. 4 HVPol, welcher anordnet dass, bei der körperlichen Durchsuchung von Frauen Männer nicht einmal anwesend sein durften, was nach dem Gesetzeszweck nicht nur für die Durchsuchung des Körpers, sondern auch für eine Durchsuchung gemäß Nr. 16 Abs. 2 HVPol nach Gegenständen im Sinne der Nr. 16 Abs. 1 HVPol zumindest dann gelten musste, wenn diese Durchsuchung in der Bekleidung vorgenommen wurde oder gar mit deren fast vollständiger Entfernung vom Körper der Betroffenen verbunden war. Zudem liegt gleichzeitig ein Verstoß gegen Art. 21 Abs. 3 PAG in der zur Tatzeit geltenden Fassung vom 24. Juli 2017, insoweit gleichlautend mit der geltenden Fassung, vor, wonach Personen nur von Personen gleichen Geschlechts oder Ärzten durchsucht werden durften. Dies ist nur dann anders, wenn die sofortige Durchsuchung zum Schutz gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist. Dafür, dass diese Voraussetzungen vorgelegen hätten, ergibt sich aus den Feststellungen nicht im Ansatz ein Hinweis. Ob ein BH, der als gefährlicher Gegenstand hätte missbraucht werden können, getragen wurde, hätte sich, wie dargelegt, durch Maßnahmen deutlich geringerer Eingriffsintensität als durch das fast vollständige Entkleiden der Angeklagten unter Beteiligung dreier männlicher Beamter feststellen lassen, ggf. sogar unter Festhaltung der bekleideten Angeklagten durch männliche Beamte und Überprüfung der Beschaffenheit des BHs unter der Oberbekleidung durch eine weibliche Beamtin.

d) Soweit die Angeklagte gegen die Maßnahme des zwangsweisen Entkleidens tätlichen Widerstand geleistet hat, kann sie sich somit wegen deren jedenfalls auf der Grundlage der Feststellungen des Berufungsurteils bestehenden Rechtswidrigkeit weder wegen eines tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte nach § 114 StGB noch – vom Berufungsgericht ohnehin übersehen – wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB schuldig gemacht haben. Der Schuldspruch wird vom Revisionsgericht aufgehoben.“

Klima I: Festkleben auf Straßen zum Klimaschutz, oder: BayObLG sagt, das ist als Nötigung strafbar

entnommen wikimedia commons Author Jan Hagelskamp1

Und dann auf in die 21. KW., und zwar mit „Klima-Entscheidungen“.

Zunächst stelle ich hier die nächste obergerichtliche Entscheidungen zur Frage der Rechtfertigung des Festklebens auf Straßen zum Klimaschutz vor. Zur Frage der Rechtfertigung hatte sich ja bereits vor einiger Zeit das OLG Celle im OLG Celle, Beschl. v. 29.07.2022 – 2 Ss 91/22 – geäußert. Nun habe ich hier den BayObLG, Beschl. v. 21.04.2023 – 205 StRR 63/23.

Es handelt sich um einen „Normalfall“. Der Angeklagte hatte sich auf der Fahrbahn einer Straße in München mit Sekundenkleber festgeklebt und dadurch im Zusammenwirken mit weiteren Personen eine unbekannte, größere Anzahl von Autofahrern am Weiterfahren gehindet oder zur Umfahrung der blockierten Straße gezwungen. Das AG hat den Angeklagten wegen Nötigung schuldig gesprochen. Seine Revision dagegen blieb erfolglos:

„3. Die Sachrüge ist ebenfalls unbegründet. Die umfassende Nachprüfung des Urteils durch den Senat deckt aufgrund der erhobenen Sachrüge keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf:

a) Die Tat stellt in objektiver und subjektiver Hinsicht eine Nötigung im Sinne von 240 Abs. 1 StGB dar. Insoweit wird Bezug genommen auf die zutreffenden und nicht ergänzungsbedürftigen Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 20. März 2023, die von der Revision auch nicht in Frage gestellt werden.

b) Die Tat des Angeklagten ist verwerflich im Sinne von 240 Abs. 2 StGB. Insoweit ist ergänzend zu den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft zu bemerken:

i) Die Tat des Angeklagten ist nicht gerechtfertigt:

(1) Gerechtfertigte Nötigungen können nicht verwerflich im Sinne von § 240 Abs. 2 StGB sein. Daher ist die Verwerflichkeit nur dann zu prüfen, wenn kein allgemeiner Rechtsfertigungsgrund eingreift (Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 240 Rn. 38a) (a) Die Tat des Angeklagten ist nicht nach Art. 20 Abs. 4 GG gerechtfertigt:

(i) Gemäß Art. 20 Abs. 4 GG haben alle Deutschen gegen jeden, der es unternimmt, die in Art. 20 GG niedergelegte Ordnung zu beseitigen, das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Das Widerstandsrecht kann gegen jeden ausgeübt werden, der es unternimmt diese Ordnung zu beseitigen (Dürig/Herzog/Scholz/Grzeszick GG Art. 20 Rn. 17). Andere Abhilfe darf jedoch nicht möglich sein. Diese als „Subsidiaritätsklausel“ verstandene Beschränkung gestaltet das Widerstandsrecht zu einem äußersten und letzten Notmittel. Hintergrund der Einschränkung ist das staatliche Gewaltmonopol als Grundpfeiler moderner Staatlichkeit. Die legitime Anwendung physischer Gewalt soll deshalb erst dann in private Hände gegeben werden, wenn der Staat die verfassungsmäßige Ordnung nicht hinreichend schützen kann. (Grzeszick a.a.O Rn. 23).

(ii) Letzteres ist jedenfalls nicht der Fall. Es liegt derzeit keine Konstellation vor, in der die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet ist und die staatlichen Organe, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr in der Lage sind, die verfasste Ordnung selbst hinreichend zu schützen. Vielmehr ist der Staat in seiner Handlungsfähigkeit nicht eingeschränkt. Anders als der Angeklagte hält die gesetzgeberische Mehrheit im Parlament, die vom Angeklagten gewünschten gesetzgeberischen Aktivitäten zumindest derzeit nicht für erforderlich. Auf der Grundlage der Überzeugungen des Angeklagten ließe sich die Situation schlagwortartig zusammenfassen: Der Staat kann zwar die verfasste Ordnung schützen; er ergreift aber nicht die vom Angeklagten für nötig erachteten Maßnahmen.

(iii) Daneben ist auch nicht erkennbar, dass der Angeklagte seine „Widerstandshandlung“ gegen denjenigen richtete, der es unternahm, die in Art. 20 GG niedergelegte Ordnung zu beseitigen. Nach Auffassung des Angeklagten stellt die Klimakrise eine Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung dar. Dieser Gefahr werde mangels staatlicher Gegenmaßnahmen nicht entsprechend begegnet. Ausgehend vom Ansatzpunkt des Angeklagten kämen als Adressat seiner Widerstandshandlung daher nur die Regierung und die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften in Betracht. Gegen die konkret von seiner Tat betroffenen Autofahrer war daher schon aus diesem Grund kein „Widerstand“ nach Art. 20 GG zulässig.

(b) Die Tat des Angeklagten ist nicht nach § 34 StGB gerechtfertigt:

(i) Voraussetzungen für das Eingreifen dieses Rechtfertigungsgrundes ist u.a. das Vorliegen einer Gefahr. Es muss also ein Zustand gegeben sein, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht. Die Gefahr muss gegenwärtig sein. Dies ist dann der Fall, wenn bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Eintritt eines Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich ist, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden (Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 34 Rn. 4, 7 m.w. N.). Die bestehende Gefahr darf nicht anders abwendbar sein als durch die Begehung der Tat. Die Tat muss daher geeignet und erforderlich sein, die Gefahr abzuwenden. Es darf zudem kein weniger einschneidendes Abwendungsmittel zur Verfügung stehen (Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 34 Rn. 9; BeckOK StGB Momsen/Savic StGB § 34 Rn. 7; Rönnau in Leipziger Kommentar, 13. Aufl. 2019, vor §§ 32 StGB Rn. 134).

(ii) In der vorliegenden Sachverhaltskonstellation scheidet eine Rechtfertigung der Tat des Angeklagten bereits deshalb aus, weil ihm zum Erreichen seines Ziels mildere Mittel zur Verfügung standen und er nicht eine Straftat hätte begehen müssen. Als milderes Mittel zur Einwirkung auf den politischen Meinungsbildungsprozess hätte er beispielsweise hierauf bezogene Grundrechte, nämlich Art. 5 GG (Meinungsfreiheit), Art. 8 (Versammlungsfreiheit), Art. 17 GG (Petitionsrecht) ausüben, bzw. von der Möglichkeit des Art. 21 GG (Freiheit der Bildung politischer Parteien) Gebrauch machen können (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 29 Juli 2022 – 2 Ss 91/22 – juris Rn. 11). Daneben stünde ihm auch noch der Weg offen, dass er und gegebenenfalls weitere Personen im direkten Gespräch oder über sonstige Kommunikationsmittel auf Mitglieder der Regierung und/oder der gesetzgebenden Körperschaften zur Erreichung ihrer Ziele einwirken. Da bereits das Vorhandensein von milderen Mitteln die Anwendbarkeit von § 34 StGB ausschließt, ist der Senat nicht gehalten, die Streitfrage, ob derartige Verkehrsblockaden als Teil eines komplexen und gegebenenfalls längerfristigen Vorgehens geeignet sind, die Gefahren, die sich aus der globalen Erwärmung ergeben können, zu beseitigen (vgl. bejahend MüKoStGB/Erb StGB § 34 Rn. 113; Bönte, HRRS 2021, 164, 168; verneinend: Zieschang in Leipziger Kommentar, 13. Aufl. 2019, § 34 StGB Rn 91; Schönke/Schröder/Perron, 30. Aufl. 2019, StGB § 34 Rn. 19).

(iii) Die Revision meint, im Einzelfall könne eine politisch motivierte Verkehrsblockade nach § 34 StGB gerechtfertigt sein.

1. Die Revision räumt ein, § 34 StGB könne grundsätzlich keine Gesetzesverletzungen rechtfertigen, die darauf angelegt seien, eigenmächtig Maßnahmen durchzusetzen, die einer Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers bedürften. Denn dies würde abschließende Verfahrensregelungen missachten, die Ausdruck des Mehrheitsprinzips seien. Anders sei dies aber angesichts des existentiellen Risikos der globalen Erwärmung zu sehen. Ähnlich wie in der „notwehrähnlichen Lage“ sei eine Rechtfertigung von vorbeugenden „Widerstandsmaßnahmen“ nach § 34 StGB nicht ausgeschlossen. Eine Straftat könne im Einzelfall nach § 34 StGB gerechtfertigt sein, wenn das Interesse an einer politischen Befassung mit der Gefahrenabwehr das Interesse an der Friedens- und Ordnungsfunktion des Rechts wesentlich überwiegt (RevBegr. S 17f i.V.m Bönte HRRS 2021, 164, 172; RevBegr. Anm. S. 3; Satzger/von Maltitz, ZStW 2021, 1, 31, die die Frage aufwerfen, ob angesichts der elementaren Bedeutung des Klimaschutzes Straftaten „im Namen des Klimaschutzes“ eine gesonderte Behandlung seitens der Rechtsordnung zugesprochen werden kann).

2. Die skizzierte Auffassung der Revision überzeugt nicht.

a) Es ist kein Bedürfnis erkennbar, praeter legem einen weiteren Rechtfertigungsgrund für Verkehrsblockaden zu schaffen, deren Sinn und Zweck es ist, mittelbar Druck auf den Gesetzgeber auszuüben. Wie bereits dargelegt, bestehen im demokratischen Rechtsstaat diverse Möglichkeiten effektiv auf die gesetzgeberischen Körperschaften einzuwirken, um diese zu den gewünschten Maßnahmen zu veranlassen [siehe oben: 3) b) i) (1) (b) (ii) = Seite 9]. Eine „notwehrähnliche“ Sachlage, die dazu drängt, auf den Gesetzgeber mittelbar durch die Begehung von Straftaten einzuwirken, besteht daher nicht. Deshalb ist die Anerkennung eines besonderen Rechtsfertigungsgrund für Taten der vorliegenden Art nicht angezeigt.

b) Mit 34 StGB hat der Gesetzgeber einen Rechtfertigungsgrund geschaffen, der die Rechtswidrigkeit einer Straftat ausschließt, wenn jemand in einer gegenwärtigen Gefahr für ein Rechtsgut eine Straftat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden. Zusätzliche Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von § 34 StGB sind noch, dass die Gefahr für das Rechtsgut nicht anders abwendbar ist, dass die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden und dass bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Somit sieht die Rechtsordnung bereits positiv einen Rechtfertigungsgrund für Straftaten dann vor, wenn eine Abwägung der beteiligten Interessen erforderlich ist und diese ein wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses ergibt. Damit ist aber eine Situation der hier vorliegenden Art vom Gesetzgeber bereits abschließend geregelt. Eine auf den Einzelfall beschränkte Analogie zu § 34 StGB, die lediglich eine Interessenabwägung voraussetzt und auf die weiteren Anwendungsvoraussetzung von § 34 StGB verzichtet oder die Anerkennung eines selbständigen, neu zu schaffenden, Rechtfertigungsgrundes, bei dem es ausschließlich auf die Abwägung ankommt, verbietet sich daher.

c) Die Tat ist auch nicht, sofern man darin überhaupt einen Rechtfertigungsgrund sehen will, durch „zivilen Ungehorsam“ gerechtfertigt:

(i) Unter zivilem oder bürgerlichem Ungehorsam wird – im Unterschied zum Widerstandsrecht gegenüber einem Unrechtssystem – ein Widerstehen des Bürgers gegenüber einzelnen gewichtigen staatlichen Entscheidungen verstanden, um einer für verhängnisvoll und ethisch illegitim gehaltenen Entscheidung durch demonstrativen, zeichenhaften Protest bis zu aufsehenerregenden Regelverletzungen zu begegnen (BVerfG, Urteil vom 11. November 1986 – 1 BvR 713/83 –, juris Rn. 91). Die herrschende Meinung lehnt eine Rechtfertigung von Straftaten durch „zivilen Ungehorsam“ ab.

(ii) Das Bundesverfassungsgericht hat zur Frage, ob „ziviler Ungehorsam“ speziell eine gezielte und bezweckte Verkehrsbehinderung durch Sitzblockaden rechtfertigen kann, ausgeführt, dies komme zumindest dann nicht in Betracht, wenn Aktionen des zivilen Ungehorsams wie bei Verkehrsbehinderungen in die Rechte Dritter eingreifen, die ihrerseits unter Verletzung ihres Selbstbestimmungsrechts als Instrument zur Erzwingung öffentlicher Aufmerksamkeit benutzt werden. Dabei bliebe zudem außer Acht, dass zum Wesen des zivilen Ungehorsams nach der Meinung seiner Befürworter die Bereitschaft zu symbolischen Regelverletzungen gehört, dass er also per definitionem Illegalität mit dem Risiko entsprechender Sanktionen einschließt als Mittel, auf den öffentlichen Willensbildungsprozess einzuwirken. Angesichts dieser Zielrichtung erschiene es widersinnig, den Gesichtspunkt des zivilen Ungehorsams als Rechtfertigungsgrund für Gesetzesverletzungen geltend zu machen (BVerfG, a.a.O. Rn. 93).

(iii) Dem schließt sich der Senat unter Bezugnahme auf die dargestellte Begründung des Bundesverfassungsgerichts an, wobei zusätzlich noch berücksichtigt wurde, dass ziviler Ungehorsam Rechtsbruch ist, er die innerstaatliche Friedenspflicht verletzt, er gegen das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz verstößt und er sich über das Mehrheitsprinzip hinwegsetzt, das für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen konstituierend ist (vgl. BVerfG, a.a.O Rn 92). Zusätzlich spricht gegen die Anerkennung von „zivilen Ungehorsam“ als Rechtfertigungsgrund folgende Argumentation: Ziviler Ungehorsam ist Protest, der sich gegen eine verfassungsgemäß zustande gekommene Mehrheitsentscheidung – einen fundamentalen Gemeinschaftswert – richtet und diese gestützt auf vorgeblich verallgemeinerungsfähige, aber offenkundig noch nicht mehrheitlich getragene Prinzipien und Wertvorstellungen in Frage stellt. Anstatt für die eigene Meinung auf legale Weise um eine Mehrheit zu werben, setzt der, der zivilen Ungehorsam leistet, die Überlegenheit der eigenen Ansicht voraus und leitet daraus das Recht ab, diese auch mit illegalen Mitteln durchsetzen zu dürfen. Die Annahme einer Rechtfertigung würde bedeuten, ein solches Recht tatsächlich zuzugestehen und damit der Ansicht einer Minderheit ein höheres Gewicht zuzubilligen als der im Rahmen des demokratischen Willensbildungsprozesses entstandenen Entscheidung der Mehrheit. Dies verstieße nicht nur gegen Art. 3 Abs. 3 GG, der die Bevorzugung einer aktiv geltend gemachten politischen Anschauung ausdrücklich verbietet, sondern stellte durch den Verzicht auf die Durchsetzung der Mehrheitsregel auch eine Selbstaufgabe von Demokratie und Rechtsfrieden durch die Rechtsordnung dar (Rönnau in Leipziger Kommentar, 13. Aufl. 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff StGB Rn. 142).

ii) Die Tat des Angeklagten ist verwerflich im Sinne von 240 Abs. 2 StGB.

(1) Insoweit wird Bezug genommen auf die Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 20. Februar 2023 (dort Seite 9ff).

(2) Das Amtsgericht (UA S. 11f) hat die im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung durchgeführte Abwägung anhand der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Abwägungselemente durchgeführt. Insbesondere hat das Amtsgericht den Zweck der Verkehrsblockade nicht als Gesichtspunkt gewertet, der für die Verwerflichkeit spräche (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 –, juris Rn. 39)……“

Das BayObLG liegt mit seiner Argumentation auf der Linie des OLG Celle, begründet das nur etwas „wortreicher“ 🙂 .

Mehr Rechtsprechung zu den Fragen habe ich derzeit nicht. Da gibt es zwar noch das AG Mannheim, Urt. v.  25.04.2023 – 24 Cs 806 Js 31626/22 , das aber keine Besonderheiten enthält. Und: Es gibt zwar auch noch ein AG Frankfurt am Main-Urteil v. 11.05.2023 und ein AG  Tiergarten-Urt. v. 26.04.2023 – beide zum Festkleben an Gemälderahmen. Von denen liegen aber leider bislang die Volltexte noch nicht vor. Daher müssen insoweit derzeit noch die verlinkten Meldungen reichen.

StPO I: Zustellung an Betroffenen/Angeklagten, oder: Umfang der Unterrichtungspflicht des Verteidigers

Bild von Stefan Hoffmann auf Pixabay

Und heute dann drei StPO-Entscheidungen, alle drei haben mit Zustellung bzw. Vollamcht zu tun, aber es passt weder „Zustellung“ noch „Vollmacht“ als  (Unter)Kategorie, daher dann eben „StPO“. Das passt immer.

Den Opener mache ich mit dem BayObLG, Beschl. v. 01.02.2023 – 201 ObOWi 49/23 – zum Umfang der Unterrichtungspflicht der Verteidigung bei Zustellungen an Betroffene.

Gegen die Betroffene ist ein Bußgeldbescheid erlassen worden. Gegen diesen der Betroffenen am 20.04.2022 zugestellten Bußgeldbescheid legte der Verteidiger form- und fristgerecht Einspruch ein und legte eine von der Betroffenen erteilte schriftliche Strafprozessvollmacht vom 02.05.2022 vor (!). Das AG verurteilte die Betroffene aufgrund der Hauptverhandlung vom 20.10.2022, an der sowohl die Betroffene als auch ihr Verteidiger teilnahmen. Gegen dieses Urteil legte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 27.10.2022, beim AG eingegangen über das besondere Anwaltspost-fach (beA) am selben Tag, Rechtsbeschwerde ein. Die Amtsrichterin ordnete unter dem 11.11.2022 die Zustellung des Urteils an die Betroffene und die formlose Übersendung der Entscheidungsabschrift an den Verteidiger mit Zusatz „Die Zustellung erfolgt an Ihren Mandanten“ an. Die Zustellung an die Betroffene ist am 18.11.2022 erfolgt. Die Begründung der Rechtsbeschwerde, mit welcher der Verteidiger die Verletzung materiellen Rechts rügt, ist am 21.12.2022 formgerecht beim AG eingegangen.

Es wird jetzt um Wiedereinsetzung gestritten und zur Begründung ausgeführt, dass dem Verteidiger das Urteil des Amtsgerichts erst am 21.12.2022 zugestellt worden sei und ihm – unter Verstoß gegen § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO auch nicht vorab mitgeteilt worden sei, wann das Urteil des AG an die Betroffene zugestellt wurde. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

„Die Frist zur Begründung der form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde wurde versäumt. Die Frist begann mit der Zustellung des mit Gründen versehenen Urteils an die Betroffene am 18.11.2022 (§ 345 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) und endete mit Ablauf des 19.12.2022, nachdem der 18.12.2022 ein Sonntag war.

Die gemäß § 36 Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG richterlich angeordnete Zustellung an die Betroffene erweist sich als wirksam. Nach § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG ist im Fall der Zustellung an den Betroffenen auch der Verteidiger zu benachrichtigen, dessen Vollmacht nicht nachgewiesen ist; erst recht gilt dies demnach für den schriftlich bevollmächtigten Verteidiger.

Zwar gilt der Verteidiger gemäß § 145a Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG als ermächtigt, Zustellungen für den Betroffenen in Empfang zu nehmen. Die Vorschrift gestattet demnach Zustellungen an den Verteidiger, begründet jedoch keine Rechtspflicht, entsprechend zu verfahren. Daher sind an den Betroffenen persönlich gerichtete Zustellungen gleichwohl wirksam und setzen die Rechtsmittelfristen in Lauf (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 65. Aufl. § 145a Rn. 6 m.w.N.). Nichts anderes folgt daraus, dass eine solche Verfahrensweise der Regelung in Nr. 154 Abs. 1 RiStBV widerspricht (vgl. BGH, Beschl. v. 18.09.2018 – 3 StR 92/18 bei juris = NStZ-RR 2019, 24 = BeckRS 2018, 28285 und 12.02.2014 – 4 StR 556/13 bei juris = BeckRS 2014, 5620; KG, Beschl. v. 27.11.2020 – [5] 161 Ss 155/20 [47/20] bei juris = StraFo 2021, 69 = OLGSt StPO § 145a Nr 7 = NJW-Spezial 2021, 58 = BeckRS 2020, 36756), die als bloße Verwaltungsvorschrift den Richter nicht bindet. Selbst ein etwaiger Verstoß gegen die in § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO normierte Ordnungsvorschrift, den Verteidiger von der Zustellung an den Betroffenen zu unterrichten, begründet nicht die Unwirksamkeit der Zustellung, sondern kann lediglich im Einzelfall eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen (vgl. BGH, Beschl. v. 31.01.2006 – 4 StR 403/05 bei juris = wistra 2006, 188 = BGHR StGB § 44 Verschulden 9 = NStZ-RR 2006, 211 = BeckRS 2006, 1918; KG, a.a.O; KK/Willnow StPO 9. Aufl. § 145a Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rn. 14; i.E. so auch BGH, Beschl. v. 13.09.2022 – 5 StR 279/22 bei juris = BeckRS 2022, 27294).

Maßgeblich für den Fristbeginn war vorliegend insoweit allein die gemäß § 36 Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG von der Tatrichterin angeordnete und von der Geschäftsstelle bewirkte Zustellung an die Betroffene am 18.11.2022. Die von der Tatrichterin angeordnete formlose Bekanntgabe des Urteils an den Verteidiger, die am 21.11.2022 erfolgt ist, war keine Zustellung im Rechtssinne, sodass der Eingang des Urteils bei dem Verteidiger entgegen der in seiner Gegenerklärung vom 31.01.2023 geäußerten Rechtsauffassung für den Fristbeginn ohne Bedeutung war. Die erst am 21.12.2022 eingegangene Rechtsbeschwerdebegründung war daher verfristet.

2. Die Gewährung von Wiedereinsetzung in den Stand vor Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde, die voraussetzt, dass die Betroffene ohne Verschulden verhindert war, diese Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG), kommt nicht in Betracht. Der Antrag der Betroffenen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde ist in mehrfacher Hinsicht bereits unzulässig, §§ 44, 45 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.

a) Das Vorbringen im Schriftsatz der Verteidigung vom 31.01.2023 erfüllt die Voraussetzungen eines zulässigen Wiedereinsetzungsantrags schon deshalb nicht, weil ihm nicht zu entnehmen ist, dass die Betroffene ohne Verschulden gehindert war, die versäumte Frist einzuhalten; der Vortrag legt nämlich nicht dar, dass sie ihren Verteidiger überhaupt mit der Einlegung und Begründung des Rechtsmittels beauftragt hatte. Eine Frist versäumt nur diejenige, der sie einhalten wollte, aber nicht eingehalten hat (BGH, Beschl. v. 12.07.2017 – 1 StR 240/17 bei juris = BeckRS 2017, 119054; OLG Bamberg, Beschl. v. 23.03.2017 – 3 Ss OWi 330/17 bei juris = BeckRS 2017, 106539; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 44 Rn. 5). Allein aus der Einlegung der Rechtsbeschwerde ergibt sich ein entsprechender Auftrag der Betroffenen nicht, da der Verteidiger seinerseits gemäß § 297 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG die Befugnis hat, selbstständig Rechtsmittel einzulegen.

b) Der Wiedereinsetzungsantrag der Betroffenen leidet darüber hinaus an weiteren durchgreifenden Mängeln im Tatsachenvortrag und dessen Glaubhaftmachung im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). Der Antrag ist binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Innerhalb dieser Frist muss der Antragsteller auch Angaben über den Wiedereinsetzungsgrund machen. Die erforderlichen Angaben sind, ebenso wie ihre Glaubhaftmachung, Voraussetzung der Zulässigkeit des Antrags (vgl. BGH, Beschl. v. 14.01.2015 – 1 StR 573/14 bei juris = NStZ-RR 2015, 145). Ein Wiedereinsetzungsantrag muss daher unter konkreter Behauptung von Tatsachen so vollständig begründet werden, dass ihm die unverschuldete Verhinderung des Antragstellers entnommen werden kann (vgl. LR/Graalmann-Scherer StPO 27. Aufl. § 45 Rn. 13). Vorzutragen ist stets ein Sachverhalt, der ein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden ausschließt. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

So wird schon nichts zu der Frage vorgetragen, aus welchen Gründen die Betroffene nach Zustellung des Urteils an sie am 18.11.2022 davon abgesehen hat, sich an ihren Verteidiger zu wenden. Soweit die Betroffene im Rahmen ihres Wiedereinsetzungsantrags geltend macht, dass ihrem Verteidiger entgegen § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO nicht mitgeteilt worden sei, wann das Urteil an sie selbst zugestellt wurde, vermag dieses Vorbringen eine Wiedereinsetzung nicht zu begründen. Denn die von ihr in den Raum gestellte gesetzliche Verpflichtung besteht nicht. Die Verfahrensvorschrift des § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO verlangt im Falle der Zustellung an den Betroffenen, dass der Verteidiger hiervon zugleich unterrichtet wird. Das Gericht nimmt insoweit seine prozessuale Fürsorgepflicht wahr und gewährleistet einen ausreichenden Informationsstand der Verteidigung (vgl. BeckOK/Krawczyk StPO [46. Ed., Stand: 01.01.2023] § 145a Rn. 10). Die Regelung soll sicherstellen, dass der Verteidiger die nötigen Maßnahmen insbesondere zur Fristenkontrolle treffen kann, auch wenn ihn der Betroffene ihn nicht von sich aus benachrichtigt (vgl. MüKo/Kämpfer/Travers 2. Aufl. StPO § 145a Rn. 15). Insoweit ergibt sich schon aus dem Gesetzeswortlaut des § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO, dass der Verteidiger von der Zustellung an den Betroffenen zugleich zu unterrichten ist. Die Benachrichtigung soll also gleichzeitig mit der Zustellung zur Post gegeben werden (vgl. LR/Jahn a.a.O. § 145a Rn. 14). Eine darüberhinausgehende Verpflichtung des Gerichts, insbesondere die Unterrichtung des Verteidigers über den Zeitpunkt der Zustellung an den Betroffenen, welcher sich erst nach Eingang des Zustellungsnachweises bei Gericht feststellen lässt, beinhaltet die Vorschrift nicht. Die Pflicht zur Kontrolle der einzuhaltenden Fristen verbleibt bei dem bevollmächtigten Verteidiger (LR/Jahn a.a.O.), der sich erforderlichenfalls durch Rückfrage bei dem Betroffenen über den Zeitpunkt der Zustellung in Kenntnis setzen muss.

Der Wiedereinsetzungsantrag der Betroffenen ist nach alledem als unzulässig zu verwerfen.“

Gilt natürlich auch bei Zustellungen an den Beschuldigten.

OWi II: Nach Wiedereinsetzung startet Verjährung neu, oder: Ausreichende Entschuldigungsgründe dargetan?

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Und dann als zweite Entscheidung der BayObLG, Beschl. v. 28.03.2023 – 202 ObOWi 314/23. Ergangen ist erin einem Verfahren, in dem dem Betroffenen ein Abstandsvertsoß zur Last gelegt worden ist. Das AG hat dann Hauptverhandlung anberaumt, nachdem der Betroffene Einspruch gegen den Bußgeldberscheid eingelegt hatte. Als der Betroffene in der Hauptverhandlung nicht erschienen ist, hat es den Einspruch gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die Erfolg hatte. Erfolg allerdings nicht wegen Eintritts der Verfolgsverjärung, was auch die GStA München angenommen hatte, sondern wegen nicht ausreichender Urteilsgründe:

„1. Eine Einstellung des Verfahrens kommt nicht in Betracht, weil das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung nicht eingetreten ist.

a) Die Verjährungsfrist betrug zunächst 3 Monate (§ 26 Abs. 3 Satz 1 StVG) und begann mit Beendigung der Handlung (§ 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG), hier also am 18.06.2020. Die Verjährung wurde jedenfalls durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020, der dem Betroffenen am 17.09.2020 zugestellt wurde, unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG), sodass ab diesem Zeitpunkt die Verjährungsfrist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG 6 Monate betrug.

b) Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft wurde die 6-monatige Verjährungsfrist durch den Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 rechtzeitig unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

aa) Zwar lagen zwischen der vorhergehenden Unterbrechungshandlung durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020 und dem Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 mehr als 6 Monate.

bb) Gleichwohl war die Verjährungsfrist zum letztgenannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen. Denn die durch die Zentrale Bußgeldstelle am 24.11.2020 bewilligte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist hatte zur Folge, dass die Verjährungsfrist neu zu laufen begann (vgl. BayObLG, Beschl. v. 16.03.2004 – 2 ObOWi 7/2004 = BayObLGSt 2004, 33 = DAR 2004, 281 = VRS 106, 452 [2004]; Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 = BayObLGSt 1953, 179; OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.01.1978 – 1 Ws (B) 36/78 OWiG = BeckRS 2014, 21126; KG, Beschl. v. 04.04.2017 – 3 Ws (B) 43/17 = StraFo 2017, 460; OLG Naumburg, Beschl. v. 04.01.1995 – 1 Ss (B) 254/94 = VRS 88, 456 [1995]; BeckOK OWiG/Gertler OWiG § 31 Rn. 18; KK-OWiG/Ellbogen 5. Aufl. § 31 OWiG Rn. 37; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg StPO 27. Aufl. 2016 § 46 Rn. 13; Gürtler/Thoma in Göhler OWiG 18. Aufl. Vor § 31 Rn. 2b; Schmidt in: Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar 12. Aufl. 2007 § 78 Rn. 10). Mit der Rechtskraft des Bußgeldbescheids, die (zunächst) aufgrund des Ablaufs der Einspruchsfrist eingetreten war, bestand für eine Verfolgungsverjährung nach § 31 OWiG kein Raum mehr; vielmehr lief stattdessen die Frist für die Vollstreckungsverjährung nach § 34 OWiG (OLG Hamm, Beschl. v. 23.05.1972 – 5 Ss OWi 363/72 = NJW 1972, 2097 = MDR 72, 885). Eine neue Verfolgungsverjährung kann in Fällen, in denen das Verfahrensrecht einen Eingriff in die Rechtskraft zulässt, erst zu dem Zeit-punkt beginnen, in dem das rechtskräftige verurteilende Erkenntnis beseitigt wird (BayObLG, Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 a.a.O.). Dies hat zur Folge, dass mit der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die zur Beseitigung der bis dahin eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids führte, die bei Eintritt der Rechtskraft des Bußgeldbescheids noch nicht abgelaufene Frist für die Verfolgungsverjährung neu zu laufen begann. Mit der Gewährung von Wieder-einsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist durch die Entscheidung der Verwaltungsbehörde vom 24.11.2020 wurde die Rechtskraft des Bußgeldbescheids nachträglich beseitigt. Dies hatte aber nicht etwa zur Folge, dass die ursprüngliche Frist für die Verfolgungs-verjährung gleichsam rückwirkend wieder lief. Andernfalls würden für den säumigen Betroffenen Vorteile geschaffen, die er ohne seine Säumnis nicht gehabt hätte, was mit dem Zweck der Wiedereinsetzung nicht vereinbar wäre (OLG Hamm a.a.O.). Durch das Recht der Wiedereinsetzung sollen zwar dem Betroffenen, der unverschuldet eine Frist versäumt hat, keine Nachteile entstehen, eine Besserstellung seiner Rechtsposition ist durch die Vorschriften über die Wiedereinsetzung aber nicht intendiert.

2. In der Folgezeit wurden jeweils weitere Unterbrechungshandlungen vor Ablauf der 6-monatigen Verjährungsfrist nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 3 und 11 OWiG rechtzeitig vorgenommen bis zu dem ersten in dem Verfahren nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangenen Verwerfungsurteil des Amtsgerichts vom 27.01.2022. Seit diesem Zeitpunkt ist der Verjährungsablauf gemäß § 32 Abs. 2 OWiG gehemmt. Der Umstand, dass auf Antrag des Betroffenen in der Folgezeit wegen Versäumung dieser Hauptverhandlung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 74 Abs. 4 OWiG durch die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 30.09.2022 bewilligt wurde, beseitigte die Ablaufhemmung nicht (OLG Hamm, Beschl. v. 15.07.2008 – 3 Ss OWi 180/08 = BeckRS 2008, 18098; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.01.2018 – 1 OWi 2 Ss Bs 84/17 OLGSt OWiG § 74 Nr 24; 09.07.2002 – 1 Ss 74/02 = BeckRS 2002, 31129484; KG, Beschl. v. 15.12.2021 – 3 Ws (B) 304/21 = BeckRS 2021, 45818).

3. Die Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil das Amtsgericht hinreichendes Entschuldigungsvorbringen vor der Hauptverhandlung rechtsfehlerhaft übergangen hat.

Dabei kommt es nicht darauf an, dass das Amtsgericht in unzulässiger Weise die Gründe des Urteils, die bereits vollständig im Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen waren, in einer weiteren Urteilsurkunde ergänzt hat. Die Urteilsgründe rechtfertigen die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nicht, weil der Betroffene hinreichend entschuldigt im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG war. Denn hierfür ist es ausreichend, dass er schlüssig Umstände vorträgt, die ihm die Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar machen; eine Nachweispflicht trifft den Betroffenen nicht (vgl. nur BayObLG, Beschl. v. 06.09.2019 – 202 ObOWi 1581/19 = OLGSt OWiG § 74 Nr 26 m.w.N.). Die mit Schriftsatz der Verteidigerin vom 13.12.2022 vor der Hauptverhandlung dem Amtsgericht mitgeteilten Gründe stellten bei vernünftiger Betrachtung ohne weiteres einen Entschuldigungsgrund in diesem Sinne dar, weil dort – neben dem Hinweis auf einen positiven Covid-19-Test – explizit vom „hohem Fieber, Erbrechen, Durchfall und schweren Erkältungssymptomen“ gesprochen wurde, was eine Unzumutbarkeit der Anreise und der Teilnahme des Betroffenen an der Hauptverhandlung bei verständiger Würdigung zweifelsfrei begründete. Über diesen Vortrag hat sich das Amtsgericht mit neben der Sache liegenden Erwägungen, nämlich unter Rekurs auf den fehlenden Nachweis der geltend gemachten Erkrankungssymptome und auf die nicht mehr bestehende Isolationspflicht in Bayern bei einer Infektion mit dem Coro-na-Virus, hinweggesetzt. Es hat dabei dem Vortrag des Betroffenen, dem es nicht darum ging, sich zu isolieren, sondern der geltend machen wollte, aufgrund krankheitsbedingter Beschwerden nicht zur Hauptverhandlung anreisen und an ihr teilnehmen zu können, kein Gehör geschenkt und zudem verkannt, dass den Betroffenen keine Nachweispflicht trifft.“