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StPO I: Nachträgliche Berufungsbeschränkung, oder: Schweigen des Angeklagten zur Verteidigererklärung

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Und dann gibt es heute hier StPO-Entscheidungen. Alle drei OLG-Entscheidungen, die ich vorstelle, haben mit der Berufung zu tun.

Ich beginne mit OLG Saarbrücken, Beschl. v. 11.02.2025 – 1 Ss 3/25 -, den ich schon mal wegen der vom OLG in der Entscheidung auch behandelten materiellen Fragen vorgestellt habe (vgl. hier: StGB II: Öffentlichkeit einer Beleidigung der Polizei, oder: „Größere Anzahl“ von Zuhörern/Versammlunng).

Das OLG hat in der Entscheidung auch zur Wirksamkeit einer nachträglichen Beschränkung der Berufung des Angeklagten auf das Strafmaß Stellung genommen. Der Verteidiger hatte im Berufungshauptverhandlungstermin in Anwesenheit des Angeklagten erklärt, die Berufung des Angeklagten werde auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Eine Zustimmung der Staatsanwaltschaft hierzu war im Protokoll der Berufungshauptverhandlung nicht vermerkt. Das OLG hat die Beschränkung als wirksam angesehen:

„b) Zu Recht hat es auch die in der Berufungshauptverhandlung allein von dem Verteidiger erklärte nachträgliche Beschränkung der Berufung des Angeklagten auf den Rechtsfolgenausspruch für wirksam gehalten.

(1) Zwar bedurfte der Verteidiger für die nachträgliche Berufungsbeschränkung, in der zugleich eine Teilrücknahme des zunächst unbeschränkt eingelegten Rechtsmittels liegt, einer ausdrücklichen Ermächtigung durch den Angeklagten nach § 302 Abs. 2 StPO (vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 16. Juli 2018 – Ss 44/2018 (27/18) – und vom 23. Oktober 2020 – Ss 60/2020 (54/20) –; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, 67. Aufl., § 302 Rn. 28, 29). Eine solche ist jedoch konkludent erteilt, wenn der Angeklagte – wie hier – zu einer durch seinen Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung in seiner Anwesenheit erklärten Rechtsmittelbeschränkung schweigt (BGH GA 1968, 86; BayObLG NJW 1985, 754; OLG Hamm, Beschluss vom 19. Februar 2019 – III-5 RVs 23/19 –, juris; OLG Celle, Beschluss vom 23. November 2020 – 3 Ss 48/20 –, juris; KG Berlin, Beschluss vom 16. Februar 2022 – 3 Ws (B) 24/22 –, juris; Senatsbeschluss vom 21. Januar 2004 – Ss 80/2003 (98/03) –).

(2) Die nachträgliche Berufungsbeschränkung erweist sich auch nicht deshalb als unwirksam, weil das Protokoll der Hauptverhandlung zu der nach § 303 Satz 1 StPO erforderlichen Zustimmung der Staatsanwaltschaft schweigt. Das Schweigen des Protokolls beweist nur, dass keine ausdrückliche Zustimmung nach § 303 Satz 1 StPO erteilt wurde (vgl. OLG Hamm, Entscheidung vom 5. September 1968 – 2 Ss 915/68 –, juris und Beschluss vom 9. Juni 2015 – III-1 RVS 14/15 –, juris; OLG Celle, Beschluss vom 8. Februar 2017 – 1 Ss 3/17 –, juris; BayObLG, Beschluss vom 1. Dezember 2023 – 204 StRR 527/23 –, juris; Allgayer in: MüKo-StPO, 2. Aufl., § 303 Rn. 6 m.w.N.). Ob die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung – was zulässig ist (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 303 Rn. 5 f.) – gegebenenfalls konkludent erklärt hat, ist hingegen im Wege des Freibeweises zu klären (OLG Celle, a.a.O.; OLG Düsseldorf, Urteil vom 29. April 1976 – 3 Ss 321/76 –, juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 6. Februar 1990 – 3 Ss 562/89 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 9. Juni 2015 – III-1 RVs 14/15 –, juris; Paul in: KK-StPO, 9. Aufl., § 303 Rn. 4). Eine konkludente Zustimmung, die auch in einem bloßen Schweigen liegen kann (OLG Celle, a.a.O.; OLG Düsseldorf, a.a.O.; OLG Stuttgart, a.a.O.; OLG Hamm, a.a.O.; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 303 Rn. 6), liegt nahe, wenn sicher ist, dass der Rechtsmittelgegner die Beschränkungserklärung zur Kenntnis genommen hat, ihm Bedeutung und Tragweite bewusst gewesen sind und sein weiteres Prozessverhalten keine Anhaltspunkte dafür bietet, dass er mit der Beschränkung nicht einverstanden gewesen sein könnte (OLG Celle, a.a.O.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 6. Februar 1990 – 3 Ss 562/89 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 13. Oktober 2009 – 3 Ss 422/09 –, juris; BayObLG, Beschluss vom 1. Dezember 2023 – 204 StRR 527/23 –, juris). So liegt der Fall hier, nachdem die Staatsanwaltschaft der erklärten Berufungsbeschränkung nicht widersprochen hat und diese im Einklang mit ihrem eigenen im Berufungsverfahren verfolgten Rechtsschutzziel einer Änderung nur des Strafausspruchs der erstinstanzlichen Urteile stand.“

KCanG II: Besitz von Kleinmengen und § 51 BZRG?, oder: Amnestie auch für Besitz von Cannabis in einer JVA?

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Und im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen aus der Instanz, nun ja fast 🙂 .

Die erste Entscheidung stammt vom BayObLG. Das hat sich im BayObLG, Beschl. v. 17.07.2024 – 204 StRR 215/24 – noch einmal mit verfahrensrechtlichen Fragen befasst und mit dem „richtigen“ Strafausspruch. Ich stelle hier, da die Begründung des BayObLG – wie immer – recht umfangreich ist, im Wesentlichen nur die Leitsätze ein, die lauten:

    1. Der Schuldspruch eines hinsichtlich Betäubungsmittelstraftaten rechtskräftigen Urteils muss im Revisionsverfahren an die Vorschriften des seit 1.4.2024 geltenden KCanG angepasst werden (§ 2 Abs. 3 StGB, § 354a StPO).
    2. Bei der Beurteilung, welches das mildere von zwei Gesetzen ist, ist zu prüfen, welches anhand des konkreten Falls nach einem Gesamtvergleich des früher und des derzeit geltenden Strafrechts das dem Angeklagten günstigere Ergebnis zulässt, wobei es in erster Linie auf die konkret in Frage kommenden Hauptstrafen ankommt.
    3. Beim Strafausspruch ist zu beachten, dass der Gesetzgeber durch die Schaffung eines eigenen, grundsätzlich milderen Strafrahmenregimes in Bezug auf den Umgang mit Cannabis im Vergleich zu den dem Betäubungsmittelgesetz unterstellten Suchtstoffen deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass Taten, wenn sich diese auf Cannabis beziehen, mit einem geringeren Unwerturteil einhergehen.
    4. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Tatrichter auch in einem Fall, in dem sich die Tat nur teilweise auf Cannabis bezieht, trotz des tateinheitlich hinzutretenden Schuldspruchs wegen eines Vergehens gegen das Konsumcannabisgesetz und der Anwendung desselben Strafrahmens zu einer milderen Strafe gelangt.
    5. Vorstrafen, die den Besitz und Erwerb von Kleinmengen von Cannabis betreffen, der zwischenzeitlich straffrei gestellt ist, unterliegen derzeit nicht dem Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG, da sie erst ab dem 1.1.2025 tilgungsfähig sein werden; ihnen kommt nach wie vor eine Warnfunktion zu.

Zwei Anmerkungen: Wer die Entscheidung liest, wird feststellen, dass das BayObLG auf die auch von ihm angesprochene Frage der „nicht geringen Menge“ kein Wort der eigenen Begründung mehr verwendet, sondern nur feststellt: Die liegt bei 7,5 G und dazu dann nur einige BGH-Entscheidungen anführt. Der „Zug ist als abgefahren“ bzw. davon wird kein Gericht mehr abweichen.

Und: Besonders hinweisen möchte ich auf die o.a. Nr. 5 der Leitsätze. Das muss man derzeit noch im Auge haben.

Und dann als zweite Entscheidung der LG Stralsund, Beschl. v. 29.05.2024 – 23 StVK 114/24 – zur Anwendung der sog. Amnestieregelung auf eine Verurteilung wegen Besitzes von Cannabis in einer JVA während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe. Der Angeklagte war am 23.05.2023 durch das AG wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt word. Hintergrund des Urteils war, dass sich am 15.12.2022, nachdem eine Haftraumkontrolle in der JVA. durchgeführt wurde, in der Kaffeedose des Angeklagten 21,7 g Cannabis in einer Plastikfolie aufgefunden wurden. Der Angeklagte hatte die Drogen in der Haftanstalt erworben. Die Vollstreckung der Strafen ist nach Verbüßung von 2/3 bzw. mehr als 2/3 ausgesetzt worden. Die Staatsanwaltschaft hat nun aufgrund der Amnestieregelung des Artikel 313 EGStGB zu Cannabisaltfällen den Antrag auf Einstellung der Vollstreckung gestellt.

Die StVK hat abgelehnt: Nach ihrer Auffassung der Kammer ist der Besitz von Cannabis in einer Justizvollzugsanstalt während des Vollzuges einer Freiheitsstrafe nicht von der Amnestieregelung umfasst, so dass ein Erlass dieser Strafe nicht geboten ist. Einzelheiten bitte im verlinkten Volltext nachlesen.

Rechtsmittel III: Vertretung des Angeklagten in der HV, oder: Erforderlichkeit der Anwesenheit

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Und dann als dritte Entscheidung der BayObLG, Beschl. v. 20.03.2024 -204 StRR 77/24, der sich mit verfahrensrechtlichen Fragen des Berufungsverfahrens befasst, nämlich Vertretung des Angeklagten und Erforderlichkeit seiner Anwesenheit in der Hauptverhandlung.

Dazu hat das BayObLG umfassend Stellung genommen, und zwar so umfangreich, das man das hier nicht alles einstellen kann. Ich nehme als „Appetizer“ nur die Leitsätze und verweise wegen der Einzelheiten auf den verlinkten Volltect.

Die Leitsätze lauten:

1. Bei sowohl vom Angeklagten als auch von der Staatsanwaltschaft eingelegten Berufungen ist § 340 StPO grundsätzlich nicht anwendbar.

2. Das Berufungsgericht muss auch bei Vertretung des Angeklagten durch einen mit besonderer Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger ausreichende Feststellungen dazu treffen, ob die Voraussetzungen für eine Verhandlung über beide Berufungen gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO in Abwesenheit des Angeklagten vorliegen.

3. Zur „Erforderlichkeit“ der Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung.

4. Vorliegend kann der Senat wegen der zulässig erhobenen Verfahrensrüge aufgrund der Aktenlage selbst feststellen, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben ist.

Berufung II: Einziehung in der Berufung nachgeholt, oder: Stopp, Verschlechterungsverbot greift

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In der zweiten Entscheidung, dem BayObLG, Beschl. v. 24.01.2024 – 204 StRR 23/24 – geht es um das sog. Verschlechterungsverbot, und zwar im Hinblick auf eine Einziehungsmaßnahme.

Hier hatte das AG das Tatmittel zu einem Diebstahl, ein Montiereisen, nicht eingezogen. Das hat das LG dann „nachgeholt“. Und das ging nicht, sagt das BayObLG:

„Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revision hat – abgesehen von der Einziehungsentscheidung – keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Zur Begründung wird auf die zutreffende und nicht ergänzungsbedürftige Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft München in ihrer Antragsschrift vom 20.12.2023 Bezug genommen.

Wie bereits die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat, muss die in der Berufungsinstanz erstmals angeordnete Einziehung des asservierten Montiereisens entfallen. Eine solche Anordnung ist vom Amtsgericht nicht getroffen worden, so dass die nach alleiniger Einlegung der Berufung durch den Angeklagten erstmals im Berufungsurteil erfolgte Einziehung des Tatmittels gegen das Verschlechterungsverbot nach § 331 Abs. 1 StPO verstößt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15.05.1990 – 1 StR 182/90 –, juris Rn. 7; vom 07.11.2018 – 4 StR 290/18 –, juris Rn. 4; OLG Hamburg, Beschluss vom 25.06.2020 – 2 Rev 85/19 –, juris Rn. 7; MüKoStPO/Quentin, 2. Aufl. 2024, StPO § 331 Rn. 55), und zwar unabhängig davon, ob im Ersturteil die Einziehung rechtsfehlerhaft unterblieben war (BGH, Beschluss vom 22.01.2019 – 3 StR 48/18 –, juris Rn. 7).

Es entspricht allgemeiner Meinung, dass auf alleiniges Rechtsmittel des Angeklagten, seines gesetzlichen Vertreters oder auf ein zugunsten des Angeklagten eingelegtes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft in diesem Bereich wegen des Verschlechterungsverbots keine Maßnahmen angeordnet werden durften, die sich nachteilig auf die Rechtsposition des Angeklagten auswirkten. An diesem Rechtszustand hat sich durch die am 01.07.2017 in Kraft getretene Reform der Vermögensabschöpfung nichts geändert (vgl. BGH, Beschluss vom 10.01.2019 – 5 StR 387/18 –, BGHSt 64, 48, juris Rn. 19 f. m.w.N.). Der Gesetzgeber hat die Problematik zwar im Blick gehabt (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 57, 72; siehe auch BT-Drucks. 18/11640 S. 83 f.). Er hat sie aber nicht im Wege einer Durchbrechung des Verschlechterungsverbots im Erkenntnisverfahren lösen wollen, sondern – im dort geregelten Umfang – dem selbständigen Einziehungsverfahren nach § 76a StGB, §§ 435 ff. StPO zugewiesen (vgl. BT-Drucks. 18/9525 a.a.O.). Eine Vermengung der jeweils eigenständigen Regularien folgenden Verfahrensarten wäre augenfällig systemwidrig und würde eine Umgehung der gesetzgeberischen Konzeption bedeuten (BGH, Beschluss vom 10.01.2019 – 5 StR 387/18 –, BGHSt 64, 48, juris Rn. 21).“

Berufung III: Wann gibt es die Annahmeberufung?, oder: Auch bei Absehen von Strafe?

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Und dann noch die dritte Berufungsentscheidung, und zwar der KG, Beschl. v. 29.02.2024 – 4 Ws 7/24 – 161 AR 6/24, zur Frage, ob es auch bei Absehen von Strafe eine Annahmeberufung gibt.

Das AG die Angeklagte des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen für schuldig befunden und gemäß § 86a Abs. 3 StGB in Verbindung mit § 86 Abs. 5 StGB wegen geringer Schuld von einer Bestrafung abgesehen. Die gegen diese Entscheidung von der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft eingelegten Berufungen hat das LG nach § 313 Abs. 2 Satz 2 StPO als unzulässig verworfen. Zwar erwähne § 313 Abs. 1 StPO das Absehen von Strafe nicht. Im Wege eines Erst-Recht-Schlusses müsse die Norm aber auch dann Anwendung finden, wenn – wie hier – wegen geringerer Schuld eine Rechtsfolge verhängt worden sei, deren Schwere hinter dem Gewicht der in § 313 Abs. 1 StPO aufgeführten Rechtsfolgen zurückbleibe; denn die Vorschrift diene gerade dem Zweck, die Berufungsgerichte zu entlasten, indem Fälle der Bagatellkriminalität nur unter bestimmten Voraussetzungen in die Berufungsinstanz gelangen könnten.

Dagegen die sofortige Beschwerde der Angeklagten, die Erfolg hatte:

„3. Auch in der Sache hat die sofortige Beschwerde Erfolg. Der Senat teilt nicht die von der Vorsitzenden der Strafkammer vertretene Rechtsauffassung, dass die Berufung in analoger Anwendung des § 313 Abs. 1 Satz 1 StPO der Annahme bedürfe.

a) Hat das Amtsgericht von Strafe abgesehen, gilt § 313 Abs. 1 Satz 1 StPO nach seinem Wortlaut nicht. Zu der Frage, ob in diesem Fall eine analoge Anwendung der Vorschrift in Betracht kommt, werden verschiedene Ansichten vertreten.

Ein Teil der Literatur lehnt eine analoge Anwendung unter Hinweis auf das Gebot der Rechtsmittelklarheit generell ab (vgl. Eschelbach in Graf, StPO 4. Aufl., § 313 Rn. 7; Reichenbach in Gercke/Temming/Zöller, StPO 7. Aufl., § 313 Rn. 6; Quentin in Münchener Kommentar, StPO 2. Aufl., § 313 Rn. 6; Gössel aaO, § 313 Rn. 29).

Die Gegenmeinung, der sich das Landgericht angeschlossen hat, wählt einen differenzierten Ansatz. Sie unterscheidet danach, ob das Absehen von Strafe – wie vorliegend – auf der geringen Schuld des Täters beruht oder – wie etwa bei § 60 StGB – auf anderen Erwägungen, und erachtet im ersteren Fall eine analoge Anwendung aufgrund eines Erst-Recht-Schlusses für geboten (vgl. OLG Stuttgart, aaO Rn. 8 [zu § 113 Abs. 4 Satz 1 StGB]; LG Hamburg, Beschluss vom 11. Mai 2007 – 711 Ns 27/07 –, juris Rn. 5 ff. [zu § 29 Abs. 5 BtmG]; LG Bad Kreuznach, NStZ-RR 2002, 217 [zu § 158 Abs. 1 StGB]; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 313 Rn. 3a; Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl., § 313 Rn. 2a; Halbritter in Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl., § 313 Rn. 2; Beukelmann in Radtke/Hohmann, StPO, § 313 Rn. 2; Frisch in SK-StPO, 6. Aufl., § 313 Rn. 6a).

b) Der Senat folgt der erstgenannten Ansicht, nach der eine analoge Anwendung des § 313 Abs. 1 StPO nicht möglich ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt das Gebot der Rechtsmittelklarheit, dass Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürgerinnen und Bürger erkennbar sind. (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02 –, juris Rn. 68 und Nichtannahmebeschluss vom 16. Januar 2017 – 1 BvR 2803/06 –, juris Rn. 5). Das Bundesverfassungsgericht folgert daraus einerseits, dass die Nichtanerkennung außerordentlicher Rechtsbehelfe weder willkürlich noch geeignet sei, die betroffene Person in ihrem Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz zu verletzen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 16. Januar 2017 – 1 BvR 2803/06 –, juris Rn. 5), sowie andererseits, dass die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht von der vorherigen Erhebung außerordentlicher Rechtsbehelfe abhängig gemacht werden dürfe (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02 –, juris Rn. 71). Zur Analogiefähigkeit fachgerichtlicher Rechtschutzbestimmungen wird ein differenzierter Ansatz vertreten. Während jedenfalls hergebrachte, im Wege der Analogie geschaffene Rechtsmittel auch nach der Entscheidung zum Gebot der Rechtsmittelklarheit ohne Weiteres als Teil des zu erschöpfenden Rechtswegs angesehen werden (vgl. etwa BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 14. November 2023 – 1 BvR 1498/23 –, juris Rn. 9 [zum Antrag auf gerichtliche Entscheidung analog § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO]), ist die noch nicht etablierte analoge Anwendung fachgerichtlicher Rechtschutzbestimmungen als mit dem Gebot der Rechtsmittelklarheit unvereinbar angesehen worden (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. August 2008 – 2 BvR 460/08 –, juris Rn. 9 [zur analogen Anwendung des § 33a StPO im Verfahren nach dem RUAStrGHG]).

Die Rechtsansicht, nach der § 313 Abs. 1 StPO im Fall des Absehens von Strafe analoge Anwendung finden soll, erscheint danach verfassungsrechtlich problematisch. Da eine gefestigte Rechtsprechung zur analogen Anwendbarkeit des § 313 Abs. 1 StPO im Fall des Absehens von Strafe nicht existiert, dürfte dessen analoger Heranziehung bereits das Gebot der Rechtsmittelklarheit entgegenstehen. Dies gilt umso mehr, als gerade bei rechtswegbeschränkenden Vorschriften besonders strenge Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit zu stellen sein dürften (pauschal gegen eine Analogiefähigkeit rechtswegbeschränkender Normen: OLG Koblenz, Beschluss vom 9. Mai 2006 – 12 W 254/06 –, juris Rn. 8; Singer, Rechtsklarheit und Dritte Gewalt, Seite 294; a. A.: BGH, Beschluss vom 29. Mai 2006 – II ZB 5/06 –, juris Rn. 16 ff.).

Letztlich kann die vorgenannte Frage aber offenbleiben, denn eine analoge Anwendung des § 313 Abs. 1 StPO auf die Konstellation des Absehens von Strafe kommt jedenfalls deshalb nicht in Betracht, weil die Voraussetzungen einer Analogie nicht vorliegen. Es lässt sich nicht mit der Eindeutigkeit, die angesichts der Natur des § 313 Abs. 1 StPO als rechtswegbeschränkende Ausnahmevorschrift zu verlangen ist, feststellen, dass der Gesetzgeber die – bei Erlass des § 313 Abs. 1 StPO bereits existierenden – Vorschriften zum Absehen von Strafe lediglich versehentlich nicht in den Gesetzestext aufgenommen hätte und insoweit mithin von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen wäre.

Das Anliegen des Gesetzgebers, durch § 313 Abs. 1 StPO den Rechtsweg in Fällen „kleinerer Kriminalität“ und bei „Straftaten geringer Schwere, die häufig vorkommen“ (vgl. BR-Drs. 12/1217, Seite 39), zu beschränken, wurde flankiert von dem Bestreben, eine einfache, Zweifelsfragen nicht erlaubende Norm zu schaffen. Dem Gesetzgeber war bewusst, dass die von ihm gewählte Regelung nicht jeden Fall der Bagatellkriminalität erfassen und nicht frei von Wertungswidersprüchen sein würde. Er nahm dies „im Interesse der größtmöglichen Vereinfachung“ in Kauf (vgl. BR-Drs. 12/1217, Seite 39 f.: „Sind in dem Urteil für die Tat neben der Geldstrafe noch andere Rechtsfolgen, etwa Fahrverbot, Entzug der Fahrerlaubnis, Verfall, Einziehung usw. festgesetzt, so ist die Regelung […] nicht anwendbar; der Entwurf hat insoweit einer einfachen Abgrenzung den Vorzug gegeben. […] [Der Entwurf] stellt bei der Prüfung der Frage, ob die Berufung der Zulassung bedarf, im Interesse der größtmöglichen Vereinfachung auch ausschließlich auf das angefochtene Urteil ab. Beschränkungen der Berufung bleiben außer Betracht. […] Auch sie [die Geldbuße] führt, wenn sie zu einer Geldstrafe hinzutritt, zur Unanwendbarkeit des § 313. Auch insoweit hat der Entwurf einer raschen Klärung der Frage, ob die Berufung zulassungsbedürftig ist, den Vorzug vor einer Regelung gegeben, die eine Vielzahl von Fallgestaltungen hätte auffangen müssen und gleich in welcher Gestalt, zahlreiche Zweifelsfragen aufgeworfen hätte.“).

Eine Festlegung dahingehend, dass einzelne Bereiche der Bagatellkriminalität bewusst, andere hingegen nur versehentlich nicht geregelt wurden, erscheint vor dem Hintergrund einer explizit unvollständigen Regelung bereits im Ansatz problematisch und kann jedenfalls für die Rechtsfolge des Absehens von Strafe nicht erfolgen. Letztere ist für eine Vielzahl von Konstellationen vorgesehen und beruht auf vielgestaltigen kriminologischen Erwägungen. Neben den im allgemeinen Teil verorteten Vorschriften der §§ 23 Abs. 3, 46a Abs. 1, 46b Abs. 1 und 60 StGB finden sich in den §§ 86 Abs. 5, 86a Abs. 3, 113 Abs. 4, 157, 158 Abs. 1, 174 Abs. 1, 182 Abs. 6, 306e Abs. 1, 314a Abs. 2 StGB sowie in § 29 Abs. 5 BtmG auch tatbestandsakzessorische Regelungen. Dabei erfassen neben der Konstellation des § 60 StGB, auf die § 313 Abs. 1 StPO unstreitig keine Anwendung findet, auch zahlreiche weitere Fallgestaltungen Straftaten, die nicht oder jedenfalls nicht ohne Weiteres dem Bereich der „kleineren Kriminalität“ zuzuordnen sind; so etwa § 46a StGB (Absehen von Strafe bei ansonsten verwirkter Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen), § 46b StGB (Absehen von Strafe bei ansonsten verwirkter Freiheitsstrafe von nicht mehr als drei Jahren) sowie die §§ 158 Abs. 1, 306e Abs. 1 und § 314a Abs. 2 StGB, die im Fall tätiger Reue auch bei Verbrechenstatbeständen ein Absehen von Strafe erlauben. Bei Beibehaltung der Grundkonzeption des § 313 Abs. 1 StPO wären demnach allenfalls einzelne, im Gesetzestext ausdrücklich anzuführende Anwendungsfälle des Absehens von Strafe für eine Einbeziehung in den Regelungsbereich des § 313 Abs. 1 StPO in Betracht gekommen. Die Benennung der entsprechenden Normen hätte zu einer fragmentierten Lösung geführt, die der Gesetzgeber aber gerade vermeiden wollte. Ebenso wie einem Versehen kann ihr Unterlassen daher einer bewussten gesetzgeberischen Entscheidung geschuldet sein und eine planwidrige Regelungslücke mithin nicht mit der erforderlichen Klarheit festgestellt werden.“