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Vereinsrecht II: Einsicht in Vereinsregisterakten, oder: Formal Beteiligter mit berechtigtem Interesse?

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Und dann auch im zweiten „Kessel-Buntes-Posting“ etwas zum Vereinsrecht, und zwar stelle ich den KG, Beschl. v. 25.02.2025 – 22 W 66/24 – zur Einsicht ins Vereinsregister vor.

Es geht um Folgendes: Der an dem Verfahren Beteiligte zu 1), der Verein ist seit 1984  im Vereinsregister eingetragen. Sein Zweck ist nach § 2 der Satzung die treuhänderische Übernahme und treuhänderische Verwaltung von unbeweglichem Vermögen sowie Forderungen und sonstigen vermögenswerten Rechten für eine Partei sowie die Wahrnehmung von deren Interessen in Grundstücksangelegenheiten. Mitglieder des Vereins sind nach § 3 Abs. 1 der Satzung die jeweiligen Mitglieder des Bundesvorstands und die jeweiligen Mitglieder der Bundesgeschäftsführung dieser Partei

Der Beteiligte zu 2) regte zunächst mit Schreiben vom 05.03.2024 gegenüber dem Registergericht die dringende Einleitung eines Verfahrens auf Löschung des Beteiligten zu 1) nach § 395 FamFG an, weil dieser seiner Auffassung nach als wirtschaftlicher Verein anzusehen sei. Nachdem das Registergericht ihm nach Anhörung des Beteiligten zu 1) mitteilte, dass und inwieweit die von ihm aufgestellten Behauptungen über Grundvermögen und Tätigkeiten nicht zutreffen, stellte er mit Schreiben vom 27.05.2024 weitere Behauptungen auf. Diesen trat der Verein wiederum mit einem dem Beteiligten zu 2) auf Bitten des Vereins nicht übersandten Schreiben entgegen. Daraufhin teilte das Registergericht mit Schreiben vom 05.08.2024 mit näherer Begründung auch zu den aufgestellten Behauptungen mit, dass die Einleitung eines Amtslöschungsverfahrens nicht gerechtfertigt sei. Zugleich teilte es weiter mit, dass der vom Beteiligten zu 2) gestellte weitergehenden Akteneinsichtsantrag, den dieser, nachdem er Einsicht in die Registerakte genommen hatte, in erster Linie auf die Übersendung der Stellungnahme des Beteiligten zu 1) vom 19.04.2024 bezog, die Glaubhaftmachung eines berechtigten Interesses erfordere.

Das Amtsgericht hat den Antrag auf eine solche Akteneinsicht zurückgewiesen, weil dem Beteiligten zu 2) alle Informationen weitergegeben worden seien und er sich nicht auf ein weitergehendes berechtigtes Interesse berufen könne. Daraufhin beantragte der Beteiligte zu 2) eine gerichtliche Entscheidung nach § 23 EGGVG, vorsorglich legte er auch Beschwerde gegen den Beschluss ein. Er berief sich wegen eines berechtigten Interesses auf seine nebenberufliche journalistische Tätigkeit im Bereich der Parteifinanzierung und Parteivermögen. Zudem habe er als Bürger und Wähler auch ein legitimes tatsächliches Interesse daran, Informationen über Vermögen und Finanzen der Parteien zu erhalten, erst Recht wenn dieses auf andere Rechtssubjekte ausgegliedert wird. Mit einem Beschluss vom 08.11.2024 hat das AG dem Beschluss nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

Das KG hat die Beschwerde zurückgewiesen:

2. Der Antrag auf erweiterte Akteneinsicht hat aber keinen Erfolg. Der Ablehnung durch das Amtsgericht war nicht rechtswidrig, der Antragsteller wird auch nicht in seinen Rechten verletzt.

Gegenstand des Verfahrens ist allein noch die Frage, ob dem Beteiligten zu 2) unmittelbar Einsicht in die als Stellungnahmen zu den von ihm aufgestellten Behauptungen über einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb des Beteiligten zu 1) eingereichten Schreiben vom 19. April 2024 und 23. Juli 2024 entgegen den Bitten des Stellungnehmenden zu gewähren ist. Denn der Beteiligte zu 2) hat bereits eine umfassende Einsicht in die Registerakte erhalten, wie sich aus seiner Stellungnahme vom 27.05.2024 ergibt. Die Akte enthielt nicht nur die nach § 79 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 66 BGB jedermann zur Einsicht zur Verfügung stehenden Unterlagen, sondern auch den weiteren Schriftverkehr, weil das Registergericht bisher nicht von der Möglichkeit nach § 7 Abs. 1 Satz 2 VRV Gebrauch gemacht hat und lediglich eine Akte führt.

Die Gewährung eines weitergehenden Akteneinsichtsrechts entgegen der Bitte des Beteiligten zu 1) kommt nicht in Betracht, weil es insoweit an einem berechtigten Interesse im Sinne des § 13 Abs. 2 FamFG fehlt.

a) Wäre der Beteiligte zu 1) als Beteiligter des vorangegangenen und mittlerweile erledigten Verfahrens nach § 395 FamFG anzusehen, wäre zwar von einem berechtigten Interesse auszugehen (vgl. dazu Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 24. Oktober 2024 – 102 VA 105/24 –, juris Rn. 30ff). Denn als berechtigtes Interesse genügt jedes vernünftigerweise gerechtfertigte Interesse tatsächlicher, wirtschaftlicher oder wissenschaftlicher Art (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 5. Oktober 2020 – I-2 Wx 219/20 –, juris Rn. 9). Der Beteiligte zu 2) war aber nicht Beteiligter im verfahrensrechtlichen Sinne des FamFG. Eine solche Beteiligtenstellung folgt nicht aus dem Umstand, dass er gegenüber dem Registergericht die Einleitung eines Verfahrens nach § 395 FamFG gegen den Beteiligten zu 1) „beantragt“ hat. Denn er selbst ist insoweit nicht antragsbefugt, so dass seine Eingabe lediglich als Anregung anzusehen war, die nicht dazu führt, dass eine Beteiligtenstellung im Sinne des § 7 FamFG erworben wird (vgl. Sternal/Sternal, FamFG, 21. Aufl., § 7 Rn. 16; MüKoFamFG/Pabst, 4. Aufl., § 7 Rn. 5). Auch im Übrigen liegen die Voraussetzungen des § 7 FamFG in der Person des Beteiligten zu 2) nicht vor. Eine Berufung auf ein allgemeines Informationsbedürfnis eines interessierten Bürgers reicht insoweit nicht aus.

Als Anregender des Verfahrens nach § 395 FamFG lässt sich ein berechtigtes Interesse nicht herleiten. Denn dem Beteiligten zu 2) sind alle von dem Beteiligten zu 1) mitgeteilten Umstände zu den von ihm aufgestellten Behauptungen übermittelt worden. Ein weitergehendes irgendwie geartetes Interesse ist nicht ersichtlich und nicht dargelegt. Dann kommt auch eine Akteneinsicht nicht in Betracht (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 5. Oktober 2020 – I-2 Wx 219/20 –, juris Rn. 9; Sternal/Sternal, FamFG, 21. Aufl., § 13 Rn. 30). Auf eine falsche oder unvollständige Wiedergabe des Inhalts der Stellungnahmen beruft sich der Beteiligte zu 2) auch nicht. Sie liegt auch nicht vor.

b) Der Beteiligte zu 2) kann sich schließlich auch nicht auf seine journalistische Tätigkeit berufen. Eine solche Tätigkeit wird allerdings durch Art. 5 Abs. 1 GG besonders geschützt. Dieser Schutz umfasst dabei auch die Informationsbeschaffung (vgl. BGH, Beschluss vom 17. August 2011 – V ZB 47/11 –, juris Rn. 6). Aus diesem Grund stehen dem Senat insoweit nur stark eingeschränkte Prüfungsmöglichkeiten zu. So hat sowohl die Qualität der journalistischen Tätigkeit unbeachtet zu bleiben, als auch die Frage, ob die erwarteten Informationen hilfreich oder notwendig sind (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 28. August 2000 – 1 BvR 1307/91 –, juris Rn. 29). Gegen die Annahme, dass der Beteiligte zu 2) die weitergehende Akteneinsicht aufgrund seines journalistischen Interesses erstrebt, spricht aber, dass der Hinweis auf eine journalistische Tätigkeit erst in dem Moment erfolgt ist, als ihm wegen des Fehlens eines berechtigten Interesses eine weitergehende Akteneinsicht verwehrt worden ist. Die Schreiben sind darüber hinaus auch nur auf der Grundlage der von ihm aufgestellten Behauptungen im Verfahren nach § 395 FamFG erstellt worden und deshalb von ihm provoziert worden. Registerakten enthalten in der Regel keine Angaben zu den Vermögensverhältnissen und wirtschaftlichen Beziehungen der Vereine. Dann aber muss dem Betroffenen – hier dem Beteiligten zu 1) – das Recht verbleiben, einer unmittelbaren Übersendung seiner Stellungnahmen zu widersprechen. Dies gilt vor allem dann, wenn der Inhalt der Stellungnahmen bereits dem die Akteneinsicht Begehrenden bekannt gegeben worden ist.2

Und auch hier dann <<Werbemodus an>> der Hinweis auf „mein“ „Vereinsrecht“, das in Kürze in 12. Aufl. erscheint und hier vorbestellt werden kann. <<Werbemodus aus>>.

OWi II: Bunt Gemischtes zum Verfahrensrecht, oder: Einstellung, Verjährung, WhatsApp, AG-Vorlage, Gründe

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Und dann kommen im zweiten Posting des Tages einige Entscheidungen zum Verfahren(srecht), dreimal „OLG“ und viermal von Amtsgerichten. Ich stelle aber jeweils nur die Leitsätze zu den Entscheidungen vor. Die lauten:

Das tatrichterliche Urteil muss bei Geschwindigkeitsmessungen mittels standardisierter Messverfahren Feststellungen zum angewandten Messverfahren und zum in Ansatz gebrachten Toleranzabzug enthalten.

1. Ergeht gegen eine auf der Grundlage von § 30 OWiG in Anspruch genommene neben- oder „verfahrensbeteiligte“ juristische Person ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG, so muss sich deren Verfahrensrolle aus der Rechtsbeschwerdebegründung ergeben, weil § 74 Abs. 2 OWiG auf die bußgeldrechtliche Inanspruchnahme einer juristischen Person als Nebenbeteiligte nicht anwendbar ist und stattdessen die §§ 46 Abs. 1 OWiG, 444 StPO gelten (vgl. BGHSt 66, 309).

2. Zu den Darlegungsanforderungen bei der Rüge nicht ordnungsgemäßer Ladung zur Hauptverhandlung.

Ohne die Aktenvorlage der Staatsanwaltschaft nach § 69 Abs. 4 OWiG darf der Richter sich nicht mit der Angelegenheit befassen, da die förmliche Zuleitung der Akte an das Gericht durch die Staatsanwaltschaft Verfahrensvoraussetzung für das gerichtliche Verfahren ist.

Eine audiovisuelle Zeugenvernehmung nach § 247a StPO in Verbindung mit § 71 OWiG kann auch per WhatsApp über das Betroffenenhandy stattfinden, wenn die an der Vernehmung beteiligten Personen trotz Hinweises auf datenschutzrechtliche Bedenken hierbei freiwillig mitmachen.

Aufgrund eines Zeitablaufs von mittlerweile fast sechs Jahren seit Tatbegehung ist die Schuld des Betroffenen als so gering anzusehen, dass eine Einstellung des Verfahrens rechtfertigt ist.

Hat die Bußgeldbehörde auf einen Antrag des Betroffenen nicht vollständig Akteneinsicht gewährt, hat die Bußgeldbehörde im Rahmen des Abhilfeverfahrens betreffend einen Antrag nach§ 62 OWiG zu entscheiden, inwieweit weitere Akteneinsicht zu gewähren ist. Soweit die Bußgeldbehörde dem Antrag auf Einsicht in die begehrten Unterlagen nicht abhilft, ist das Verfahren gern. § 62 Abs. 2 OWiG i. V. m. § 306 Abs. 2 Hs 2 StPO dem Amtsgericht zur Entscheidung vorzulegen.

Eine Unterbrechung und Verlängerung der Verjährungsfrist erfolgt nicht durch die Zustellung des Bußgeldbescheides, wenn bei der Zustellung das Zustelldatum nicht auf dem (Brief)Umschlag eingetragen wurde.

VR I: KG rüffelt Straßenverkehrsentscheidung deutlich, oder: Ungeordneter und konfuser Text in den Gründen

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Und dann mal wieder Verkehrsrecht. Und diesen Verkehrsrechtstag eröffne ich mit dem KG, Beschl. v. 13.06.2025 – 3 ORs 27/25 – in dem das KG mehr als deutlich mitteilt, was es von den Gründen eines AG-Urteils hält, durch das der Angeklagte wegen Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) verurteilt worden ist. Man kann es ganz kurz zusammenfassen: Nichts. In der Schule hätte es geheißen: Setzen, sechs.

Das AG hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen  verurteilt und gegen ihn ein fünfmonatiges Fahrverbot verhängt. Die Urteilsfeststellungen lauten auszugsweise wie folgt:

„II.

Der Angeklagte befuhr am 4. Januar 2024 gegen 8:19 Uhr mit dem PKW mit dem amtlichen Kennzeichen pp. die Landsberger Allee in 12681 Berlin stadteinwärts. In Höhe des Kinos am Eastgate beschleunigte der Angeklagte sein Fahrzeug nochmals, um die dort bereits rot abstrahlen Lichtzeichenanlage zu überfahren. Er hätte dies bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt erkennen können und müssen. Das Verhalten hatte zugleich zur vorhersehbaren und vermeidbaren Folge, dass Fußgänger, die bereits bei grünem Ampellicht die Straße überqueren wollten, zurückwichen und nur so ein Unfall vermeiden konnten. Der Angeklagte handelte grob verkehrswidrig und rücksichtslos denn er schenkte aus Gleichgültigkeit der rot abstrahlen und Lichtzeichenanlage keine besondere Beachtung und beginnen somit einen objektiv besonders gefährlichen Verstoß gegen eine Verkehrsvorschrift.

…..“

Dagegen die (Sprung-)Revision des Angeklagten, die Erfolg hatte. Das KG führt aus:

„Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat in ihrer Zuschrift vom 6. Juni 2025 u.a. wie folgt ausgeführt:

„Der – nach § 335 StPO statthaften – (Sprung-)Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, kann der (vorläufige) Erfolg nicht versagt werden.

Das Rechtsmittel dringt mit der erhobenen Sachrüge durch. Das Urteil des Amts-gerichts hält in mehrfacher Hinsicht einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

1. Das Urteil ist bereits deswegen aufzuheben, weil – wie die Revision zutreffend ausführt – die schriftlichen Entscheidungsgründe maßgebliche redaktionelle Fehler aufweisen, dass sie zum einen unverständlich, widersprüchlich und lückenhaft sind und zum anderen den Anspruch jedes Angeklagten und jeder Angeklagten verletzen, dass die Gründe eines ihn bzw. sie betreffenden Urteils mit einem Mindestmaß an Sorgfalt abgefasst wurden (vgl. KG, Beschluss vom 5. September 2022 – (1) 121 Ss 100/22 (40/22) -). Diesem Defizit dürfte zu Grunde liegen, dass der Abteilungsrichter die Gründe mit einer Software diktiert und den in Teilen ungeordneten und konfusen Text hiernach nicht mehr gelesen, sondern nur noch abgezeichnet hat. Ein solches Vorgehen kann je nach Ausmaß den Bestand eines Urteils gefährden (vgl. KG aaO sowie Beschluss vom 5. April 2022 – 3 Ws (B) 86/22 -). Dass dies vorliegend der Fall ist, ergibt sich nicht nur aus den in der Revisionsbegründung aufgeführten Beispielen bzw. Zitaten aus den Urteilsgründen, die einer gedanklichen Durchdringung der in UA S. 2 unter III. aufgeführten Beweiswürdigung entscheidend entgegenstehen, sondern auch aus dem Umstand, dass der Angeklagte vom Amtsgericht im Rahmen der Strafzumessungsgründe als geständig bezeichnet wird (UA S. 3), was sich nach der vorgenannten Beweiswürdigung, soweit überhaupt verständlich, schon gar nicht nachvollziehen lässt. Die Erörterungen zur Identifizierung bzw. zum Wiedererkennen des Angeklagten durch den Zeugen pp. (UA S. 2 unter III.) sind ebenfalls unklar und im Zuge der revisionsrechtlichen Prüfung nicht ausreichend nachvollziehbar.

Auch die von der Revision aufgeworfenen Zweifel, ob die Feststellungen geeignet sind, den Schuldspruch nach § 315c Abs. 1 Nr. 2c, Abs. 3 Nr. 2 StGB zu tragen, sind letztlich nicht von der Hand zu weisen. Nach dieser vom Amtsgericht dem Schuldspruch zugrunde gelegten Vorschrift macht sich strafbar, wer im Straßenverkehr an Fußgängerüberwegen falsch fährt und dabei grob verkehrswidrig und rücksichtslos handelt, wobei dies zu einer Gefährdung von Leib, Leben oder wertvollen Guts anderer Verkehrsteilnehmer führt.

a) …..

b) Diesbezüglich ist allerdings auch folgendes festzuhalten: Die Vorschrift und die rechtliche Anwendung des § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB mit den dort aufgeführten Tatbestandsalternativen dient dazu, abstrakt besonders gefährliche Verkehrsverstöße (vgl. Fischer aaO, § 315c Rdn. 5), die von dem Täter zudem grob verkehrswidrig und rücksichtslos begangen werden, einer strafrechtlichen Sanktionierung zu unterwerfen und diese gleichzeitig von tagtäglich in großer Zahl vorkommendem „einfachen“ Fehlverhalten im Straßenverkehr, das in der Regel unter dem Gesichtspunkt einer Ordnungswidrigkeit geahndet werden kann, abzugrenzen. Die Feststellungen eines entsprechenden Strafurteils nach dieser Norm müssen daher aufzeigen, dass das Gericht sich der Notwendigkeit dieser Abgrenzung bewusst gewesen ist und nicht allein den objektiven Geschehensablauf und/oder die etwaigen (Schadens-)Folgen des Verstoßes im Straßenverkehr zur Grundlage der Beurteilung gemacht hat. Der Tatrichter kann zwar durchaus von dem festgestellten Geschehen Rückschlüsse auf Ursachen von dessen Entstehung und Motiven und Gesinnung des betreffenden Verkehrsteilnehmers ziehen; diese müssen sich indes als stichhaltig und folgerichtig sowie für das Revisionsgericht nachvollziehbar erweisen (KG VRS 130, 21/22).

An den erforderlichen Darlegungen zu einem besonders gefährlichen Verkehrsverstoß fehlt es vorliegend bereits angesichts des Mangels ausreichender Feststellungen des Gerichts zu der Geschwindigkeit des Fahrzeugs des Angeklagten in dem Zeitpunkt, als er den Fußgängerüberweg passierte. Der Tatrichter schildert zwar, dass der Angeklagte beschleunigt habe und der Zeuge pp. beim Fahrzeug des Angeklagten zum fraglichen Moment von einer Geschwindigkeit von 50-60 km/h ausgegangen sei (UA S. 2). Er stellt aber weder fest, welche zulässige Höchstgeschwindigkeit an dieser Stelle gilt noch gibt er an, von welcher konkreten Geschwindigkeit des Fahrzeugs des Angeklagten zum maßgeblichen Zeitpunkt er letztlich ausgeht. Demgemäß bleibt die Frage offen, ob ein – nach den Urteilsfeststellungen jedenfalls nicht auszuschließender – Passiervorgang bei ansonsten zulässiger Fahrgeschwindigkeit ausreichend wäre, einen von § 315c Abs. 1 Nr. 2c StGB erfassten besonders schweren Verkehrsverstoß des Angeklagten abzubilden, von den subjektiven Tatbestandsanforderungen ganz abgesehen.

c) Ungeachtet dessen fehlt es schließlich noch an weiteren für den Schuldspruch erforderlichen Erwägungen. Nach obergerichtlicher Rechtsprechung (vgl. nur KG, Beschluss vom 21. August 2013 – (3) 121 Ss 162/13 (122/13) – und in VRS 113, 291/292) handelt grob verkehrswidrig nur, wer einen besonders schweren und gefährlichen Verstoß gegen Verkehrsvorschriften begeht, der nicht nur die Sicherheit des Straßenverkehrs erheblich beeinträchtigt, sondern auch schwerwiegende Folgen zeitigen kann. Demgegenüber gilt als rücksichtslos, wer sich im Bewusstsein seiner Verkehrspflichten aus eigensüchtigen Gründen über diese hinwegsetzt oder sich aus Gleichgültigkeit nicht auf seine Pflichten als Fahrzeugführer besinnt und unbekümmert um die Folgen seines Verhaltens drauflos fährt (vgl. auch KG, Beschlüsse vom 19. Mai 2008 – (3) 1 Ss 494/07 (23/08) – und vom 27. Oktober 2005 – (3) 1 Ss 318/05 (83/05) – Juris -; OLG Düsseldorf VerkMitt 2000, 53/54). Die Annahme rücksichtslosen Verhaltens kann daher nicht allein mit dem objektiven Geschehens-ablauf begründet werden, sondern verlangt ein sich aus zusätzlichen Umständen ergebendes Defizit, das – geprägt von Leichtsinn, Eigennutz oder Gleichgültigkeit – weit über das hinausgeht, was normalerweise jedem – häufig aus Gedankenlosigkeit oder Nachlässigkeit – begangenen Verkehrsverstoß innewohnt (KG jew. aaO). Auch ausgehend von den vorstehenden Ausführungen zu b) lassen sich dahingehende nähere Feststellungen, insbesondere zur subjektiven Tatseite, den Urteilsausführungen jedoch nicht in ausreichender Weise entnehmen.

d) Schließlich fehlt es, wie die Revision zu Recht und mit zutreffenden Ausführungen anmerkt, auch an ausreichenden und stichhaltigen Feststellungen zur Gefährdung eines der von der Norm des § 315c Abs. 1 geschützten Rechtsgüter.

Der vom Amtsgericht erkannte Schuldspruch wird daher von den getroffenen Fest-stellungen nicht gedeckt; dieser kann somit letztlich keinen Bestand haben.“

Diese Ausführungen macht sich der Senat zu eigen.

Ergänzend führt der Senat noch Folgendes aus:

Auch der pauschale Satz zur Begründung des fünfmonatigen Fahrverbots genügt nicht den An-forderungen an eine ordnungsgemäße Begründung.

Im Hinblick auf die Frage der Anwendbarkeit der Norm ist ferner anzumerken, dass unter § 315 c Abs. 1 Nr. 2c StGB nur Fußgängerüberwege im Sinne des § 26 StVO fallen. Dies sind allein die durch Zeichen 293 (Zebrastreifen) markierten Fahrbahnflächen (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Mai 2015 – 4 StR 164/15 -, BeckRS 2015,12689 sowie BGH NZV 2008, 528). Dass es sich vorliegend um eine mit „Zebrastreifen“ markierte Fahrbahnfläche und damit um einen Fußgängerüberweg im Sinne des § 26 StVO gehandelt hat, kann den Urteilsgründen nicht entnommen werden. Um dem Revisionsgericht eine Nachprüfung zu ermöglichen, sind insoweit genauere Angaben zu den örtlichen Gegebenheiten und Markierungen erforderlich. Der Umstand, dass sich aus den Urteilsfest-stellungen ergibt, dass an der betreffenden Stelle eine Fußgängerampel vorhanden ist, lässt vielmehr vermuten, dass es sich um eine sog. Fußgängerfurt handeln könnte.

Dass eine derart desolate Abfassung der Urteilsgründe den Bestand des Urteils gefährdet, ist dem befassten Richter bereits in den Verfahren 3 Ws (B) 211/21 sowie 3 Ws (B) 86/22 durch Be-schlüsse des Senats vom 28. September 2021 sowie 5. April 2022 mitgeteilt worden. Er wurde ebenfalls bereits darauf hingewiesen, dass die offenbar eingeschliffene Praxis der Abteilung nicht nur den Urteilsbestand gefährdet, sondern auch geeignet ist, dem Ansehen der Justiz zu schaden. In den vorgenannten Senatsbeschlüssen wurde der Abteilungsrichter auch auf seine unleserliche Unterschrift aufmerksam gemacht, die einen Buchstaben weder erkennen noch erahnen lässt. All dies hat erstaunlicherweise bislang zu keiner Abhilfe geführt.

Das Beruhen des angefochtenen Urteils auf den vorstehend dargelegten Mängeln und der damit verbundenen Verletzung des Gesetzes (§ 337 Abs. 1 StPO) ist offensichtlich.“

Ich denke, jedes weitere Wort zu dieser „Hinter-den Spiegel-Steck-Entscheidung“ ist überflüssig, außer: Die Verärgerung des KG über den offenbar unbelehrbaren Amtsrichter ist mehr als deutlich zu lesen.

Verkehrsrecht I: Krankenfahrstuhl fahrerlaubnisfrei?, oder: Fahren ohne Fahrerlaubnis

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Heute dann mal wieder ein „Verkehrsrechtstag“, also Entscheidungen zum Verkehrs(strafrecht). Einmal K, zweimal AG.

Ich starte mit dem KG, Beschl. v. 07.03.2025 – 3 ORs 8/25 – 121 SRs 5/25 -, der sich u.a. zur Fahrerlaubnispflicht bei motorisierten Krankenfahrstühlen äußert.

Das AG hat die Angeklagte wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe verurteilt und ein Fahrverbot von sechs Monaten verhängt. Gegen dieses Urteil hat die Angeklagte Berufung mit dem Ziel des Freispruchs eingelegt. Das LG hat dann das amtsgerichtliche Urteil dahin abgeändert, dass es die Angeklagte wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt und das Fahrverbot entfallen lassen hat. Hinsichtlich eines Tatvorwurfes des unerlaubten Entfernens vom Unfallort wurde das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Gegen dieses Urteil hat die Angeklagte Revision eingelegt, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügt. Insbesondere trägt sie vor, das Berufungsgericht habe zu Unrecht Tatidentität im Sinne des § 264 StPO angenommen und daher auch keine Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis vornehmen dürfen. Ferner sei unklar, welches genaue geschichtliche Geschehen den der Angeklagten gemachte Tatvorwurf umfasse. Darüber hinaus liege weder eine Straftat noch eine Ordnungswidrigkeit vor.

Die Revision hatte Erfolg. Ich beschränke mich hier auf die Ausführungen des KG zur Fahreralubnispflicht. Den Rest ggf. bitte selbst lesen. Das KG führt aus:

„b) Die Urteilsgründe halten jedoch der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Denn die Feststellungen zur tatsächlichen bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit des von der Angeklagten gesteuerten Fahrzeuges und die diesbezüglich vorgenommene Beweiswürdigung sind lückenhaft.

Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Fahrerlaubnis – Verordnung (FeV) sind motorisierte Krankenfahrstühle fahrerlaubnisfrei. Eine Prüfbescheinigung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FeV ist nicht erforderlich. Nach im Fahrerlaubnis- und Zulassungsrecht übereinstimmender Legaldefinition sind motorisierte Krankenfahrstühle einsitzige, nach der Bauart zum Gebrauch durch körperlich behinderte Personen bestimmte Kraftfahrzeuge mit Elektroantrieb, einer Leermasse von nicht mehr als 300 kg einschließlich Batterien jedoch ohne Fahrer, einer zulässigen Gesamtmasse von nicht mehr als 500 kg, einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 15 km/h, und einer Breite über alles von maximal 110 cm (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FeV, § 2 Nr. 13 Fahrzeug – Zulassungsverordnung). Die Definition ist abschließend, alle genannten Merkmale müssen kumulativ vorhanden sein. Die Bezeichnung motorisierte Krankenfahrstühle ist nicht Bestandteil der Legaldefinition, sondern der Gegenstand, auf den sie sich bezieht (vgl. Koehl in Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht 48. Aufl., FeV § 4 Rn. 27).

Das Tatgericht hat zutreffend erkannt, dass schon allein der Wegfall eines Merkmals die Fahrerlaubnisfreiheit entfallen lässt. Ausweislich der Urteilsgründe mangelte es vorliegend am Merkmal der „bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 15 km/h“. Den getroffenen Feststellungen ist insoweit zu entnehmen, dass es sich „bei dem Fahrzeug, das mit dem Versicherungskennzeichen 802NBD versehen war um einen so genannten Krankenfahrstuhl handelte, der das Aussehen eines kleinen Personenkraftwagens hat“ und „auf dessen Heck ein großer runder Aufkleber mit der Aufschrift „25“ für die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 25km/h angebracht“ war. Weitere Feststellungen zur tatsächlichen bauartbedingen Höchstgeschwindigkeit des Fahrzeuges enthält das Urteil nicht

Auch die vorgenommene Beweiswürdigung ist in diesem entscheidenden Punkt lückenhaft.

Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr., vgl. BayObLG, Beschluss vom 7. Juni 2022 – 202 ObOWi 678/22 –, juris). Die Prüfung durch das Revisionsgericht ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich – rechtlicher Hinsicht nur der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder überhöhte Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung gestellt wurden oder sich auf nichtexistierende Erfahrungssätze stützt (st. Rspr., vgl. zuletzt nur BGH, Urteile vom 23. März 2023 – 3 StR 277/22 – und 16. März 2023 – 4 StR 252/22 –; BGH, Beschluss vom 2. März 2023 – 2 StR 119/22 –; Senat, Beschluss vom 31. Juli 2020 – 3 Ws (B) 174/20 –, jeweils bei juris).

Das Tatgericht stützt seine Überzeugung zur bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit des Fahrzeuges ausschließlich darauf, dass das Fahrzeug einen Aufkleber mit der Aufschrift „25“ gemäß § 58 Straßenverkehrs – Zulassungs – Ordnung (StVZO) trug. Allein aus diesem Umstand kann jedoch nicht darauf geschlossen werden, dass das Fahrzeug bauartbedingt tatsächlich über eine entsprechende Motorisierung verfügt. Die Berufungskammer leitet diesen Umstand ausschließlich aus der Bezugnahme auf die sich hierzu in der Akte befindenden Lichtbilder ab, ohne dass insoweit eine weitere Aufklärung erfolgt wäre. Allein vom Vorhandensein des Aufklebers, der im Übrigen vom Fahrzeughalter selbst anzubringen ist (vgl. Koehl in Hentschel/König, a.a.O., StVZO, § 58 Rn. 1), kann nicht darauf geschlossen werden, welche Höchstgeschwindigkeit (mehr oder weniger als 25 km/h) das Fahrzeug tatsächlich erzielen kann. Angesichts der Vielzahl der sich im Umlauf befindenden und verwendeten Aufkleber und Beschilderungen kann hieraus kein rechtlicher Rückschluss auf die tatsächliche Höchstgeschwindigkeit eines Fahrzeuges gezogen werden.

c) Da sich aus der Gesamtheit der Urteilsgründe auch keine weiteren Angaben zur Beschaffenheit des Fahrzeuges (einsitzig, Elektroantrieb etc.) ergeben, bleibt dem Revisionsgericht die Prüfung verschlossen, ob die Ausnahmevorschrift des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FeV aus anderen Gründen fällt.“

So weit, so gut. Was mich mal wieder an der Entscheidung stört, ist eine Formulierung, die man so oder ähnlich häufig liest, nämlich: „Der zulässigen Revision der Angeklagten kann der Erfolg nicht versagt bleiben.“ Ich frage mich immer, warum man nicht einfach schreibt: „Die Revision hat Erfolg.“ Dieses „…. kann der Erfolg nicht versagt bleiben.“ liest sich immer, als ob man das Urteil nur ungern aufhebt, was einem nicht gefällt, aber man muss nun mal aufheben. Nein. Die Revision ist begründet. Und gut ist es. Ob mir das als Revisionsrichter gefällt, ist doch völlig egal.

Wiederanfahren nach Halten in „zweiter Reihe“, oder: In „zweiter Reihe“ nicht verkehrsbedingt auf Busspur

Im „Kessel-Buntes“ köcheln heute dann zwei zivilrechtliche Entscheidungen, die mit Verkehrsrecht zu tun haben, und zwar einmal KG und einmal AG Brandenburg.

Ich starte mit dem KG. Es handelt sich um das KG, Urt. v. 27.03.2025 – 22 U 29/24. Das KG nimmt Stellung zu den Sorgfaltspflichten beim Wiederanfahren nach Halten in „zweiter Reihe“.

Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beklagte zu 1. stand mit seinem Pkw auf der Busspur neben dem auf dem rechten Parkstreifen stehenden Pkw der Zeugin K. in zweiter Reihe. Der Zeuge G. war Beifahrer des Beklagten zu 1. Der Zeugin K., die in ihrem Pkw saß, wurden aus dem Pkw des Beklagten zu 1. heraus Schlüssel übergeben und ein kurzes Gespräch geführt. Der Beklagte zu 1. fuhr, die Vorderräder des Pkw leicht links eingeschlagen, an, weshalb sein Pkw mit dem des Klägers zusammenstieß, der in diesem Moment von dem linken Fahrstreifen an der dafür vorgesehenen Stelle (Leitlinien Zeichen 340) die (mittlere) Busspur (Zeichen 245 [Bussonderfahrstreifen]) querte, um den Rechtsabbiegerfahrstreifen zu erreichen.

Das LG hat die Klage nur in Höhe von 1/3 als begründet angesehen. Dagegen die Berufung des Klägers, die in vollem Umfang Erfolg hatte.

„Die daran anknüpfende rechtliche Beurteilung des Landgerichts hinsichtlich des Mitverschuldens und der Anteile des Klägers und des Beklagten zu 1. vermag der Senat nicht zu teilen.

1. Der Beklagte zu 1. verschuldete den Unfall vielmehr allein.

a) Zwar ist zutreffend, dass das Anfahren aus zweiter Reihe nicht durch den Wortlaut des § 10 S. 1 StVO („vom Fahrbahnrand anfahren“) erfasst wird. Jedoch besteht bei einem Anfahren vom Fahrbahnrand und dem Anfahren aus zweiter Reihe eine vergleichbare Situation, die keinen wesentlichen Unterschied bedeutet, sondern das Erkennen des Anfahrens für andere Verkehrsteilnehmer eher zusätzlich erschwert, weil nicht aus einer Lücke ausgefahren, sondern aus dem Stand unvermittelt losgefahren wird. Das Landgericht übersieht, dass der Verordnungsgeber für ohnehin verbotene (rechtswidrige) Sachverhalte Regelungen nicht treffen muss, weshalb das unzulässige Parken bzw. das grundsätzlich unzulässige Halten in zweiter Reihe (§ 12 Abs. 4 StVO; vgl. König in: Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 48. Auflage (2025), § 12 StVO Rn. 40, 60; Schubert in: Münchener Kommentar, StVR, Band 1, 1. Aufl. § 12 StVO Rn. 87 ff.; Freymann in: Geigel, Haftpflichtprozess, 29. Aufl., Kap. 27 Rn. 369; BGH, Beschluss vom 3.10.1978 – 4 StR 263/78NJW 1979, 224 f.) naturgemäß nicht in die Spezialregelung des § 10 StVO einbezogen ist, obwohl der Sachverhalt und die Gefährdungslage prinzipbedingt nicht abweichen. Den Bussonderfahrstreifen durfte der Beklagte nicht benutzen. Auf ihm darf auch nicht gehalten werden (vgl. Zeichen 245 Nr. 1 [Benutzungsverbot] und Nr. 3., der selbst Taxis das Halten nur im Haltestellenbereich erlaubt; VwV zu Zeichen 245 Bussonderfahrstreifen IV.: „Die Funktionsfähigkeit der Sonderfahrstreifen hängt weitgehend von ihrer völligen Freihaltung vom Individualverkehr ab.“). Die Grundsätze müssen deshalb für das Anfahren aus zweiter Reihe erst recht gelten, weil andernfalls derjenige, der ohnehin schon gegen das Recht verstößt, gegenüber dem rechtmäßig parkenden oder haltenden Verkehrsteilnehmer besser gestellt wäre. Im Rahmen der allgemeinen Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflicht (§ 1 Abs. 2 StVO) gelten daher die gleichen Anforderungen und Grundsätze. Es besteht eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, die Absicht zum Einfahren in den fließenden Verkehr ist rechtzeitig (mindestens 5 s zuvor) anzuzeigen (selbst bei Geradeausfahrt im Fahrstreifen) und dessen Vorrang zu beachten. Ferner gelten die zu § 10 StVO entwickelten Grundsätze hinsichtlich des Anscheinsbeweises für die Verletzung dieser Pflichten (Senat, [Hinweis-] Beschluss vom 17. November 2022 – 22 U 50/22; vgl. Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 48. Auflage (2025), § 10 StVO Rn. 7, 10; Burmann in: Burmann u.a., Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 10 StVO Rn. 12; Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. [Stand: 24.02.2025], § 10 StVO Rn. 38).

b) Der Beklagte zu 1. musste (und wollte ausweislich des Einschlages der Vorderräder) die Busspur nach links verlassen. Für ihn und nicht den Kläger – wie noch unten ausgeführt wird – galt daher bereits beim Einleiten des bevorstehenden Fahrstreifenwechsels durch Anfahren aus zweiter Reihe zusätzlich die Pflicht zur äußersten Sorgfalt und Beachtung des Vorrangs des fließenden Verkehrs gemäß § 7 Abs. 5 StVO (Burmann in: Burmann u.a., Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 10 StVO Rn. 4; LG Frankfurt a. M. LG Frankfurt, Urteil vom 19. Juli 1993 – 2/24 S 131/92 –, juris = DAR 1993, 393).

c) Ein Vorrang des Beklagten zu 1. hätte sich – unterstellt, er hätte die Busspur verbotswidrig weiterhin befahren wollen – auch nicht aus § 9 Abs. 3 S. 2 StVO ableiten lassen. Ihn musste der Kläger nicht durchfahren lassen. Die Regelung bevorrechtigt ausschließlich (im gleichgerichteten Verkehr) benutzungsberechtigte Verkehrsteilnehmer, wie u.a. Linienbusse (KG, Beschluss vom 03.12.2009 – 12 U 32/09 – beck-online; Senat, Urteil vom 14.12.2017 – 22 U 31/16 – beck-online = r+s 2018, 36; Freymann in: Geigel, Haftpflichtprozess, 29. Aufl., Kap. Rn. 287; Burmann in: Burmann u.a., Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 9 StVO Rn. 38; König in: Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 48. Auflage (2025), § 9 StVO Rn. 39; anders im Begegnungsverkehr: KG, Beschluss vom 3. 12. 2007 – 12 U 191/07NZV 2008, 297; Burmann in: Burmann u.a., Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 9 StVO Rn. 28a).

d) Die Verkehrsverstöße des Beklagten zu 1., der den Vorrang des Klägers nicht einmal in Betracht gezogen hatte, waren schwerwiegend und objektiv grob. Mit einem Wechsel anderer Verkehrsteilnehmer von dem linken Fahrstreifen über die Busspur auf die Rechtsabbiegerspur war im Bereich der Querung zu rechnen. Der Beklagte zu 1. hätte also auch insoweit auf rückwärtigen Verkehr achten müssen und erst nach hinreichend langem Linksblinken zum Zeichen der Anfahrabsicht losfahren dürfen, wobei er allerdings den Vorrang der anderen Verkehrsteilnehmer zu beachten und sicherzustellen hatte, dass diese weder behindert noch gefährdet wurden.

2. Den Kläger trifft dagegen kein Verschulden.

a) Es ist zum einen nicht ersichtlich, dass er die Absicht des Beklagten zu 1., aus dem Stand anzufahren, hätte erkennen müssen oder können, und deshalb Unfall vermeidend hätte reagieren können (§ 1 Abs. 2 StVO). Wegen des haltenden Pkw des Beklagten zu 1., der die Busspur blockierte, musste der Kläger auch nicht mit berechtigtem Verkehr auf dem Bussonderfahrstreifen rechnen.

b) Zum anderen hatte der Kläger, was das Landgericht übersehen hat, dem Beklagten gegenüber keine Sorgfaltspflichten aus § 7 Abs. 5 StVO zu beachten. Dem Kläger stand als Teilnehmer des fließenden Verkehrs der Vorrang vor dem nicht verkehrsbedingt haltenden Beklagten zu 1. zu, denn § 7 Abs. 5 StVO schützt nur den fließenden Verkehr (BGH, Urteil vom 08. März 2022 – VI ZR 1308/20 –, juris Rn. 11 ff.; Freymann in: Geigel, Haftpflichtprozess, 29. Aufl., Kap. 27 Rn. 206, 216),

3. Hinter dem grob sorgfaltswidrigen Verhalten des Beklagten zu 1. tritt im Rahmen der Abwägung der Mitverursachungs- und -verschuldensanteile (§ 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG; §§ 9 StVG, 254 BGB) die Haftung des Klägers aus der Betriebsgefahr vollständig zurück, weshalb die Beklagten allein haften.“