Schlagwort-Archive: Unfähigkeit der Selbstverteidigung

Pflichti I: Kleines Potpourri der Beiordnungsgründe, oder: Strafvollstreckung, Betreuung, Ausländer

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Heute dann zur Wochenmitte mal wieder ein „Pflichti-Tag“.

Ich beginne in diesem Posting mit drei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Die Mitwirkung eines Verteidigers im Verfahren zur Erledigung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist regelmäßig in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO erforderlich, wenn die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wegen fehlender Erfolgsaussicht trotz Fortbestehens des Therapiewillens des Untergebrachten gem. § 67d Abs. 5 StGB für erledigt erklärt wird.

1. Insbesondere bei einem unter Betreuung mit dem „Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden“ stehenden Angeklagten ist regelmäßig von einer Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit auszugehen, so dass ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO zu bestellen ist.

2. Gegen die Bestellung der Pflichtverteidigerin spricht nicht der Umstand, dass das Verfahren zum Zeitpunkt der Entscheidung nach § 154f StPO eingestellt ist.

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird bei einem nicht hinreichend sprachkundigen Angeklagten nicht bereits deshalb entbehrlich, wenn die sich aus den Sprachschwierigkeiten ergebenden Einschränkungen seiner Verteidigungsmöglichkeiten durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers „abgemildert“ werden. Vielmehr kann in solchen Fällen nur dann von der Verteidigerbestellung abgesehen werden, wenn die Einschränkungen durch den Dolmetscher völlig ausgeglichen werden, was bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage fraglich sein kann.

 

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Viermal topp, zweimal hopp

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Im zweiten Posting dann der Dauerbrenner im Recht der Pflichtverteidigung, nämlich die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Pflichtverteidigers nach Erledigung des Verfahrens. Wie immer zwei Gruppen, „gute“ und „schlechte“ Entscheidungen:

Zunächst hier die „guten“ Entscheidungen, und zwar.

1. Eine nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers kann ausnahmsweise zulässig sein, wenn trotz Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aus justizinternen Gründen nicht entschieden worden ist bzw. die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Insofern sieht das geltende Recht zur effektiven Ausgestaltung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand vor, dass ein Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorzulegen ist. Um eine Untergrabung dieses Rechts zu verhindern, kann dem Beschuldigten bei Missachtung dieser Abläufe – der ansonsten richtige – Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht entgegengehalten werden, wenn das konkrete Verteidigungsbedürfnis nach dieser angemessenen Entscheidungszeit wegfällt. Es ist in solchen Fällen dann regelmäßig auf die Begründetheit des Antrags vor Wegfall – etwa durch Verfahrenseinstellung – abzustellen.
2. Eine Pflichtverteidigerbestellung hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte selbst nicht hinreichend verteidigen kann. Zwar genügt die bloße Betreuerbestellung nicht, um allein deswegen eine Verteidigerbestellung auszusprechen. Die Verteidigungsfähigkeit bemisst sich nach den geistigen Fähigkeiten, dem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Einzelfalles. Eine Beiordnung ist indes bereits regelmäßig angezeigt, wenn an der Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten erhebliche Zweifel bestehen.

Rückwirkende Pflichtverteidigerbestellungen sind im Falle rechtzeitig gestellter Beiordnungsanträge auch noch nach Erledigung des Verfahrens – schon zur Verwirklichung des Rechts auf ein faires Verfahren – geboten.

Zur (bejahten) Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers.

Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist dann angebracht, wenn der Antrag auf Pflichtverteidigerbeiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde. die Voraussetzungen des § 140 StPO vorliegen und die Entscheidung über die Beiordnung nicht unverzüglich erfolgte, sondern wegen justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte.

Und dann hier die „schlechten“ Entscheidungen, nämlich:

Die rückwirkende Bestellung eines Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger ist nicht zulässig.

Pflichti I: Zweimal zu den Beiordnungsgründen, oder: Persönlichkeitsstörung/Borderline und schwieriges IfSG

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Am letzten Tag des Monats Januar – ich bin dann doch erstaunt, wie schnell die zeit an uns – zumindest an mir 🙂 – vorbeirauscht – dann noch einige Entscheidungen zur Pflichtverteidigung.

Hier stelle ich zunächst zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen vor, und zwar:

Ist beim Beschuldigten eine Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ, im Sinne der Ziffer F60.31G nach ICD-10-Klassifikation, attestiert ist Unfähigkeit zur Selbstverteidigung im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO zu bejahen. Insofern kommt es nicht darauf an, ob konkret kognitive Einschränkungen vorliegen, die im Sinne einer verminderten Aufnahmefähigkeit die Verteidigungsfähigkeit einschränken. Vielmehr genügt, dass die Prädisposition keine positive Prognose für ihre fortdauernde Verteidigungsfähigkeit zulässt.

Der Begriff der schwierigen Rechtslage ist weit auszulegen, da entscheidend ist, ob die Rechtslage für einen Laien schwierig ist. Dies ist sie zumindest dann der Fall, wenn eine Rechtsfrage in Rechtsprechung und Literatur streitig ist oder wenn sie Abgrenzungs- oder Subsumtionsprobleme bereitet, so bei ungeklärten Fragen des materiellen oder formellen Rechts. Die Rechtslage rund um die neuen Strafvorschriften des IfSG ist danach nicht einfach.

Pflichti II: Gemeinschaftliche Tat mit einem Elternteil, oder: Unfähigkeit der Selbstverteidigung

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Und dann habe ich hier im zweiten Posting des Tages den AG Eilenburg, Beschl. v. 19.10.2022 – 9 Ds 647 Js 1866/22 jug. Er hätte auch ganz gut heute Morgen zu den Beiordnungsgründen gepasst, aber ich will von dem Beschluss nicht nur den Leitsatz einstellen.

Folgender Sachverhalt: Mit der Anklageschrift wird den beiden Angeklagten, einem Vater und seinem minderjährigen Sohn, der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 18 Jahre und 2 Wochen alt sein wird, zur Last gelegt, gemeinschaftlich eine andere Person verletzt zu haben. Im Ermittlungsverfahren waren die beiden Beschuldigten, der Sohn in Anwesenheit seiner Mutter, getrennt voneinander vernommen worden. Die Bestellung eines Verteidigers erfolgte nicht, ein Antrag auf Entzug elterlicher Verfahrensrechte war seitens der Staatsanwaltschaft nicht gestellt worden. Nach Zustellung der Anklage haben sich Verteidiger für beide Angeklagte gemeldet. Die Verteidigerin des Jugendlichen beantragt nunmehr namens und im Auftrag ihres Mandanten, ihm als Pflichtverteidigerin beigeordnet zu werden, woraufhin sie das Wahlmandat niederlegen werde. Die Staatsanwaltschaft ist einer Beiordnung entgegengetreten, weil für die zur Begründung angeführten sonstigen schwerwiegenden Nachteile keinerlei Anhaltspunkte bestünden. Das AG hat die Wahlverteidigerin als Pflichtverteidigerin bestellt:

„Dem Angeklagten war seine Wahlverteidigerin beizuordnen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist. Denn der Angeklagte kann sich im Sinne des § 140 Abs.2 S. 1 letzte Alt. StPO nicht selbst verteidigen. Allerdings trifft die vorliegende Konstellation den Wortlaut des § 68 Abs.1 Nr. 1 JGG insofern nicht, als für einen Erwachsenen ein Verteidiger nicht zu bestellen wäre, wenn sich die Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit eines Angeklagten gerade aus dessen Minderjährigkeit herrührt. Die Vorschrift ist dahingehend auszulegen, dass einem Beschuldigten nach § 68 Nr.1 JGG ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung nach allgemeinem Strafrecht gegeben ist (so im Ergebnis auch OLG Saarbrücken, Beschluss v. 3.5.2006, 1 Ws 87/06, OLG Brandenburg, Beschluss v. 28.11.2001, 1 Ss 46/01). Dem Sinn der Vorschrift nach ist einem jugendlichen Angeklagten ein Verteidiger dann zu bestellen, wenn er sich nicht ausreichend selbst verteidigen kann – wobei dabei zu berücksichtigen ist, ob und in welchem Grade die Erziehungsberechtigten in der Lage und fähig – und damit verpflichtet – sind, die ihrem Kind geschuldete Unterstützung zuteilwerden zu lassen (Vgl. zu diesem Aspekt Beschluss LG Koblenz v. 2.1.2019, 2 Qs 120/18).

Der Angeklagte kann sich nicht ausreichend selbst verteidigen.

Zur eigenen Verteidigungsfähigkeit gehört es insofern nicht nur, sich gegenüber der Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls einem Nebenkläger verteidigen zu können, sondern auch, sich gegenüber seinen Mitangeklagten behaupten zu können (vgl. u.a. OLG Brandenburg, Beschluss v. 28.11.2001, 1 Ss 46/01). Dieser Aspekt des fairen Verfahrens gebietet die Bestellung eines Pflichtverteidigers zwar nicht immer schon dann, wenn einer der Mitangeklagten durch einen Verteidiger vertreten wird. Dies hätte nämlich zur Folge, dass in einer Konstellation mit mehreren Angeklagten der Fall der notwendigen Verteidigung allein durch ein geschicktes Prozessverhalten der Mitangeklagten herbeigeführt werden könnte. Indem nämlich nacheinander alle Wahlverteidiger ihr Mandat niederlegen und auf die damit jeweils eingetretene prozessuale Unterlegenheit des von ihnen vertretenen Mandanten gegenüber den Mitangeklagten verwiesen werden könnte.

Um eine solche rechtsmissbräuchliche Konstellation handelt es sich aber dann nicht, wenn einer der Angeklagten von dem anderen finanziell und familiär abhängig ist. So hat der minderjährige Angeklagte, da er finanziell nicht selbständig ist, keine Möglichkeit, sich unabhängig vom Willen seiner Eltern einen Verteidiger zu suchen.

Vor allem aber steht der Verteidigungsfähigkeit eines minderjährigen, von der Akzeptanz und Anerkennung seiner Eltern in besonderer Weise abhängigen Jugendlichen entgegen, dass er sich in einem für ihn nicht auflösbaren Dilemma befinden kann, einem Dilemma, wie es in dieser familiären Grundkonstellation, aber in anderer prozessualer Konstellation durch das Zeugnisverweigerungsrecht entschärft werden kann (zur Bestellung eines Pflichtverteidigers trotz Wiedereinräumung der verfahrensrechtlichen Rechtsstellung eines Elternteils LG Essen, Beschluss v. 25.8.2011, 23 Qs 105/11). Diese Option stellt sich einem mitangeklagten Familienmitglied aber nicht. Das Dilemma, sich möglicherweise entweder einer ihm gegenüber erhobenen Schuldzuweisung, oder aber, im Gegenteil, gegen die Übernahme der Verantwortlichkeit durch ein ihn schützen wollendes Elternteil erwehren zu müssen, lässt sich gerade für einen Jugendlichen kaum adäquat lösen. In dieser Konstellation ist es unabdingbar, sich zumindest mit einer Vertrauensperson beraten und etwaige Problemlagen offenbaren und aussprechen zu können, um für sich selbst Klarheit gewinnen zu können, und um sich die Sicht eines Dritten anhören zu können.

Aus dieser Darstellung wird offenbar, dass diese Konstellation nicht einfach dadurch ein Ende findet, dass der Jugendliche volljährig wird. Dies würde nur die eng prozessrechtlich definierte Interessenskollisionskonstellation auflösen, die § 67 Abs.4 JGG im Auge hat, dass nämlich ein Erziehungsberechtigter seine Verfahrensrechte zulasten seines mitangeklagten Kindes ausübt. Um eine solche Missbrauchskonstellation geht es aber gar nicht, wo allein Fragen wie Loyalitätskonflikte oder emotionale Wahrnehmungsverzerrungen und ähnliches im Raum stehen, die eine adäquate Wahrnehmung eigener Interessen erschweren oder gar verunmöglichen.

Darüber hinaus ist bei Taten unter Beteiligung einer Autoritätsperson, insbesondere eines Elternteils, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Jugendlichen in besonderer Weise zu prüfen (OLG Hamm, Beschluss vom 24.10.2005, 2 Ss 381/05). Das Erfordernis einer solchen Prüfung erschwert die Sachlage in besonderer Weise, deren Erforderlichkeiten gerade ein selbst betroffener Jugendlicher nicht übersehen kann (vgl. dazu am Rande LG Amberg, Beschluss v. 4.2.2021, 51 Qs 1/21; LG Aachen Beschluss v. 8.7.2020 – 62 Qs-111 Js 146/20-41/20, BeckRS 2020, 33074 und umfassend Spahn, Guido, StraFo 2004, 82ff.).“

Pflichti I: 5 x Beiordnungsgründe, oder: Betreuung, OWi, Ausländer, Gesamtstrafe, Beweisverwertungsverbot

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Heute dann ein Pflichtverteidigungstag. Ich könnte auch schreiben. Heute ist der Tag des LG Kiel :-). Grund: Ein Kollege aus Kiel hat neulich „die Ecken sauber gemacht“ und mir einige Entscheidungen geschickt, die ich dann dann heute vorstelle. Zum Teil sind sie etwas älter, aber ich bringe sie dennoch.

Ich beginne mit insgesamt fünf Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen (§§ 140 ff. StPO). Ich stelle aber – schon aus Platzgründen nur die Leitsätze vor. Den Rest muss man dann bitte selst lesen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Entscheidungen:

Steht der Angeklagte unter umfassender Betreuung, insbesondere auch in Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten, begründet dies erhebliche Zweifel daran, dass sich der Angeklagte selbst verteidigen kann.

    1. Von einer schwierigen Rechtslage ist auszugehen, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird. Hiervon umfasst sind auch Fälle, in denen sich Fallgestaltungen aufdrängen, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt.
    2. Etwaige ausländerrechtliche Folgen im Falle einer Verurteilung sind nicht geeignet, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu rechtfertigen.
    3. Dass die Verteidigungsfähigkeit der Beschuldigten aufgrund ihrer fehlenden Deutschkenntnisse eingeschränkt ist, reicht für sich allein genommen nicht aus, um die Beiordnung eines Verteidigers zu rechtfertigen.

Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall notwendiger Verteidigung auch vor, wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Dies ist anzunehmen, wenn eine Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe besteht, wobei es in einem Fall möglicher Gesamtstrafenbildung auf die Höhe der zu erwartenden Gesamtstrafe und nicht auf die Straferwartung hinsichtlich der Einzelstrafe aus einem in die Gesamtstrafenbildung einzubeziehenden Verfahren ankommt.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge i. S. d. § 140 Abs. 2 StPO ist im Wege einer Gesamtbetrachtung aller ggf. zu erwartenden Rechtsfolgen zu ermitteln. Somit kommt es für die Beurteilung der Gesamtwirkung der Strafe lediglich darauf an, ob im hiesigen Verfahren mit einer (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung zu rechnen ist.

Kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine Verurteilung des Betroffenen im (Bußgeld) Verfahren Einfluss bei der Entscheidung über mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen für den Betroffenen haben könnte, ist eine Pflichtverteidigerbeiordnung gerechtfertigt.