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Pflichti I: Zunächst zu den Beiordnungsgründen, oder: Mehrere Beschuldigte, BVV, JGG-Verfahren

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Heute steht dann mal wieder ein „Pflichtverteidigungstag“ an. Ich denke, es wird der letzte in diesem Jahr sein. Bei der Gelegenheit danke ich allen Einsendern, die mir im Laufe des Jahres insbesondere (auch) Pflichtverteidigungsentscheidungen geschickt haben. So ist eine schöne Sammlung zustande gekommen.

Ich beginne heute die Berichterstattung hier mit drei LG-Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Im Falle mehrerer Mitbeschuldigter kann, wenn ein Mitbeschuldigter einen Verteidiger hat, die Beiordnung eines Rechtsanwalts für die anderen Mitbeschuldigten in Betracht kommen, insbesondere wenn sich die Beschuldigten gegenseitig belasten.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO liegt u.a. vor, wenn fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt oder wenn es sich um Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen handelt.

Die Mitwirkung eines Verteidigers ist geboten, wenn die Beschuldigte zur mutmaßlichen Tatzeit erst 14 Jahre und drei Monate alt war und zudem an einer sonstigen kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (ICD-10 F92.8), einer Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (ICD-10 F94.2) und einer ernsthaften sozialen Beeinträchtigung leidet und zudem nur eine unterdurchschnittliche Intelligenz hat.

Pflichti II: Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, oder: Vollstreckung, stationäre Therapie, Einziehung

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Im zweiten Posting zu Pflichtverteidigungsentscheidungen dann hier drei Entscheidungen zu den Bestellungsvoraussetzung, und zwar:

    1. Das „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“ (BVerfG, Beschluss vom 8. November 2006 – 2 BvR 578/02) erhebt die gerichtliche Verpflichtung zur Einholung eines kriminalprognostisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens in § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO zum gesetzlichen Regelfall und indiziert damit zugleich eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO.
    2. Die Verneinung des „Erwägens“ einer Strafaussetzung in § 454 Abs. 2Satz 1 StPO kommt nur dann in Betracht, wenn die Möglichkeit einer Aussetzung der Vollstreckung völlig fernliegend ist und als ernsthafte Alternative zur Fortdauer der Strafhaft von vornherein ausgeschlossen erscheint (Festhalten an Senat, Beschluss vom 13. Juli 2009 – 2 Ws 291/09, NJW 2009, 3315 m.w.N.).
    3. Ob eine solche Ausnahme im konkreten Einzelfall vorliegt, stellt eine im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO schwer zu beurteilende Sachfrage dar, die regelmäßig nicht allein nach Aktenlage, sondern erst nach der durch § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO ausdrücklich vorgeschriebenen und aufgrund der Gesetzessystematik vorbehaltlich Satz 4 der Bestimmung grundsätzlich zuvor durchzuführenden mündlichen Anhörung des Verurteilten beantwortet werden kann.
    1. Zu der Anstaltsunterbringung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gehören insbesondere die verschiedenen Formen der Haft sowie die Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB, ebenso indes auch – in analoger Anwendung – die stationäre Behandlung in einer Drogentherapieeinrichtung nach § 35 BtMG sowie ein die persönliche Freiheit erheblich einschränkender Aufenthalt in einer stationären Alkoholentzugsbehandlung.
    2. Die Regelung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO ist sowohl ihrem Wortlaut als auch ihrer systematischen Stellung nach lediglich auf Fälle der Pflichtverteidigerbestellung von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 StPO anzuwenden, nicht jedoch auf Fälle der Bestellung auf Antrag des Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 StPO.

Auch wenn es sich bei der Einziehung nach §§ 73 ff. StGB nicht um eine Nebenstrafe handelt, sondern um eine Maßnahme im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB eigener Art, ist sie als sonstige Rechtsfolge, die einem Angeklagten ggf. im Fall seiner Verurteilung droht, bei der Beurteilung der „Schwere der Rechtsfolge“ i.S. des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen.

 

 

Pflichti II: Materielle Voraussetzungen der Bestellung, oder: AufenthG, DNA und ausländerrechtliche Folgen

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Im zweiten Posting dann einige Entscheidungen zu den (materiellen) Voraussetzungen der Bestellung eines Pflichtverteidigers. Und damit es nicht zu viel wird, stelle ich auch hier nur die Leitsätze der Entscheidungen vor, und zwar:

Allein der Umstand, dass das Gericht das Vorliegen eines persönlichen Strafausschließungsgrundes nach § 95 Abs. 5 AufenthG zu prüfen hat, macht die Sach- oder Rechtslage noch nicht schwierig im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO.

KG, Beschl. v. 14.102020 – 3 Ws 226/20

Die Einholung eines Sachverständigengutachtens erfordert nicht in jedem Fall die Beiordnung eines Verteidigers. Für eine Beiordnung spricht aber, das Vorliegen eines DNA-Gutachtens, mit dem eine  kritische Auseinandersetzung erfolgen muss, die einem Laien ohne Unterstützung durch einen Verteidiger in der Regel nicht möglich sein wird.

LG Aachen, Beschl. v. 08.07.2020 – 62 Qs 41/20

  • Schwere der Tat

Zur Frage der Bestellung eines Pflichtverteidigers bei einem ausländischen Beschuldigten im Hinblick auf Verständigungsschwierigkeiten und ggf. mögliche ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung.

LG Kaiserslautern, Beschl. v. 27.11.2020 – 5 Qs 84/20