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SV II: Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, oder: Wann ist die Zuziehung eines SV zwingend?

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Im zweiten Posting geht es dann auch um erforderliche Zuziehung eines Sachverständigen, hier aber bei eine Unterbringung nach § 64 StGB.

Das LG hat die Angeklagten jeweils des Diebstahls in 17 Fällen schuldig gesprochen. Die dagegen gerichtet Revision des Angeklagten M. führt zur Aufhebung des Urteils, soweit die Strafkammer von einer Anordnung der Unterbringung dieses Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB abgesehen hat. Dazu der BGH, Beschl. v. 19.03.2025 – 3 StR 603/24 :

„Das Rechtsmittel des Angeklagten M. deckt zum ihn betreffenden Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil auf. Dagegen dringt die von ihm zulässig erhobene Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO durch und führt zur Aufhebung des Urteils, soweit das Landgericht die Anordnung einer Unterbringung dieses Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt hat. Die Strafkammer hat zu Unrecht davon abgesehen, zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB einen Sachverständigen hinzuzuziehen.

1. Die Verfahrensrüge ist statthaft. Da der Angeklagte mit seiner Revision, die auch auf die allgemeine Sachrüge gestützt ist, angesichts der Regelung des § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO grundsätzlich eine ihn in rechtlicher Hinsicht belastende – gleichwohl aber von ihm erstrebte – Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erreichen kann, sein Rechtsmittel also die Möglichkeit eröffnet, die Nichtanordnung der Unterbringung revisionsrechtlich zu überprüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Januar 2009 – 3 StR 458/08, NStZ 2009, 261; Urteil vom 10. April 1990 – 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 7 ff.), ist es ihm auch möglich, mit der Formalrüge einer Verletzung des § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO das Verfahren hinsichtlich der Entscheidung über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu beanstanden (so auch BGH, Beschlüsse vom 23. März 2022 – 6 StR 63/22, NStZ 2022, 432 Rn. 4; vom 17. Juli 2013 – 2 StR 255/13, BGHSt 59, 1 Rn. 6; vom 20. September 2011 – 4 StR 434/11, NStZ 2012, 463, 464). Dies gilt unabhängig davon, dass er durch die Nichtanordnung der Unterbringung und damit auch das Unterbleiben einer Hinzuziehung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO in rechtlicher Hinsicht nicht beschwert ist. Die Verfahrensrüge ist mithin nicht mangels „Rügebeschwer“ unstatthaft (insofern kritisch allerdings BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 – 5 StR 272/20, juris).

2. Die zulässige Verfahrensrüge ist auch begründet.

a) Das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte M. seit etwa 20 Jahren Rauschgift konsumiert und vor etwa fünf Jahren wegen einer drogeninduzierten Psychose stationär psychiatrisch behandelt wurde. Eine Arbeitsstelle als Bauarbeiter verlor er wegen Drogenmissbrauchs. Die urteilsgegenständlichen Taten beging er unter anderem, um seinen Rauschmittelkonsum zu finanzieren.

Eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat die Strafkammer ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen abgelehnt, weil seine Angaben zum Rauschmittelkonsum auch auf Nachfrage vage geblieben seien, so dass hinreichend sichere Feststellungen zum Vorliegen eines Hangs im Sinne des § 64 StGB mangels Ausführungen zu Art und Menge des Drogenkonsums sowie dessen Auswirkungen auf seine Lebensgestaltung nicht möglich gewesen seien. Wegen des Fehlens von Anknüpfungstatsachen wäre es auch einem Sachverständigen nicht möglich gewesen, zu einem Befund zu gelangen. Zudem habe nicht feststellt werden können, dass die urteilsgegenständlichen Taten überwiegend auf einen etwaigen Hang des Angeklagten zurückgingen, weil er durch die Diebstahlstaten auch seinen allgemeinen Lebensunterhalt finanzierte und er in der Hauptverhandlung keine näheren Angaben zur Verwendung der Taterlöse gemacht habe. Schließlich sei die Erfolgsaussicht einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu verneinen. Insofern habe die Strafkammer aufgrund langjähriger Tätigkeit der Berufsrichter als Mitglieder einer Strafvollstreckungskammer hinreichende eigene Sachkunde, so dass es für die Beurteilung keines Sachverständigen bedurft habe. Der Angeklagte habe sich bislang weder um eine Drogentherapie bemüht noch über eine solche informiert, weshalb eine Verhaltensänderung sehr unwahrscheinlich sei.

b) Mit diesen Erwägungen hat die Strafkammer von der Vernehmung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO zum Vorliegen der Voraussetzungen für eine Maßregelunterbringung nach § 64 StGB nicht absehen dürfen.

aa) Gemäß § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO ist das Tatgericht verpflichtet, einen Sachverständigen zu vernehmen, wenn nach den Umständen des Einzelfalls eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt tatsächlich in Betracht kommt und deshalb eine Anordnung dieser Maßregel konkret zu erwägen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Juli 2017 – 3 StR 182/17, NStZ 2018, 334; vom 17. Juli 2013 – 2 StR 355/13, BGHSt 59, 1, 3; vom 20. September 2011 – 4 StR 434/11, NStZ 2012, 463, 464; BeckOK StPO/Berg, 54. Ed., § 246a Rn. 2 f.; MüKoStPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 246a Rn. 7). Der Zuziehung eines Sachverständigen bedarf es jedoch nicht, wenn die Voraussetzungen eines Hangs im Sinne des § 64 StGB evident nicht gegeben sind oder das Fehlen einer hinreichenden Erfolgsaussicht klar auf der Hand liegt (vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2022 – 6 StR 63/22, NStZ 2022, 432 Rn. 6 m. zust. Anm. Schneider; BayObLG, Beschluss vom 20. März 2023 – 203 StRR 55/23, juris Rn. 3; KK-StPO/Krehl, 9. Aufl., § 246a Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 246a Rn. 3; MüKoStPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 246a Rn. 10). Jenseits solcher Evidenzfälle ist das Tatgericht von der Pflicht zu einer Sachverständigenvernehmung nur befreit, wenn es die Maßregel nach § 64 StGB allein in Ausübung seines Ermessens nicht anordnen will und diese Entscheidung von sachverständigen Feststellungen unabhängig ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Dezember 2021 – 1 StR 432/21, juris Rn. 11; vom 26. Juli 2017 – 3 StR 182/17, NStZ 2018, 334; vom 17. Juli 2013 – 2 StR 255/13, BGHSt 59, 1 Rn. 10; vom 20. September 2011 – 4 StR 434/11, NStZ 2012, 463, 464; KK-StPO/Krehl, 9. Aufl., § 246a Rn. 2; MüKoStPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 246a Rn. 8).

bb) Das Landgericht hat eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt im Einzelnen erörtert und damit ersichtlich konkret in Erwägung gezogen. Hierzu ist es aufgrund des langjährigen Drogenkonsums des Angeklagten mit negativen Folgen für seine Gesundheit und berufliche Leistungsfähigkeit auch gehalten gewesen. Die ablehnende Entscheidung basiert weder auf einem evidenten Fehlen der Anordnungsvoraussetzungen noch ausschließlich auf der Ausübung von Ermessen. Damit hat es der Anhörung eines Sachverständigen bedurft.

Dabei spielt keine Rolle, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung nur vage Angaben zu seinem Rauschmittelkonsum gemacht hat, die nach Auffassung der Strafkammer keine hinreichende Grundlage für die Beurteilung eines Hangs geboten haben. Denn insofern gilt: Kann über das Vorliegen der Voraussetzungen für eine im Raum stehende Maßregelanordnung nach § 64 StGB keine Klarheit gewonnen werden, weil die Erkenntnismöglichkeiten des Tatgerichts nicht ausreichen, ist die Zuziehung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO veranlasst. Dabei gehört es zu den Aufgaben des Sachverständigen, durch eine Befragung des Angeklagten im Rahmen der Exploration und die Auswertung von – gegebenenfalls noch herbeizuschaffendem – Aktenmaterial Defizite des Gerichts bei der Tatsachenfeststellung auszugleichen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2011 – 4 StR 434/11, NStZ 2012, 463, 464). Entsprechendes gilt für die Feststellung eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen der Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat(en) und dem Substanzkonsum des Angeklagten.

Ohne sachverständige Hilfe hat das Landgericht zudem die Erfolgsaussicht einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht ablehnen dürfen.

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SV III: Vergütung für ein anthropologisches Gutachten, oder: Einzelfallabhängige Vergütung des Sachverständigen

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Und als dritte Entscheidung dann noch ein Beschluss zum Sachverständigen, und zwar zu einer Vergütungsfrage. Es geht in dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.08.2024 – 1 Ws 209/23 – um die Vergütung des Sachverständigen fü ein anthropologisches Vergleichsgutachten. Darum haben der Sachverständige und die Landeskasse gestritten. Die Höhe der Vergütung kann ja auch für den – verurteilten – Angeklagten, der die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, relevant werden.

Hier zunächst der Leitsatz der OLG Entscheidung, und zwar:

Anthropologische Vergleichsgutachten sind rechtlich weder einem der in Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 JVEG genannten Sachgebiete noch einer der in Teil 2 der Anlage 1 genannten Honorargruppen M1 bis M3 zuzuordnen. Die Vergütungsfestsetzung erfolgt anhand der im konkreten Einzelfall erbrachten sachverständigen Leistungen gemäß § 9 Abs. 2 JVEG.

Und zu § 9 Abs. 2 JVEG führt das OLG aus:

„2. Die Vergütungsfestsetzung richtet sich damit – wie von dem Landgericht grundsätzlich zutreffend angenommen – nach § 9 Abs. 2 JVEG. Das dem Landgericht danach eingeräumte Ermessen kann der Senat nur eingeschränkt überprüfen. Seiner Kontrolle unterliegt lediglich, ob die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung vorlagen, ob von dem Ermessen Gebrauch gemacht wurde, ob alle wesentlichen Tatsachen berücksichtigt und die gebotenen Grenzen eingehalten wurden(vgl. BGH, Urteil vom 13. April 1994, XII ZR 168/92).Dem Beschwerdegericht ist es insbesondere verwehrt, sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Tatrichters zu setzen (vgl. Bleutge in: BeckOK KostR, 44. Ed. 1. Januar 2024, JVEG § 4 Rn. 33; Binz in: Binz/Dorndörfer/Zimmermann, GKG, FamFG, JVEG, 5. Auflage, § 4 Rn. 17).

Vorliegend lässt sich dem angefochtenen Beschluss nicht entnehmen, ob das Landgericht von dem ihm zustehenden Ermessen Gebrauch gemacht hat. Vielmehr ist das Landgericht erkennbar davon ausgegangen, dass anthropologische Gutachten schematisch einer bestimmten Vergleichsgruppe zuzuordnen und aufgrund der von ihnen umfassten Tätigkeiten stets in Anlehnung an die Honorargruppe 16 der Anlage 1 zu § 9 JVEG zu vergüten seien. So befasst sich das Landgericht in dem angefochtenen Beschluss nicht im Einzelnen mit den konkret vom Gutachter erbrachten Tätigkeiten und deren Umfang und Schwierigkeit, sondern ordnet anthropologische Gutachten allgemein einer bestehenden Honorargruppe zu. Die Kammer hat somit erkennbar verkannt, dass die Vergütung in dem konkreten Einzelfall nach billigem Ermessen zu erfolgen hat, wobei zwar die Vergleichbarkeit mit einem Sachgebiet als Kriterium heranzuziehen ist, jedoch abhängig von den Umständen des konkreten Einzelfalles zu bewerten ist, welche Vergütung angemessen ist.

Eine einheitliche Vergütung für anthropologische Sachverständigengutachten ist bereits deshalb nicht möglich, da diesen Begutachtungen keine standardisierten Untersuchungsmethoden zugrunde liegen (BGH, Urteil vom 15. Februar 2005, 1 StR 91/04, juris, Rn. 16; Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss vom 5. Juli 2006, Ss 81/05, juris, Rn. 7; Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2007, Ss (OWi) 4/07, juris, Rn. 5; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. Mai 2006, 1 Ss 106/06, juris, Rn. 15; Oberlandesgericht Bamberg, Beschluss vom 6. April 2010, 3 Ss OWi 378/10, juris, Rn. 12) und die von dem Sachverständigen zu erbringenden Leistungen von der jeweiligen Begutachtungsmaterie abhängen. Umfang und Schwierigkeit der anthropologischen Begutachtung können wesentlich voneinander abweichen und hiermit auch das für die Beantwortung der Gutachtenfrage im Einzelfall erforderliche Fachwissen. Es fehlt daher an der notwendigen Vergleichbarkeit der maßgeblichen Parameter, anhand derer diese in jedem Fall einem der in Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 JVEG bestimmten Sachgebiet oder einer der dort in Teil 2 der Anlage genannten Honorargruppen M1 bis M3 zugeordnet werden könnten. Dies zeigt sich auch bereits daran, dass im Gesetzgebungsverfahren des Zweiten Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes kein gemeinsamer Markt für anthropologische Sachverständigengutachten gefunden werden konnte, anhand dessen die Ermittlung einer durchschnittlichen Preisgestaltung möglich gewesen wäre (vgl. BT-Drucks. 17/11471, S. 260, 355).

Soweit anthropologische Vergleichsgutachten der Identifikation von Personen dienen sollen, können diese Identitätsgutachten erhebliche Unterschiede zueinander aufweisen und deshalb nicht pauschal derselben Honorargruppe zugeordnet werden. Für die Beurteilung der Identitätswahrscheinlichkeit kommt es maßgeblich auf die Feststellung und den Abgleich individueller Merkmale eines Menschen an. Die Beurteilung dieser individuellen Merkmale unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls machen es erforderlich, dass der Sachverständige Fachkenntnisse aus dem Bereich der Biologie oder Medizin aufweist und zur Geltung bringen kann. Es kann im Einzelfall auch von Bedeutung sein, wie sich individuelle phänotypische Einzelmerkmale im Rahmen einer körperlichen Bewegung oder durch Einsatz äußerer Einwirkungen, wie etwa durch Masken oder maskenähnliche Objekte oder auch durch medizinische Veränderungen im Erscheinungsbild, verändern oder wie diese bewusst verfremdet oder entstellt werden können (OLG Frankfurt, Beschluss vom 9. Februar 2024, 2 Ws 40/23, juris, Rn. 15).

Im Wesentlichen kommt es für den Umfang, die Schwierigkeit und auch das erforderliche Fachwissen darauf an, was für ein Bilddokument vorliegt und ob es sich um ein Einzelbild, eine Bilderreihenfolge oder eine Videodatei handelt sowie auch maßgeblich auf die Qualität der Bilder und welche individuellen Merkmale auf diesen überhaupt mit welcher Sicherheit zu erkennen sind. Dies zeigt sich bereits daran, dass ein anthropologisches Gutachten in Ordnungswidrigkeitenverfahren zumeist lediglich einen Abgleich eines Lichtbildes und der hierauf erkennbaren individuellen Merkmale mit denjenigen einer bestimmten Person erfordert, während beispielsweise in dem vorliegenden Verfahren eine Videoaufnahme mit verschiedenen Einzelbildern auszuwerten und die dort aus verschiedenen Perspektiven erkennbaren individuellen Merkmale der abgebildeten Person mit denjenigen des Beschuldigten zu vergleichen waren.

Letztendlich obliegt es damit dem zur Entscheidung berufenen Gericht, die für die sachverständige Begutachtung angemessene Vergütung anhand der für diese in dem konkreten Einzelfall erforderlichen Tätigkeiten, des Umfang und der Schwierigkeit der Begutachtung unter wertendem Vergleich mit den für die Zuordnung zu einem der in Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 JVEG bestimmten Sachgebiet oder auch die Eingruppierung in eine der in Teil 2 der genannten Anlage bestimmten Honorargruppe (M1 bis M3) maßgeblichen Anforderungen festzusetzen. So kann es sachgerecht sein, die Leistungen des anthropologischen Sachverständigen in einer einfachen Sache der Honorargruppe M1 und in einem umfangreichen Verfahren der Honorargruppe M3 zuzuordnen (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 9. Februar 2024, 2 Ws 40/23, juris, Rn. 16). Ebenso sind Fälle denkbar, in denen eine Zuordnung zu einem der in Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 JVEG genannten Sachgebieten, und hier voraussichtlich dem Sachgebiet 16 (grafisches Gewerbe), gerechtfertigt sein kann, weil der Sachverständige Leistungen erbracht hat, die sich nicht in reiner Bildbearbeitung erschöpfen, sondern hinsichtlich der Komplexität und des Umfangs eine Vergleichbarkeit mit den u. a. von dem Begriff des grafischen Gewerbes erfassten Leistungen der Bildverarbeitung, des Designs, verschiedener Drucktechniken sowie Reproduktionen zu begründen vermag.

Da das Landgericht diese Einzelfallabhängigkeit der angemessenen Vergütung verkannt hat und sich dem angefochtenen Beschluss nicht entnehmen lässt, dass es sich dem ihm insoweit zukommenden Ermessen bewusst war, liegt ein einen Verfahrensfehler begründender Ermessensnichtgebrauch vor, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache zwingt.“

SV II: Reststrafaussetzung zur Bewährung durch StVK , oder: Mündliche Anhörung des SV erforderlich?

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Im zweiten Posting etwas zum Sachverständigen im Verfahren betreffend die Strafaussetzung zur Bewährung, und zwar den OLG Celle, Beschl. v. 29.04.2024 – 1 Ws 126/24.

Der Verurteilte wurde am 13.06.2022 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zwei Drittel der Strafe waren am 06.042024 vollstreckt, die Endstrafe ist auf den 07.042025 notiert. Die StVK hat zur Prüfung einer Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 StGB ein Sachverständigengutachten eines Diplom-Psychologen eingeholt. Dieser hat – im Gegensatz zur Stellungnahme der JVA – eine vorzeitige Entlassung des Verurteilten im Ergebnis befürwortet. Zur mündlichen Anhörung des Verurteilten am 03.04.2024 wurde der Sachverständige zunächst geladen, nach Verzicht der Verteidigerin auf seine mündliche Anhörung aber wieder abgeladen. Im Anhörungstermin hat auch der Verurteilte selbst darauf verzichtet, den Sachverständigen mündlich zu hören.

Die StVK hat dann die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die Erfolg hatte:

„Die gemäß §§ 454 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde hat – jedenfalls vorläufig – Erfolg.

1. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer war bereits deswegen aufzuheben, weil sie an einem wesentlichen Verfahrensfehler leidet. Denn die Strafvollstreckungskammer hat zu Unrecht von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen abgesehen.

a) Gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO ist im Falle der Einholung eines Prognosegutachtens vor einer Entscheidung über die Aussetzung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung der Sachverständige mündlich anhören. Von der Anhörung darf gemäß § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO nur abgesehen werden, wenn sowohl der Verurteilte und sein Verteidiger als auch die Staatsanwaltschaft darauf verzichten.

b) Die Voraussetzungen des § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO lagen nicht vor, weil die Staatsanwaltschaft nicht auf die Sachverständigenanhörung verzichtet hat.

Die Strafvollstreckungskammer hat in ihrer Verfügung vom 6. Februar 2024, mit der die Akten der Staatsanwaltschaft zur Kenntnisnahme vom Gutachten übersandt wurden, auch nach einem Verzicht auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen gefragt. Zu dieser Frage hat sich die Staatsanwaltschaft aber weder in ihrer Rücksendeverfügung vom 13. Februar 2024, mit der sie auf ihre frühere Stellungnahme Bezug nahm, noch später geäußert.

Ein konkludenter Verzicht der Staatsanwaltschaft liegt ebenfalls nicht vor. Das bloße Schweigen auf eine Zuschrift des Gerichts genügt für die Annahme eines Verzichts nicht, denn der Verzicht auf die mündliche Anhörung muss eindeutig erklärt werden (OLG Braunschweig, Beschluss vom 5. Oktober 2023 – 1 Ws 206/23 –, Rn. 9, juris, m. w. N.). Auch dem Umstand, dass die Staatsanwaltschaft nicht am Anhörungstermin teilgenommen hat, kann jedenfalls unter den vorliegenden Umständen eine solche eindeutige Erklärung nicht entnommen werden, weil der Staatsanwaltschaft aufgrund der Ladungsverfügung vom 27. Februar 2024 keine Terminsnachricht übersandt und sie auch über die spätere Abladung des Sachverständigen nicht informiert wurde.

c) Darüber hinaus begegnet das Absehen von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen im vorliegenden Fall auch unter dem Gesichtspunkt der gerichtlichen Aufklärungspflicht durchgreifenden Bedenken.

Die Pflicht zur bestmöglichen Aufklärung des Sachverhalts kann auch in Fällen, in denen der Sachverständige nicht gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO mündlich zu hören ist, seine mündliche Anhörung erfordern (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 04.08.2015 – 1 Ws 319/15, beck-online). Denn die Anhörung dient nicht nur der Verwirklichung rechtlichen Gehörs, sondern soll vor allem die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vorbereiten und ihre materielle Richtigkeit gewährleisten (vgl. OLG Braunschweig, a. a. O.). Die mündliche Erörterung eines solchen Gutachtens in Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten gibt diesen Gelegenheit, das Sachverständigengutachten eingehend zu diskutieren, das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen und zu dem Gutachten Stellung zu nehmen (OLG Braunschweig a. a. O.).

Angesichts der grundlegenden unterschiedlichen Prognosebeurteilungen der Justizvollzugsanstalt einerseits und des Sachverständigen andererseits wäre eine solche eingehende Erörterung des Gutachtens – unter Mitwirkung der Vollzugsanstalt (§ 454 Abs. 3 Satz 3 StPO) – im vorliegenden Fall geboten gewesen, nachdem die Justizvollzugsanstalt nach Vorlage seines Gutachtens noch eine ausführliche Stellungnahme abgegeben und darin ihre bisherige Beurteilung bekräftigt und vertiefend begründet hat.“

Sichtung und Erhebung von Kipo-Datenmaterial, oder: Muss der Verurteilte die hohen SV-Kosten tragen?

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Ich hatte im Sommer den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 17.06.2024 – 12 Qs 19/24 – vorgestellt (vgl. hier: Grobsichtung von Datenträgern in Kipo-Verfahren, oder: Wer trägt die Kosten?). In der Entscheidung hatte sich das LG nach einem sog. KiPO-Verfahren in Zusammenhang mit den zu Lasten des Angeklagten angefallenen Kosten mit der abrechenbaren Sachverständigenleistung für die Grobsichtung von Datenträgern befasst.

In der Entscheidung, in der das LG eine Kostentragungspflicht des verurteilten Angeklagten verneint hatte, hatte es eine OLG-Entscheidung erwähnt und sich darauf bezogen. Außerdem hatte es beklagt, dass das OLG seine Entscheidung nicht veröffentlicht hatte. Das war für mich Anlass, mir den OLG Nürnberg, Beschl. v. 10.08.2018 – 1 Ws 605/17 – zu besorgen. Ihn stelle ich heute vor. Das OLG führt zur Abgrenzung der abrechenbaren von der nicht abrechenbaren Sachverständigenleistung aus:

„b) Zu den Kosten des Verfahrens gehören gem. § 464a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 StPO die Gebühren und Auslagen der Staatskasse, einschließlich derjenigen Kosten, die durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind. § 3 Abs. 2 GKG verweist wegen der Kosten auf die in der Anlage 1 (Kostenverzeichnis) aufgeführten Gebühren und Auslagen. Gemäß Nr. 9015 KV GKG gehören zu den Auslagen der Staatskasse auch die unter Ziffer 9000 bis 9014 bezeichneten Kosten, soweit sie durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind. Dies gilt demnach auch für die gemäß Nr. 9005 KV GKG nach dem Justizvergütungsgesetz (JVEG) zu zahlenden Beträge.

aa) Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat gem. § 110 Abs. 3 StPO die Durchsicht und Auswertung der übersandten Datenträger auf die X. übertragen. Dies ist zulässig, da die Verantwortung für die abschließende Durchsicht durch die Staatsanwaltschaft gem. § 152 GVG sichergestellt ist (vgl. Meyer-Goßner, Schmitt, 60. Auflage, § 110, Rdnr. 2a und Rdnr. 3, und Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 10.01.2017, 2 Ws 441/16, abgedruckt in Juris).

bb) Die Firma X. trat insoweit nicht nur als reine Hilfskraft für die ermittelnden Behörden auf, sondern hatte den Auftrag, unabhängig und eigenverantwortlich ein Sachverständigengutachten zu erstellen; dessen Kosten sind in vollem Umfang durch den Verurteilten zu tragen.

Ein Sachverständiger hat die Aufgabe, dem Staatsanwalt die Kenntnis von Erfahrungssätzen zu übermitteln und gegebenenfalls aufgrund solcher Erfahrungssätze Tatsachen zu ermitteln. Bei der Sichtung und Erhebung von Datenmaterial liegt eine Sachverständigenaufgabe vor, wenn der Betreffende nicht nur eine reine Sichtung beschlagnahmter Unterlagen vornimmt, sondern unter Einsatz geeigneter – nicht jedermann zur Verfügung stehender – Rechenprogramme und des Fachwissens die ermittlungsrelevanten Tatsachen fest – und zusammenstellt (OLG Koblenz, Beschluss vom 16.07.2010, 1 Ws 189/10, NStZ-RR 2010, 359).

Ein Teilbetrag der Rechnung beruht auf der Sichtbarmachung der kinderpornographischen Schriften und Dateien, bei der auch versteckte, wiederherstellbar gelöschte, archivierte und teilweise überschriebene Dateien in die Sichtung miteinbezogen wurden. Das Landgericht hat zutreffend die Auswertung der Datenträger und die technische Umsetzung beschrieben. Die beauftrage Firma hat – mit Hilfe spezieller Software – das PC-System ausgewertet und mittels Bilderfilter und spezieller Filmsoftware eine immense Menge an Bilddateien mit kinderpornographischem Inhalt und Videodateien festgestellt. Dies erfordert – entgegen der Einschätzung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in seiner Entscheidung vom 10.01.2017, Az. 2 Ws 441/16 (abgedruckt in NStZ-RR 2017, 127 f) – mehr Fachwissen als eine reine technische Unterstützung bei der Wiederherstellung von Dateien (vgl. BGH Beschluss vom 02.03.2011, 2 StR 275/10, StV 2011, 483).

Gleichzeitig war die Firma X.im Konkreten beauftragt, aus der Gesamtmenge der Dateien die Dateien, die kinder – bzw jugendpornographischen Inhalt haben, aufzufinden. Dafür musste eine Durchsicht sämtlicher, mittels des Bilderfilters festgestellter Bilder und hinsichtlich der Videos eine Ansicht jedes Videos erfolgen; für die Frage der Einordnung musste eine Voreinschätzung getroffen werden, die nur mit inhaltlichem Fachwissen realisiert werden kann. Insoweit war die Firma X. unabhängig und eigenverantwortlich tätig. Der dort tätige Gutachter hat deshalb erklärt, eine „auf seinen Erfahrungen im Bereich der Gutachtenserstellung zur Verbreitung bzw. Besitz von kinderpornographischen Schriften beruhende persönliche Einschätzung“ getroffen habe. Durch die Sichtbarmachung der Dateien hat die Firma X. dem Staatsanwalt die Möglichkeit verschafft, Tatsachen zu ermitteln und diese dann rechtlich selbst einzuordnen. Insoweit hat auch diese Dienstleistung die Qualität eines Sachverständigengutachtens, die darauf entfallenen Kosten sind ebenfalls vom Verurteilten zu tragen.

Eine Vergleichbarkeit zu dem der Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 10.01.2017 zugrunde liegenden Sachverhaltes besteht damit nicht; die im vorliegenden Fall eingesetzte Firma X. hat mehr als eine technische Sichtbarmachung von Datenmaterial und mehr als eine technisch bedingte Vorsortierung von Datenmaterial, welches dann von Polizei und Staatsanwalt gesichtet und bewertet wird, vorgenommen, sodass die entsprechenden Kosten hier eben nicht mit der Verfahrensgebühr nach dem GKG abgegolten sind.“

Befangen III: SV-Befangenheitsantrag in der Revision, oder: Begründung der Verfahrensrüge

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Und dann noch etwas Verfahrensrechtliches zur Befangenheit, nämlich der BGH, Beschl. v. 16.05.2024 – 3 StR 112/23. Da war mit der Revision geltend gemacht worden, das LG habe einen Befangenheitsantrag gegen eine Sachverständige rechtsfehlerhaft abgelehnt.

Ohne Erfolg. Die Verfahrenrüge war unzulässig:

„2. Die mit der Revisionsbegründung des Verteidigers erhobene Verfahrensrüge, das Landgericht habe einen Befangenheitsantrag gegen die psychiatrische Sachverständige (§ 74 Abs. 1 i.V.m. § 24 Abs. 2 StPO) rechtsfehlerhaft abgelehnt, ist unzulässig, weil sie den Darlegungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht genügt. Denn weder das Ablehnungsgesuch noch der dieses zurückweisende Beschluss der Jugendkammer sind vom Revisionsführer vorgelegt oder zumindest in ihrem Inhalt vollständig mitgeteilt worden. Das aber wäre erforderlich gewesen, um dem Senat eine Überprüfung der Entscheidung auf Rechtsfehler zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2018 – 1 StR 437/17, NJW 2018, 1030 Rn. 9; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 344 Rn. 39, 43, 47; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 74 Rn. 21; MüKoStPO/Trück, 2. Aufl., § 74 Rn. 25).“