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Pflichti II: Nochmals rückwirkende Bestellung, oder: Das LG Bochum zeigt, wie es richtig geht

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Und dann hier noch einmal ein Beschluss zur nachträglichen Beiordnung eines Pflichtverteidigers, und zwar der LG Bochum, Beschl.  v. 17.02.2025 – 11 Qs 4/25. Ich stelle ihn vor, weil es ein sehr schöner Beschluss ist, in dem das LG alle maßgeblichen Fragen „kurz und zackig“ anspricht.

Der Sachverhalt wie gehabt: Die Staatsanwaltschaft hat unter dem 13.08.2024 gegen den Angeklagten Anklage wegen versuchten Diebstahls beim AG erhoben. Dort wird Hauptverhandlungstermin auf den 29.11.2024 bestimmt. Mit beim AG am 28.11.2024 eingegangenen Schriftsatz vom selben Tag zeigte der Verteidiger seine Beauftragung durch den Angeklagten an. Unter dem Hinweis, dass der sich derzeit in Haft in der JVA Gelsenkirchen befinde, beantragte er seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Ferner beantragte er den Termin am 29.11.2024 aufzuheben, da er erst am 28.11.2024 von diesem Kenntnis erlangt habe.

Mit Beschluss vom 28.11.2024 stellte das AG das Verfahren gegen den Angeklagten gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig ein. Über den Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger entschied das Amtsgericht nicht. Darum wird dann gestritten. Das AG hat dann letztlich den Antrag zurückgewiesen. Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte:

„Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere gemäß § 142 Abs. 7 StPO statthaft und in der Frist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt. In der Sache hat sie Erfolg. Das Amtsgericht hat zu Unrecht den Antrag des Beschwerdeführers auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers zurückgewiesen.

1. Gemäß § 141 Abs. 1 StPO hätte dem Beschwerdeführer unverzüglich nach Antragstellung ein Pflichtverteidiger bestellt werden müssen.

a) Die Voraussetzungen des § 140 StPO für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers lagen bis zur Einstellung des Verfahrens und bereits im Zeitpunkt der rechtzeitigen Antragstellung vor.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung war ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gegeben. Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt der Antragstellung am 28.11.2024 in einer Anstalt, der JVA Gelsenkirchen, inhaftiert.

b) Der Beschwerdeführer war auch unverteidigt im Sinne des § 141 Abs. 1 StPO.

Er ist unverteidigt, wenn der Beschwerdeführer noch keinen Verteidiger hat oder der gewählte Verteidiger bereits mit dem Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung niederzulegen (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 54. Ed. 1.1.2025, StPO § 141 Rn. 2). Durch diese Regelung soll der Vorrang der Wahlverteidigung aufrechterhalten werden. Grundsätzlich ist in dem Bestellungsantrag indes bereits konkludent die Ankündigung enthalten das Wahlmandat niederzulegen (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 54. Ed. 1.1.2025, StPO § 141 Rn. 2). So liegt der Fall hier. Der Verteidiger hat ausdrücklich und erkennbar im Namen des Beschwerdeführers um seine Beiordnung als Pflichtverteidiger nachgesucht, wobei diesem Vorbringen zu entnehmen ist, dass das Wahlmandat im Falle der Beiordnung niedergelegt werden soll.

2. Der zwischenzeitliche Abschluss des Verfahrens durch Einstellung steht einer Beiordnung ausnahmsweise und aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles nicht entgegen.

Dem Grunde nach zutreffend stellt das Amtsgericht fest, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt. Denn im Falle einer Einstellung des Verfahrens, sei es auch nur nach § 154 StPO, kann das Ziel, dem Beschuldigten eine angemessene Rechtsverteidigung zu ermöglichen, nicht mehr erreicht werden.

Von diesem Grundsatz sind aber im Einzelfall Abweichungen zuzulassen und die Rechtslage anders zu beurteilen. Ein solcher Einzelfall liegt hier vor.

Ein solcher Einzelfall liegt vor, wenn der Beschuldigte einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers gestellt hat, die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung zum Zeitpunkt der Antragstellung offensichtlich vorgelegen haben, das Gebot der unverzüglichen Pflichtverteidigerbestellung missachtet wurde und dies auf behördeninteme Vorgänge zurückzuführen ist (vgl. LG Bonn (13. große Strafkammer), Beschluss vom 23.12.2024 – 63 Qs 61/24 (930 Js 309/24); LG Amberg (1. Strafkammer), Beschluss vom 27.05.2024 -11 Qs 43/24).

Der Beschwerdeführer hat einen Tag vor dem angesetzten Hauptverhandlungstermin, am 28.11.2024, den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers gestellt. Zu diesem Zeitpunkt lag auch ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO (siehe unter II. 1. a.) vor. Das nunmehr über die Inhaftierung und somit den Grund der notwendigen Pflichtverteidigung in Kenntnis gesetzte Gericht hat am selben Tag – nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft – das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt und nicht über den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung entschieden. Eine Entscheidung wäre ihm ungleich möglich gewesen. Über den Beiordnungsantrag ist folglich nicht unverzüglich gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO entschieden worden, da eine Entscheidung über diesen weder vor noch zusammen mit der Einstellungsentscheidung getroffen wurde.

Der Grundsatz der grundsätzlich nicht rückwirkenden Beiordnung darf vor diesem Hintergrund nicht insofern missbraucht werden, dass vor der Entscheidung des bereits gestellten Beiordnungsantrags auf die Einstellung des Verfahrens hingewirkt und so planmäßig die Verfahrensrechte der Beschuldigten unterlaufen werden (vgl. LG Bonn (13. große Strafkammer), Beschluss vom 23.12.2024 – 63 Qs 61/24 (930 Js 309/24).

Auch § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO steht im vorliegenden Fall der Beiordnung nicht entgegen. Die Möglichkeit, von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nur für die Fälle des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 und nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO, demzufolge einem Angeklagten unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, wenn er dies ausdrücklich beantragt (vgl. LG Wuppertal, Beschluss vom 08.04.2024, Az. 26 Qs 333/23). Eine entsprechende Anwendung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO auch auf Fälle einer ausdrücklichen Antragsstellung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO kommt nicht in Betracht, da aufgrund des eindeutigen Wortlautes keine planwidrige Regelungslücke ersichtlich ist (AG Wuppertal Beschl. v. 8.5.2024 – 722 Js 1914/24, BeckRS 2024, 11985).“

Hilfe beim Vermeiden eines Fortsetzungstermins, oder: LG Bochum „repariert“ AG Herne-Wanne

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Und als zweite Entscheidung dann der LG Bochum, Beschl. v. 20.12.2024 – 9 Qs 35/24 – viel „frischer“ geht es kaum. Bei der Entscheidung handelt es sich um die Beschwerdeentscheidung zum AG Herne-Wanne, Beschl. v. 23.04.2024 – 44 OWi-152 Js 120/24-12/24, über den ich hier ja auch berichtet habe (vgl. Hilfe beim Vermeiden eines Fortsetzungstermins, oder: Fortsetzungstermin ist nicht „die Hauptverhandlung“).

Folgender Sachverhalt: Das AG Herne-Wanne hatte in seinem Beschluss eine zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 5151 VV RVG festgesetzt, obwohl „nur“ ein Fortsetzungstermin entfallen war, was der h.M. zu der Frage widerspricht. Ich hatte in meinem Posting dazu dann ja Stellung genommen und angedeutet, dass der Bezirksrevisor das nicht hinnehmen wird. Und genau das ist eingetreten. Der Bezirksrevisor hat Beschwerde eingelegt. Und er hat beim LG Bochum Recht bekommen. Das hat den AG Herne-Wanne-Beschluss aufgehoben:

„Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

Das Amtsgericht Herne-Wanne hat rechtsfehlerhaft bei der Festsetzung der notwendigen Auslagen des Betroffenen eine Gebühr gemäß Nr. 5115 VV RVG zuzüglich Mehrwertsteuer in Ansatz gebracht. Eine Gebühr gemäß Nr. 5115 VV RVG ist im hiesigen Verfahren jedoch nicht entstanden.

Eine Gebühr gemäß Nr. 5115 VV RVG entsteht lediglich dann, wenn durch die anwaltliche Mitwirkung das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde erledigt oder die Hauptverhandlung entbehrlich wird. Dies ist im hiesigen Verfahren nicht der Fall gewesen.

Vorliegend ist es zwar durch anwaltliche Mitwirkung zu einer Einstellung des Verfahrens in der Hauptverhandlung gekommen, aufgrund derer es einer Anberaumung weiterer Hauptverhandlungstermine nicht mehr bedurft hat. Die Gebühr gemäß Nr. 5115 VV RVG entsteht jedoch nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur, der sich die Kammer nach eigener kritischer Prüfung anschließt, dann nicht, wenn die Einstellung – wie vorliegend – in der Hauptverhandlung erfolgt, selbst wenn dadurch weitere Hauptverhandlungstage entbehrlich werden (vgl. Burhoff/ Volpert, RVG, 6. Aufl. 2021, Nr. 5115 VV Rn. 21 (letzter Absatz) und Nr. 4141 VV Rn. 45 Nr. 14; HK-RVG/Krumm, 8. Aufl. 2021, RVG W 5115 Rn. 7 m. w. N.; BeckOK RVG/Knaudt, 64. Ed. 1.6.2024, RVG VV 5115 Rn. 11.1 m. w. N.; Ahlmann/ Kapischke/Pankatz/Rech/Schneider/Schütz/Kapischke, 11. Aufl. 2024, RVG VV 5115 Rn. 3 m. w. N.; LG Siegen, Beschluss vom 03.07.2020, 10 Qs 61/20, BeckRS 2020,37917; vgl. zu Nr. 4141 VV RVG: BGH, Urteil vom 14.04.2011, IX ZR 153/10, NJW 2011, 3166 m. w. N.).

Eine Ausdehnung des Anwendungsbereiches auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation ist auch entgegen der Rechtsauffassung des Verteidigers weder mit dem Wortlaut noch mit dem Sinn und Zweck des Gebührentatbestandes in Einklang zu bringen.

Nach dem Wortlaut des Gebührentatbestandes entsteht die Gebühr gemäß Nr. 5115 VV RVG lediglich dann, wenn durch die anwaltliche Mitwirkung die Hauptverhandlung entbehrlich wird. Im Hinblick auf den Grundsatz der Einheitlichkeit der Hauptverhandlung kann die Frage der Entbehrlichkeit der Hauptverhandlung dabei nur einheitlich beantwortet werden (vgl. zu Nr. 4141 VV RVG: BGH, Urteil vom 14.04.2011, IX ZR 153/10, NJW 2011, 3166 m. w. N.). Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes erfasst bereits der Wortlaut lediglich Sachverhaltskonstellationen, in denen die Hauptverhandlung in ihrer Gänze entfällt und nicht einzelne Hauptverhandlungstage einer als Einheit zu betrachtenden Hauptverhandlung durch eine Einstellung entbehrlich werden.

Gleiches gilt unter Zugrundelegung der Gesetzeshistorie und des Sinnes und Zweckes des Gebührentatbestandes. Die Gesetzesmaterialien führen zur ratio legis des Gebührentatbestandes aus, dass die Zusatzgebühr den Anreiz, Verfahren ohne Hauptverhandlung zu erledigen, erhöhen werde und somit zu weniger Hauptverhandlungen führen werde (vgl. Bundestagsdrucksache 15/1971, dort S. 227). Ziel der Regelung ist damit die Verringerung der Arbeitsbelastung der Gerichte; dieses Ziel soll durch eine adäquate Vergütung des Verteidigers bereits im Vorfeld der Hauptverhandlung erreicht werden (vgl. zu Nr. 4141 VV RVG: BGH, Urteil vom 14.04.2011, IX ZR 153/10, NJW 2011, 3166 m. w. N.). Auch dieser Normzweck spricht dafür, dass eine Einstellung, die innerhalb der Hauptverhandlung erfolgt, eine Befriedungsgebühr nicht mehr auszulösen vermag (a. a. O.).“

Die Aufhebung der – für den Verteidiger positiven – Entscheidung des AG Herne-Wanne überrascht mich nicht. Die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur sieht die Frage des Entstehens der zusätzlichen Verfahrensgebühren Nr. 4141, 5115 VV RVG unter Hinweis auf den Wortlaut und die „Einheitlichkeit der Hauptverhandlung“ anders, als das AG es gesehen hatte. Deshalb hatte ich von Anfang an Zweifel am Bestand der Entscheidung, die sich nun bestätigt haben. Die Argumentation des Verteidigers, dass auch die Mitwirkung an einer Einstellung des Verfahrens in der Hauptverhandlung, die zum Entfallen von Fortsetzungsterminen führe, der Entlastung der Justiz diene, ist zwar nicht von der Hand zu weisen. Aber der Wortlaut der Vorschriften und die auch vom LG herangezogene „Einheitlichkeit der Hauptverhandlung“ lassen sich damit nicht überwinden. Letztlich ist die vom AG Herne-Wanne – gegen die h.M. – entschiedene Frage eine Frage, die sich nicht durch Auslegung und oder ggf. eine entsprechende Anwendung der Regelungen lösen lässt, sondern durch den Gesetzgeber gelöst werden muss. Aber: Welche gebührenrechtlichen Fragen löst der schon. Der bekommt ja – Stand heute – noch noch nicht einmal eine längst überfällige lineare Erhöhung der Gebühren auf die Reihe.

StPO II: Drei Pflichtverteidigungsentscheidungen, oder: Beweisverwertungsverbot, Sachverständiger, Akten

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Und im zweiten Posting dann drei Entscheidungen „aus der Instanz“ zur Pflichtverteidigung, und zwar zu den Gründen für eine Beiordnung, und zwar:

Für die Frage der Erforderlichkeit der Mitwirkung eines Verteidigers in einem Strafverfahren genügt, dass ein Beweisverwertungsverbot nicht völlig fernliegend ist. Das kann der Fall sein, wenn eine im Rahmen des Zwischenverfahrens durchgeführten Wahllichtbildvorlage ggf. nicht den Anforderungen der Rechtsprechung entspricht.

    1. Nicht jede Hinzuziehung eines Sachverständigen begründet die Schwierigkeit einer Sachlage mit der Folge, dass ein Pflichtverteidiger beizuordnen wäre.
    2. Der Beiordnung eines Pflichtverteidigers steht nicht entgegen, wenn der bisherige Wahlverteidiger des Angeklagten im Berufungsverfahren erklärt hat, er würde eine gegenseitige Berufungsrücknahme befürworten, und die Staatsanwaltschaft daraufhin angekündigt hat, im Falle einer Berufungsrücknahme des Angeklagten die ihrerseits eingelegte Berufung ebenfalls zurückzunehmen.

Ist zur Feststellung, ob eine versehentliche Doppelverfolgung des Beschuldigten vorlag, eine Akteneinsicht ebenso erforderlich, wie das verstehende Lesen der beiden Verfahrensakten, ist die Sach- und Rechtslage schwierig.

Unmögliche Abgrenzung zwischen Alt-/Neuschäden, oder: Kein Teilschadensersatz ohne weiteren Vortrag

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Als zweite Entscheidung stelle ich heute das LG Bochum, Urt. v. 02.05.2023 – I 8 O 297/21 – vor. Die Entscheidung behandelt eine Vorschadensproblematik. Dazu das LG:

„3. Allerdings kann die Kammer auf der Grundlage der durchgeführten Beweisaufnahme im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im Sinne von § 287 ZPO feststellen, dass die von der Klägerin behaupteten Schäden in ihrer Gesamtheit bei diesem Unfall entstanden sind.

Hiergegen spricht das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. pp. vom 28.09.2022.

…..

Der Klägerin steht weiterhin auch nicht ein Anspruch der seitens des Sachverständigen berechneten Teilreparaturkosten in Höhe von 1.983,37 Euro zu.

Zwar ist es grundsätzlich in der Rechtsprechung anerkannt, dass für den Fall, dass ein zumindest abgrenzbarer Teil der seitens der Klägerin geltend gemachten Schäden auf das Unfallereignis zurückzuführen sind, diese ersetzt verlangt werden können (vgl. OLG München NZV 2006, S. 261). Allerdings ist ein solcher Teilschadensersatzanspruch der Klägerin verwehrt, wenn bewiesen ist, dass ein Teil der geltendgemachten Schäden am Unfallfahrzeug nicht auf die Kollision zurückzuführen sind und der Geschädigte zu den nicht kompatiblen Schäden keine Angaben macht, sondern vielmehr das Vorliegen irgendwelcher Vorschäden bestreitet (vgl. KG BeckRS 2007, 12643; KG BeckRS, 02982; vgl. auch Janke, in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke Straßenverkehrsrecht, 26. Aufl., § 249 Rn. 89 mwN.). Diese Unsicherheit führt zur vollständigen Klageabweisung (vgl. OLG Düsseldorf BeckRS 2017, 104786). Vorliegend ist genau diese Konstellation anzunehmen. Die Klägerin bestreitet das Vorliegen etwaiger Altschäden. Insofern gab der Geschäftsführer der Klägerin an, dass sein Fahrzeug vor dem hier streitgegenständlichen Unfallereignis keine anderweitigen Unfälle erlitten hätte. Auch im Unfallbereich hätte das Fahrzeug keine Altschäden aufgewiesen. Das Fahrzeug sei zum Unfallzeitpunkt ca. ein 3/4 Jahr alt gewesen. Er habe das Fahrzeug mit einem Kilometerstand von 800 Kilometern gekauft. Da das unfallgeschädigtes Fahrzeug von Vorschäden betroffen ist, die den geltend gemachten Schaden überlagern, hätte die Klägerin zur Begründung ihrer Ersatzbegehrens nicht nur den Umfang der Vorschäden im Einzelnen darlegen, sondern auch spezifiziert vortragen müssen, welche Reparaturmaßnahmen in der Vergangenheit zur vollständigen und ordnungsgemäßen Beseitigung der Vorbeeinträchtigungen durchgeführt worden sind und, ob eventuelle Reparaturmaßnahmen jeweils in Übereinstimmung mit den gutachterlichen Instandsetzungsvorgaben standen (vgl. OLG Düsseldorf aaO.).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Klägerin das Fahrzeug als gebrauchten Vorführwagen gekauft hat. Insofern hätte es sodann einen Vortrag dahingehend berufen, ob die Klägerin das Fahrzeug mit einem Nachweis über eine Reparatur der Vorschäden gekauft hat (KG 25.2.2010 – 22 U 163/09). An einem entsprechenden Vortrag fehlt es in Gänze.“

Verkehrsrecht III: Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: Grenze für bedeutenden Schaden neu bei 1.750 EUR

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Und zum Tagesschluss dann noch eine Entscheidung zum bedeutenden Schaden im Sinn von § 69a Abs. 2 Nr. 3 StGB, also Entziehung der Fahrerlaubnis in den Fällen des unerlaubten Entfernens vom Unfallort.

In den Fällen spielt ja die Schadenshöhe eine erhebliche Rolle und da geht es in der Rechtsprechung „fröhlich hin und her“. Das LG Bochum ist jetzt „über seinen Schatten gesprungen“ und hat die Untergrenze im LG Bochum, Beschl. v. 06.12.2022 – 1 Qs 59/22 – seit längerer Zeit mal wieder angehoben, und zwar auf 1.750 EUR:

„Gleichwohl kommt die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis– zumindest zu dem gegenwärtigen Zeitpunkt – letztlich nicht in Betracht, da sich aus dem bisherigen Akteninhalt ein entstandener bedeutender Schaden an dem Fahrzeug der Zeugin im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB nicht ergibt.

Dabei hat die Kammer nicht verkannt, dass nach ihrer bisherigen Rechtsprechung – orientiert auch am Beschluss des OLG Hamm vom 06.11.2014 – 5 RVs 98/14 – ein bedeutender Fremdschaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ab 1.300 Euro angenommen worden ist.

Infolge der zwischenzeitlichen Preisentwicklung ist die Rechtsprechung zu der Frage, wann ein bedeutender Schaden vorliegt, zunehmend unübersichtlich geworden. Die Untergrenze des Schadens wird teilweise nach wie vor bei 1.300 Euro angesetzt. Andere Gerichte setzen die Grenze bei 1.500 Euro (vgl. u. a. LG Magdeburg, Beschl. v. 19.06.2019 – 26 Qs 15/19; LG Dresden, Beschl. v. 07.05.2019 – 3 Qs 29/19), bei 2.000 Euro (vgl. u.a. LG Darmstadt, Beschl. v. 01.02.2018 – 3 Qs 27/18) oder gar bei 2.500 Euro (vgl. u.a. LG Nürnberg, Beschl. v. 15.01.2020 – 5 Qs 4/20) fest.

In diesem Licht steht auch die zuletzt geänderte Rechtsprechung des OLG Hamm. Mit Beschluss vom 05.04.2022 (5 RVs 31/22) hat das OLG Hamm – auf einen bestimmten Einzelfall bezogen – bekräftigt, dass die Wertgrenze für einen bedeutenden Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB im Hinblick auf die allgemeine Preis-steigerung nunmehr jedenfalls nicht unter 1.500 Euro liegt. Aus dieser Formulierung wird deutlich, dass der unterste Rahmen nicht zwingend bei 1.500 Euro liegt, sondern lediglich unterhalb dessen liegende Schadensbeträge jedenfalls keinen bedeutenden Schaden darstellen.

Auch die Kammer vertritt die Ansicht, dass die bis zuletzt gezogene Wertgrenze von 1.300 Euro aufgrund der allgemeinen Preisentwicklung nunmehr einer Anpassung bedarf. Eine solche Anpassung ist – wie sich bereits aus den vorstehenden Ausführungen ergibt – grundsätzlich zulässig, da es sich bei der Wertgrenze um eine veränderliche Größe handelt, die maßgeblich von der Entwicklung der Preise und Einkommen abhängig ist (vgl. BGH, Beschl. vom 28.09.2010 – 4 StR 245/10).

Bei der Frage, nach welchen Kriterien eine Anpassung der Wertgrenze vorzunehmen ist, hat sich die Kammer auch an dem jährlich vom Statistischen Bundesamt berechneten und veröffentlichten Verbraucherindex orientiert, der die durchschnittliche Preisentwicklung aller Waren und Dienstleistungen bemisst. Der Verbraucherindex weist in der aktuell geltenden Fassung mit dem Basisjahr 2015 (2015 = 100) im Oktober 2022 einen Wert von 122,2 aus. Im Jahr 2002 lag dieser Wert noch bei 82,6. Dies ergibt für den Zeitraum der letzten zwanzig Jahre eine Preissteigerung von 47,94 Prozent (122,2/82,6 x 100 – 100 = 47,94). Im Vergleich zum Indexjahr 2015 sind die Verbraucherpreise allein um 22,2 Prozent gestiegen. Seit April 2022 (Entscheidung des OLG Hamm vom 05.04.2022 – 5 RVs 31/22) hat sich der Verbraucherindex um sechs Punkte, von 116,2 auf 122,2, gesteigert.

Unter Zugrundelegung dieser Zahlen erscheint es der Kammer daher als erforderlich, die Wertgrenze für die Annahme eines bedeutenden Schadens angemessen anzuheben. Dabei hat die Kammer berücksichtigt, dass auch die Einkommen im fraglichen Zeitraum einer Veränderung unterworfen waren.

Angemessen erscheint vor diesem Hintergrund eine Anhebung von 1.300 Euro auf 1.750 Euro als Untergrenze für das Vorliegen eines bedeutenden Schadens im Sinne von § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB.

Im vorliegenden Fall wird dieser Grenzwert nicht erreicht.

Ob ein bedeutender Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB vorliegt, ist nach den objektiven wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen, um den das Vermögen des Geschädigten als unmittelbare Folge des Unfalls gemindert wird (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 06.11.2014 – 5 RVs 98/14). Abzustellen ist dabei auf den Geldbetrag, der erforderlich ist, um den Geschädigten wirtschaftlich so zu stellen, als wäre das schädigende Ereignis nicht eingetreten (vgl. MüKoStGB/v. Heintschel-Heinegg/Huber, 4. Aufl. 2020, StGB § 69 Rn. 71). Zu berücksichtigen sind namentlich Reparaturkosten, Abschlepp- und Bergungskosten sowie ein etwaiger merkantiler Minderwert (vgl. BGH, Beschluss vom 28.09.2010 – 4 StR 245/10). Der Brutto-Reparaturpreis lag im vorliegenden Fall laut Rechnung der Reparaturwerkstatt bei 1.493,01 Euro. Hinzu kommt ein merkantiler Minderwert von rund 250 Euro. Die Nutzungsausfallentschädigung und die Kostenpauschale bleiben bei der Schadensberechnung hingegen unberücksichtigt (vgl. Fischer, StGB, 69. Auflage 2022, § 69 Rn. 28). Mithin ergibt sich ein im Rahmen von § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB zu berücksichtigender Gesamtbetrag von 1.743,01 Euro, der den (aktualisierten) Grenzwert nicht erreicht.

Eine letztverbindliche Entscheidung über eine endgültige Fahrerlaubnisentziehung bleibt einer etwaigen Hauptverhandlung vorbehalten.“

Na, mit der Frage wird sich dann wahrscheinlich bald das OLG Hamm noch einmal befassen dürfen….