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Auslagen II: Nochmals Aktenversendungspauschale, oder: Haben Rechtspfleger nichts zu tun?

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Im zweiten Posting geht es um den AG Tiergarten, Beschl. v. 17.03.2025 – 288 OWi 11 56/24 – und in ihm noch einmal um die Aktenversendungspauschale Nr. 9003 KV GKG. Ja, schon 🙂 .

Das AG hat das Verfahren gegen die Betroffene nach § 206a StPO i.V.m. §46 OWiG wegen eines bestehenden Verfahrenshindernisses eingestellt und die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen der Betroffenen der Landeskasse auferlegt. Mit seinem Kostenfestset-zungsantrag hat der – nicht in Berlin ansässige – Verteidiger u.a. auch die Erstattung der Akten-übersendungspauschale in Höhe von 12,00 EUR zuzüglich 19 % Umsatzsteuer beantragt.
Der Rechtspfleger hat diese nicht festgesetzt. Zur Begründung hat er ausgeführt, die Aktenver-sendungspauschale gehöre nur dann zu den erstattungsfähigen notwendigen Auslagen der Be-troffenen, wenn die Hinzuziehung dieses Rechtsanwaltes zu einer zweckentsprechenden Ver-teidigung notwendig gewesen sein. Dies sei hier nicht der Fall gewesen, denn die Betroffene habe ihren Wohnsitz in Berlin und es sei ihr daher zuzumuten gewesen und auch naheliegen-der, einen ortsansässigen Rechtsanwalt zu beauftragen. Die durch die Beauftragung eines auswärtigen Rechtsanwaltes entstandenen Mehrkosten habe sie daher selbst zu tragen. Dazu gehöre auch die Aktenversendungspauschale, da diese einem Berliner Verteidiger nicht erstat-tet werde. Die Akteneinsicht sei jederzeit an Behördenstelle möglich und eine Versendung der Akte entsprechend nicht erforderlich. Die Aktenversendung stelle vielmehr einen Service der Behörde dar, so dass Kostenschuldner der Rechtsanwalt sei (§ 28 GKG).
Hiergegen richtet sich die Erinnerung des Verteidigers, der der Rechtspfleger nicht abgeholfen hat. Diese hatte dann aber beim Gericht Erfolg.:

„Gemessen daran ist die durch den Verteidiger geltend gemachte Aktenversendungspauschale als Auslage auch notwendig und daher erstattungsfähig.

Denn der auswärtige Verteidiger kann das Recht auf Akteneinsicht vernünftigerweise und sachdienlich nur durch Übersendung der Gerichtsakte ausüben. Bei persönlicher Abholung der Akte entstünde ein Anspruch auf Vergütung der Reisekosten, welche in aller Regel höher als die Akten-versendungspauschale ausfielen. In diesem Fall ist die Aktenübersendung die für den Mandanten kostengünstigste Maßnahme zur Durchführung der Akteneinsicht mit der Folge, dass die Kosten für die Aktenübersendung eine notwendige Auslage darstellen.

Eine Kostenerstattung kann hier auch nicht mit dem Argument ausgeschlossen werden, die Betroffene hätte einen ortsansässigen Verteidiger beauftragen können, der seinerseits in der Lage gewesen wäre, die Akte abzuholen, so dass eine Versendung nicht notwendig und daher nicht erstattungsfähig gewesen wäre. Denn auch bei einem ortsansässigen Rechtsanwalt kann sich die Aktenversendungspauschale als notwendig erweisen, wenn es ihm wegen der Entfernung zum Gericht nicht ohne weiteres zumutbar ist, dieses wegen jeder Akteneinsicht persönlich aufzusuchen oder einen Boten zu schicken (AG Tiergarten, Beschluss vom 13.12.2018, 229 Ds 1 89/15; AG Köln, Beschluss vom ü8.06.2018, 707 Ds 101/15; AG Tiergarten, Beschluss vom 10.12.2024, 350 Gs 464/24). Das Kriterium der Ortsansässigkeit hat in einer Großstadt wie Berlin und angesichts der teilweise erheblichen Entfernungen zum Gericht auch für formal ortsansässige Rechtsanwälte kaum Trennschärfe (vgl. auch AG Tiergarten, Beschl. v. 10.12.2024, a.a.O.). Die Verweisung auf die hypothetische Beauftragung eines ortsansässigen Rechtsanwaltes verfängt daher nicht.“

Das AG Tiergarten bestätigt mit der Entscheidung seine Rechtsprechung zur Erstattungsfähigkeit der Aktenversendungspauschale auch für den ortsansässigen Verteidiger (vgl. dazu schon AG Tiergarten, Beschl. v. 10.12.2024 – 350 Gs 464/24 m.w.N.). Hier hatten wir es allerdings mit dem Sonderfall zu tun, dass es sich zwar um einen nicht ortsansässigen Verteidiger gehandelt hat, der Erstattung aber entgegen gehalten werden sollte, dass die Auslage deshalb nicht notwendig gewesen wäre, weil die Betroffene einen ortsansässigen Rechtsanwalt hätte beauftragen können, dem die Auslage dann nicht zu erstatten gewesen wäre; Stichwort: Versendung ist Serviceleistung der Justiz. Dem hat das AG erneut zur Recht eine Absage erteilt.

In dem Zusammenhang fragt man sich angesichts der Vielzahl der Entscheidungen, die sich mit der Aktenversendungspauschale befassen (müssen), ob Rechtspfleger eigentlich nichts oder zu wenig zu tun haben und daher diese Fragen immer wieder zum Spruch stellen. Die häufige lange Dauer von Kostenfestsetzungsverfahren dürfte eher für das Gegenteil sprechen.

Aktenversendungspauschale/ortsansässiger Anwalt, oder: AG Tiergarten erstattet nun doch

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Und auch im zweiten Posting des Tages geht es um die Aktenversendungspauschale. Bei der beschäftigt ja die Frage, ob die Aktenversendungspauschale auch dem ortsansässigen Verteidiger zu erstatten ist, seit einiger Zeit die Rechtsprechung der AG. Ich hatte hier auch schon verschiedene Entscheidungen. Vor allem ist in Berlin ist ein heftiges Hin und Her entbrannt, in dem die Dezernenten des AG Tiergarten unterschiedlich Stellung bezogen haben. Nun hat sich das AG Tiergarten noch einmal im AG Tiergarten, Beschl. v. 10.12.2024 – (350 Gs) 264 Js 4190/22 (464/24)  zustimmend zur Erstattung geäußert:

„Die Erinnerung ist zulässig und begründet. Das Gericht ergänzt die Kostenfestsetzung auf die Erinnerung vom 03.09.2024 um die begehrten weiteren 12.00 Euro.

Dabei kann dahinstehen, ob sich die im Zuge der Akteneinsichtnahme dem Rechtsanwalt entstandenen Versendungskosten grundsätzlich ohne Weiteres als notwendige Auslagen der Prozessführung darstellen und damit bei gegebenem Erstattungsanspruch auszugleichen seien (so AG Tiergarten, Beschluss vom 21. Februar 2023 – 336 Cs 209/18 -). Jedenfalls kann sich nämlich auch bei einem ortsansässigen Rechtsanwalt die Aktenversendungspauschale als notwendig darstellen, sofern es ihm wegen der Entfernung zum Gericht nicht ohne weiteres zumutbar ist. dieses wegen jeder Akteneinsicht persönlich aufzusuchen oder einen Boten zu schicken (vgl. AG Tiergarten. Beschluss vom 13. Dezember 2018 – 229 Ds 189/15 -. BeckRS 2018. 41177; AG Köln Beschluss vom 8. Juni 2018 – 707 Ds 101/15 -. BeckRS 2018, 13761). So liegt es hier. Es ist nicht nachvollziehbar, warum etwa einem Rechtsanwalt aus Potsdam oder Oranienburg die Aktenversendungspauschale erstattet werden soll, nicht aber der in Berlin-Pankow ansässigen Antragstellerin. Es ist nicht sinnvoll. in einer Großstadt wie Berlin das Kriterium der Ortsansässigkeit heranzuziehen. ohne auf die örtlichen Verhältnisse abzustellen, zumal nicht alle im Strafrecht tätigen Rechtsanwälte direkt in der Nähe des Kriminalgerichts Moabit praktizieren (so zutreffend AG Tiergarten, aaO).

Soweit der Bezirksrevisor bei dem Kammergericht auf eine „ständige Rechtsprechung im hiesigen Geschäftsbereich“ verweist, wonach die Aktenversendungspauschale eine persönliche Kostenschuld desjenigen sei, der einen zusätzlichen Service in Anspruch nehme (vgl. etwa LG Berlin, Beschluss vom 20. Februar 2004 – 514 Qs 29/04 -, juris), dürfte diese Auffassung jedenfalls in dieser Pauschalität spätestens seit der Entscheidung des Verfassungsgerichts des Landes Berlin vom 18. Mai 2022 – 91/21 – nicht mehr haltbar sein. Dass die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs auf die Einsicht in eine elektronische Akte beschränkt sein soll, lässt sich der Entscheidung nicht entnehmen.“

Die Entscheidung ist zutreffend (ebenso u.a. LG Köln, Beschl. v. 24.01.2024 – 110 Qs 8/24; AG Köln, Beschl. v. 13.03.2024 – 651 Ds 256/23; a.A. AG Köln, Beschl. v. 10.09.2024 – 581 Cs 391/23; AG Tiergarten, Beschl. v. 12.11.2024 – 332a OWi 64/22). Die Argumentation des AG dürfte nicht nur für (Groß)Städte gelten, sondern immer dann, wenn das Gericht/die Stelle, an der Ak-teneinsicht genommen werden müsste, nur schwer/zeitaufwändig erreichbar ist.

Zur Rechtsprechung des VerfGH Berlin hatte ich bereits in der Anmerkung zum AG Tiergarten, Beschl. v. 12.11.2024 – 332a OWi 64/22 – darauf hingewiesen, dass die dort mitgeteilte Sicht des AG von der Entscheidung des VerfGH nicht zutreffend ist. Darauf wird verwiesen  (vgl. AVP-Erstattung für den ortsansässigen Verteidiger I, oder: AG Tiergarten versus VerfGH Berlin).

AVP-Erstattung für den ortsansässigen Verteidiger I, oder: AG Tiergarten versus VerfGH Berlin

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Die Berichterstattung zu Gebühren, Kosten und/oder Auslagen beginne ich in 2025 mit einem Beschluss, der auch in der Rubrik: Manche lernen es nie, laufen könnte. Es geht nämlich noch einmal um die Erstattungshigkeit der Aktenversendungspauschale Nr. 9003 KV GKG. Darüber ist ja inzwischen ein recht heftiger Streit entbrannt, wenn es um dem ortsansässigen Verteidiger geht. An dem Streit nimmt auch das AG Tiergarten teil, das wegen seiner Auffassung, ggf. nicht zu erstatten, ja schon vom VerfGH Berlin gerügt worden ist. Aber nichts desto trotz:

Ich habe dann hier den AG Tiergarten, Beschl. v. 12.11.2024 – 332a OWi 64/22, in dem das AG erneut ausführt, warum nicht zu erstatten ist:

„Die Erinnerung ist jedoch unbegründet. Die Auslage des Verteidigers für die Aktenversendungspauschale war im vorliegenden Einzelfall nicht notwendig im Sinne von § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO.

Nach § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 OWiG fallen bei Verfahrenseinstellung nur die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse zur Last. Demnach fallen der Staatskasse nicht alle Auslagen eines Betroffenen zur Last, sondern nur diejenigen, die notwendig sind. Was notwendig in diesem Sinne ist, regelt § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO, der über § 46 OWiG auch für das Bußgeldverfahren gilt.

Gemäß § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO gehören zu den notwendigen Auslagen auch die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts, aber nur, soweit sie nach § 91 Abs. 2 ZPO zu erstatten sind. § 91 Abs. 2 ZPO hat folgenden Wortlaut: „Die gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei sind in allen Prozessen zu erstatten, Reisekosten eines Rechtsanwalts, der nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist und am Ort des Prozessgerichts auch nicht wohnt, jedoch nur insoweit, als die Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war.“

Die nach § 91 Abs. 2 ZPO zu erstattenden gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts richten sich nach dem Vergütungsverzeichnis zum RVG (VV RVG).

Bei der Aktenversendungspauschale handelt es sich um eine Auslage des Verteidigers, nämlich die Auslage nach Nr 9003 VV RGV. Danach beträgt die Pauschale für die bei der Versendung von Akten auf Antrag anfallenden Auslagen an Transport- und Verpackungskosten je Sendung 12,00 €.
Nach § 28 Abs. 2 GKG schuldet die Auslagen nach Nummer 9003 des Kostenverzeichnisses nur, wer die Versendung der Akte beantragt hat.

Mit den im VV RVG geregelten gesetzlichen Gebühren werden auch die allgemeinen Geschäftskosten des Verteidigers entgolten, siehe Vorbemerkung 7 Satz 1 zum Teil 7 des mit „Auslagen“ überschriebenen Teils 7 zum W RGV. Und Satz 2 regelt: „Soweit nachfolgend nichts anderes bestimmt ist, kann der Rechtsanwalt Ersatz der entstandenen Aufwendungen (§ 675 i.V.m. § 670 BGB) verlangen.“ Die einzelnen Auslagentatbestände sind in den Nummern 7000 bis 7008 aufgelistet. Die Kosten für Aktenversendung sind nicht darunter. Aufgeführt sind aber u.a. Bestimmungen für Fahrtkosten für eine Geschäftsreise; diese betragen bei Benutzung eines eigenen Kraftfahrzeugs für jeden gefahrenen Kilometer 0,42 € (Nr. 7003 VV RVG) und bei Benutzung eines anderen Verkehrsmittels, soweit sie angemessen sind, in voller Höhe (Nr. 7004 VV RVG)

Gem. § 670 BGB sind Aufwendungen zu ersetzen, die der Rechtsanwalt den Umständen nach für erforderlich halten darf. Voraussetzung für einen Vergütungsanspruch für Auslagen ist demnach auch, dass die sie verursachende Tätigkeit notwendig war (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 464a Rn. 1 1; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, 26. Aufl. 2023, RVG W Vorbemerkung 7 Rn. 24, 25, beck-online).

Nach § 32f Abs. 2 StPO i.V.m. § 46 OWiG wird die Einsicht in Akten, die — wie im vorliegenden Verfahren – in Papierform vorliegen, durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt. Die Akteneinsicht kann, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellen des Inhalts der Akten zum Abruf, durch Übermittlung des Inhalts der Akte auf einem sicheren Übermittlungsweg oder durch Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme gewährt werden. Auf besonderen Antrag werden einem Verteidiger oder Rechtsanwalt, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben.

Demnach stellt die Akteneinsicht an Gerichtsstelle der Regelfall und die Mitnahme die Ausnahme vor. Eine Aktenübersendung ist für ortsansässige Verteidiger nicht vorgesehen.

Im Rahmen der notwendigen Kosten der Verteidigung sind die Kosten der Akteneinsicht nicht gesondert anzusetzen, sondern in der Grund- und Verfahrensgebühr nach dem RVG enthalten (AG Tiergarten, Beschl. v. 12.07.2023 — 327 Ds 10/19). Da die Kosten für die auf Antrag des Verteidigers erfolgte Aktenübersendung zu den allgemeinen Geschäftskosten des Verteidigers gehören, die durch die im VV RVG geregelten gesetzlichen Gebühren bereits abgegolten sind, kann der Verteidiger die Aktenversendungspauschale auch nicht auf seinen Mandanten abwenden; bei der Aktenversendungspauschale handelt es sich bei Anwälten mit Berliner Kanzleisitz deshalb nicht um notwendige Auslagen (LG Berlin, Beschl. v. 30.08.2022, 528 Qs 53/22). Ist die Übersendung nicht zur Ausführung des erteilten Mandats erforderlich, ist die verauslagte Aktenversendungspauschale keine Aufwendung, die der Verteidiger seiner Mandantin zusätzlich in Rechnung stellen könnte (AG Köln, Beschl. v. 10.09.2024 — 581 Cs 391/23, zu einem vergleichbaren Fall). Bei der Aktenübersendung an ortsansässige Rechtsanwälte handelt es sich vielmehr um eine vom Gesetz nicht umfasste zusätzliche Leistung des Gerichts (BVerfG, Beschluss vom 06.03.1996, 2 BvR 386/96, NStZ 1997, 42, beck-online), die dem Verteidiger die zwar kostenlose, jedoch mit zeitlichem Aufwand verbundene Akteneinsicht bei Gericht oder die Mitnahme der Akte von dort erspart und auf deren Erstattung im Kostenfestsetzungsverfahren kein Anspruch besteht (LG Berlin Beschl. v. 22.09.2011, 517 Qs 93/11, und Beschl. v. 22.3.2012, 517 Qs 5/12, BeckRS 2012, 11923, beck-online). Die in der Rechtsprechung vertretene andere Ansicht (AG Köln, Beschl. v. 13.03.2024, 651 Ds 256/23, und AG Tiergarten, Beschl. v. 30.08.2023, 336 OWi 238/23) vermag nicht zu überzeugen, da sie die Besonderheiten der im RGV geregelten gesetzlichen Gebühren und Auslagen nicht hinreichend berücksichtigt.

Aus der von der Verteidigung ins Feld geführten Entscheidung des VerfGH Berlin (Beschl. v. 18.05.2022, VerfGH 91/21, BeckRS 2022, 11824) folgt nicht, dass ein in Berlin ansässiger Rechtanwalt einen Anspruch auf Erstattung der Aktenversendungspauschale hat. Der VerfGH hat die ablehnende Entscheidung des Amtsgerichts Tiergarten vom 27.04.2021 (288 OWi 223/21) lediglich wegen unzureichender Begründung und demzufolge als Verstoß gegen das Willkürverbot aufgehoben und an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen. Hinsichtlich der Aktenversendungspauschale führt der VerfGH aus, diese könne auch als notwendige Auslage angesehen werden. Notwendig sei eine Auslage, wenn sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder zur Geltendmachung prozessualer Rechte erforderlich war. Dies könne schon dann anzunehmen sein, wenn der vernünftige und besonnene Verfahrensbeteiligte sie für geboten halten durfte. Dem Fall lag aber die vom vorliegenden Fall abweichende Konstellation zugrunde, dass es gar keine Papierakte gab, sondern es sich um eine elektronisch geführte Akte in einer Verkehrsbußgeldsache handelte. Aufgrund der nicht vergleichbaren Verfahrenskonstellation kommt der Entscheidung des VerfGH Berlin keine Bindungswirkung im Sinne von § 30 Abs. 1 VerfGHG für das vorliegende Verfahren zu.

Nur bei einem auswärtigen Verteidiger ist die Aktenübersendung notwendig in diesem Sinn, da er bei persönlicher Abholung einen Anspruch auf Vergütung der Reisekosten hätte, die in aller Regel höher als die Aktenversendungspauschale sind. In diesem Fall ist die Aktenübersendung die für den Mandanten kostengünstigste Maßnahme zur Durchführung der Akteneinsicht mit der Folge, dass die Kosten für die Aktenübersendung eine notwendige Auslage ist.“

M.E. ist die Entscheidung falsch und im Grunde ein Schlag ins Gesicht der VerfGH Berlin. Es ist zwar richtig, dass der VerfGH in seinem Beschluss v. 18.5.2022 – VerfGH 91/21 – die Entscheidung des AG Tiergarten v. 27.04.2021 – 288 OWi 223/21 – wegen mangelnder Begründung aufgehoben hat, aber: Der VerfGH formuliert doch mehr als deutlich, wenn er ausführt: “Die Aktenversendungspauschale kann auch als notwendige Ausla-ge angesehen werden. Notwendig ist eine Auslage, wenn sie zur zweckentsprechenden Rechts-verfolgung oder zur Geltendmachung prozessualer Rechte erforderlich war (vgl. Gieg, a. a. O.). Das kann schon dann anzunehmen sein, wenn der vernünftige und besonnene Verfahrensbeteilig-te sie für geboten halten durfte. Angesichts des Umstandes, dass die einzige andere Möglichkeit, Akteneinsicht zu erlangen, vorliegend eine Einsichtnahme in die elektronisch geführte Verfahrens-akte an einem Bildschirm in den Räumen des Polizeipräsidenten in Berlin war, dürfte dies auch naheliegen. Denn diese Möglichkeit der Akteneinsicht stellt sich gegenüber der von dem Verteidi-ger der Beschwerdeführerin erbetenen Übersendung eines Ausdrucks der Verfahrensakte zweifel-los als die deutlich zeit- und kostenaufwändigere Alternative dar.“. Wohlgemerkt: Nicht – wie das AG ausführt – mit „könne“, also dem Konjunktiv, sondern mit „kann“, dem Indikativ. Es ist zwar auch richtig, dass der VerfGH auf die elektronisch geführte Verfahrensakte abstellt, die, wenn nicht übersandt wird, „an einem Bildschirm in den Räumen des Polizeipräsidenten am Bildschirm einzusehen“ ist. Aber damit ist doch nicht ausgeschlossen, dass auch in den Fällen der Papierakten zu übersenden ist. Denn auch hier bleibt ja dem ortsansässigen Verteidiger letztlich nur, dass er – auf Kosten des Mandanten (sic!) – einen Ausflug durch Berlin macht bzw. machen muss, um die Akten einzusehen.

Und was nun? Nun: In Berlin werden – wie man sieht – Verteidiger weiter um die 12,00 EUR kämpfen müssen und es hoffentlich auch tun und ggf. die Frage noch einmal zum VerfGH Berlin bringen. Der wird sich sicherlich freuen, wenn er liest, wie man mit seinen Entscheidungen umgeht.

VR III: Trunkenheitsfahrt mit E-Scooter (in Berlin), oder: Keine Entziehung der Fahrerlaubnis bei 2,02 o/oo?

entnommen wikimedia.org – gemeinfrei

Und dann zum Tagesschluss noch etwas vom AG Tiergarten, und zwar eine Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scotter. Ist ja an sich nichts Besonderes, hier haben wir es aber mit einer recht großzügigen Entscheidung des AG zur Entziehung der Fahrerlaubnis zu tun.

In dem AG Tiergarten, Urt. v. 25.04.2024 – 318 Cs 31/24 – stellt das AG eine Trunkenheitsfahrt des nicht vorbelasteten Angeklagten abends um 22.27 Uhr mit einem Blutalkoholwert zur Tatzeit von 2,02 Promille. Der Angeklagte fuhr infolge der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit nicht in gerader Fahrlinie, sondern in Schlangenlinien. Das AG führt zur Strafzumessung und zur Entziehung der Fahreralubnis aus:

„Bei der Strafzumessung ist das Gericht vom gesetzlichen Rahmen des § 316 Abs. 1 und 2 StGB ausgegangen, welcher Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr vorsieht. Innerhalb des so ermittelten Strafrahmens war bei der konkreten Strafzumessung gemäß § 46 StGB zugunsten des Angeklagten zu werten, dass er sich hinsichtlich seines Fehlverhaltens einsichtig und reuig zeigte und seit dem Tattag – nachgewiesen durch Laboruntersuchungen – keinen Alkohol mehr konsumiert. Das zum Tatzeitpunkt geführte Kraftfahrzeug war ein Elektrokleinstfahrzeug, von dem für andere Verkehrsteilnehmer im Vergleich z.B. mit einem Pkw deutlich geringere Gefahren ausgehen. Zudem ist der Angeklagte bisher strafrechtlich unvorbelastet gewesen.

Zu seinen Lasten war indes der mit 2,02 Promille Alkohol im Vollblut nicht nur unerheblich über dem Grenzwert der Rechtsprechung zur absoluten Fahruntauglichkeit von 1,1 Promille Alkohol im Vollblut liegende Grad der Alkoholisierung zu werten, der deutlich über das für den Tatbestand erforderliche Mindestmaß hinausgeht. Nach Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Strafzumessungserwägungen hat das Gericht unter nochmaliger zusammenfassender Würdigung auf eine Geldstrafe von 30 (dreißig) Tagessätzen zu je 30,00 (dreißig) Euro erkannt, die ausreichend, jedoch auch zwingend notwendig erscheint, um das begangene Unrecht tat- und schuldangemessen zu bestrafen und allen Strafzwecken zu genügen.

Zwar liegt durch die Tat ein Regelfall für die Annahme der Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen vor (§ 69 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB). Gleichwohl konnte aufgrund der Gesamtumstände, der zuvor genannten Strafzumessungsgesichtspunkte und des vom Gericht von dem Angeklagten im Termin gewonnenen Eindrucks von der Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB abgesehen werden und es genügte die Anordnung eines Fahrverbotes gemäß § 44 Abs. 1 StGB. Der Angeklagte hat die Straftat im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges begangen. Das Gericht hat es unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Angeklagten, der Tatumstände sowie unter Berücksichtigung der Strafzumessungsgesichtspunkte“— insbesondere dessen, dass der Angeklagte sich während des gesamten Verfahrens sehr kooperativ zeigte und erstmalig vor Gericht stand — auch unter Berücksichtigung des Nachtatverhaltens des Angeklagten (dokumentierter Verzicht auf den Konsum von Alkohol) als erforderlich aber auch ausreichend erachtet, ein Fahrverbot gemäß § 44 Abs. 1 StGB von vier Monaten anzuordnen.“

Nun ja. M.E. Glück gehabt. Das Urteil ist rechtskräftig. Wäre die StA in die Revision gegangen, hätte das m.E. beim KG nicht „gehalten“. Allein schon wegen der der 2,02 Promille.

Parken eines E-Scooters mit Behinderung anderer, oder: Halterhaftung?

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Und als zweite Entscheidung heute dann den AG Berlin-Tiergarten, Beschl. v. 06.09.2023 – (297 OWi 812/23). In ihm hat das AG zur Aufhebung eines Kostenbescheides (§ 25a StVG) Stellung genommen. Der insoweit gestellte Antrag des Betroffenen hatte keinen Erfolg:

„Nach der maßgeblichen Aktenlage ist bei der gebotenen summarischen Prüfung (vgl. BayVGH DAR 2010, 638; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 25a StVG Rn. 15) davon auszugehen, dass mit dem Kraftfahrzeug der Betroffenen am 27.02.2023 ein Parkverstoß im Sinne von § 25a StVG begangen wurde. Die von der Betroffenen zur Nutzung nach dem Carsharing-Modell angebotenen E-Scooter unterfallen aufgrund ihrer Leistungsmerkmale gerichtsbekanntermaßen der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung (eKFV) und stellen daher Kraftfahrzeuge im Sinne von § 25a StVG dar. Ein beim Halten oder Parken begangener Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO stellt einen Halt- oder Parkverstoß im Sinne von § 25a Abs. 1 StVG dar (AG Hamburg-Altona BeckRS 2023, 564 mit zust. Anm. Sandherr NZV 2023, 333; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 25a StVG Rn. 5 m.w.N.). Das Parken eines E-Scooters quer auf der Mittelfläche des Gehwegs – wie auf dem Tatfoto ersichtlich –, wodurch es zur Behinderung von Fußgängern kommt, verstößt gegen § 1 Abs. 2 StVO. Da diese Vorschrift auch für Radfahrer gilt – denn sie richtet sich nicht nur an Führer von Kraftfahrzeugen, sondern an alle Verkehrsteilnehmer –, erstreckt sie sich gemäß §§ 9, 11 Abs. 5 eKFV auch auf die Führer von Elektrokleinstfahrzeugen und damit auch des hier verfahrensgegenständlichen E-Scooters.

Dies gilt übrigens entsprechend – wie das Gericht bereits mehrfach entschieden hat – auch für andere Verstöße gegen diejenigen Halt- oder Parkvorschriften, die nicht nur für Führer von Kraftfahrzeugen gelten, sondern für alle Fahrzeugführer. Beispielhaft seien hier genannt das Parken in einem Bereich der Fahrbahn, auf dem durch Zeichen 283 das Halten verboten ist; in einem durch Zeichen 250 gesperrten Bereich; in einem verkehrsberuhigten Bereich außerhalb gekennzeichneter Parkflächen (Zeichen 325.1); auf einer Sperrfläche (Zeichen 298) oder im Bereich eines Parkscheinautomaten ohne gültigen Parkschein. Auch diese Regelungen gelten jeweils nicht nur für Kraftfahrzeuge, sondern für alle Fahrzeuge, damit auch für Radfahrer und gemäß §§ 9, 11 Abs. 5 eKFV auch für Führer von Elektrokleinstfahrzeugen.

Die Bußgeldbehörde hat durch das Absenden eines Anhörungsschreibens am 05.05.2023 an die Betroffene als Halterin des Fahrzeugs den Anforderungen an eine rechtzeitige Anhörung noch genügt. Zwar liegen hier zwischen der Tat und der Anhörung fast 10 Wochen. Dies ist jedoch im vorliegenden Fall darauf zurückzuführen, dass aufgrund einer fehlerhaften Auskunft der Betroffenen zunächst eine andere Person als vermeintlicher Halter angehört wurde. Nach gerichtlicher Erfahrung liegt die Zeitspanne in derartigen Fällen regelmäßig im Bereich von etwa 5 Wochen. Ein solcher Zeitablauf ist nach Ansicht des Gerichts jedenfalls noch ausreichend, um dem für das Fahrzeug verantwortlichen Halter die Benennung des Fahrers zur Tatzeit zu ermöglichen. Dies gilt erst recht, wenn es sich – wie hier – bei dem Halter um ein gewerblich tätiges Carsharing-Unternehmen handelt, das im Rahmen ordnungsgemäßer Buchführung Aufzeichnungen über die Mietvorgänge und Mieter führen wird und von dem deshalb auch nach längerem Zeitablauf als bei einem privaten Halter noch konkrete Angaben zu den Daten des Mieters erwartet werden können; in derartigen Fällen ist daher auch eine Zeitspanne von 10 Wochen nicht zu beanstanden. Das Gericht teilt ausdrücklich nicht die häufig zitierte frühere Ansicht einer anderen Abteilung des hiesigen Gerichts (vgl. zuletzt AG Tiergarten DAR 2018, 398 m.w.N.) sowie einiger anderer Amtsgerichte (vgl. z.B. AG Straubing DAR 2022, 48), wonach der Zeitraum zwischen der Tat und dem Erhalt des Anhörungsschreibens höchstens zwei Wochen betragen darf. Eine derart kurze Fristbestimmung findet weder eine Stütze im Gesetz noch ist sie für die Bußgeldbehörde angesichts des massenhaften Aufkommens derartiger Verfahren praktisch umsetzbar (so auch AG München NZV 2019, 597). Sie überspannt die Anforderungen an die Bußgeldbehörde zur Ermittlung des Fahrzeugführers in derartigen Bagatellverfahren.

Die auf das Anhörungsschreiben der Bußgeldbehörde durch die Betroffene erfolgte Nennung eines Vor- und Nachnamens, einer Mobilfunknummer und einer E-Mail-Adresse des Nutzers genügt nicht, um diesen mit vertretbarem, der Sache angemessenem Aufwand zu ermitteln. Nötig gewesen wäre die Angabe des Geburtsdatums und der Wohnanschrift des Nutzers, damit dieser eindeutig identifiziert werden könnte (so auch AG Stuttgart BeckRS 2023, 15556). In Anbetracht der Geringfügigkeit des Tatvorwurfs ist regelmäßig jeder weitere Ermittlungsaufwand der Bußgeldbehörde unangemessen. Soweit in Teilen der Rechtsprechung erwartet wird, dass die Bußgeldbehörde mit diesen knappen Angaben weitere Ermittlungen (z.B. Bestandsdatenauskunft bei der Bundesnetzagentur oder dem jeweiligen Telekommunikations-Dienstanbieter, ggf. auch im Wege internationaler Rechtshilfe) anstellen müsse, wird verkannt, dass diese massenhaften Verfahren lediglich Bagatellverstöße betreffen und es dabei nicht um einen Schuldspruch im strafrechtlichen Sinne geht, sondern lediglich um die Frage, ob die Allgemeinheit oder ob der für sein Fahrzeug verantwortliche Halter die Kosten des durch das Fehlverhalten des Fahrzeugnutzers verursachten Verfahrens tragen soll. Zudem stünden einer Übermittlung von verfahrensbezogenen Daten an eine nicht verifizierbare E-Mail-Adresse auch datenschutzrechtliche Erwägungen entgegen.

Die Bußgeldbehörde hat daher hier mangels ausreichender Angaben zum verantwortlichen Mieter zu Recht das zu Grunde liegende Ordnungswidrigkeitenverfahren eingestellt und hatte gemäß § 25a Abs. 1 StVG gegen die Betroffene als Halterin des Fahrzeugs einen Kostenbescheid zu erlassen, weil der Fahrer zur Tatzeit innerhalb der gesetzlichen Verjährungsfrist mit vertretbarem Aufwand und Aussicht auf Erfolg nicht festgestellt werden konnte. Ein zur Unbilligkeit im Sinne von § 25a Abs. 1 Satz 3 StVG führender Härtefall liegt hier nicht vor (vgl. die Beispiele bei Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 25a StVG Rn. 9).

Die Ausführungen des Verteidigers in der Antragsbegründung führen zu keiner abweichenden Bewertung, die dort zitierte Rechtsprechung betrifft zum Teil andere Fallkonstellationen und wird im Übrigen vom Gericht nicht geteilt.“