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Für Befriedungsgebühr Kausalität erforderlich?, oder: Bemessung der Terminsgebühr/Kostenentscheidung

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Und im zweiten Posting dann etwas aus Berlin, und zwar den LG Berlin, Beschl. v. 09.12.2024 – 525 Qs 169/24 – zur zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV RVG und zur Bemessung der Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG.

Gegen den Angeklagten war ein Strafbefehl erlassen, gegen den der Verteidiger Einspruch eingelegt hat. Das Verfahren gegen den Angeklagten ist dann vom AG eingestellt worden. Gestritten worden ist dann um die Festsetzung der zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV RVG und die Höhe einer (Hauptverhandlungs)Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG. Das AG hat die Nr. 4141 VV RVG nicht festgesetzt und die Terminsgebühr nur in einer geringeren als vom Verteidiger geltend gemachten Höhe. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verteidigers hatte hinsichtlich der Nr. 4141 VV RVG Erfolg, hinsichtlich der Höhe der Terminsgebühr hingegen nicht:

„I. Soweit sich der Beschwerdeführer gegen die unterlassene Festsetzung der Befriedungsgebühr nach Nr. 4141 VV RVG wendet, ist die sofortige Beschwerde begründet.

Für deren Entstehen genügt bereits jede anwaltliche Tätigkeit, die auf eine Verfahrensförderung gerichtet ist, ohne dass sie auch kausal für die Verfahrensbeendigung geworden oder besonders aufwändig gewesen sein muss. Dabei trifft die Beweislast für das Fehlen der anwaltlichen Mitwirkung die Staatskasse als Gebührenschuldner (vgl. Felix in: Toussaint, Kostenrecht, 54. Aufl. 2024, RVG VV 4141 Rn. 7 m.w.N.). Hier haben das Amtsgericht bzw. die Staatsanwaltschaft auf die Einspruchsschrift des Beschwerdeführers offensichtlich Nachermittlungen für erforderlich gehalten. Kurz nach Aktenrückkehr von der Polizei wurde das Verfahren sodann eingestellt. Es liegt nahe, dass Hintergrund dafür zumindest auch das Ergebnis dieser auf die Einspruchsschrift des Beschwerdeführers zurückzuführenden Nachermittlungen gewesen ist.

II. Im Hinblick auf die Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG ist die sofortige Beschwerde hingegen aus den insoweit weiterhin zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses unbegründet.

In dieser Hinsicht war die Gebührenbestimmung durch den Beschwerdeführer unbillig i.S.d. § 14 Abs. 1 RVG, da die angemessene Gebühr um mehr als 20 % (vgl. KG, Beschluss vom 6. Dezember 2010 – 1 Ws 45/10 –, Rn. 3, juris) überschritten wurde. Denn angemessen war hier nicht die angesetzte Mittelgebühr, sondern die mit dem angefochtenen Beschluss festgesetzte. In erster Linie maßgeblich ist insofern die Dauer des Termins, wenn auch unter Berücksichtigung der Wartezeit. Die Einspruchsbegründung vermag eine höhere Festsetzung nicht zu rechtfertigen. So wird die Einlegung und Begründung eines Rechtsmittels nicht durch die Termins-, sondern durch die Verfahrensgebühr abgegolten. Unabhängig davon rechtfertigt der dortige knappe Vortrag zur Ortsabwesenheit ebenso wenig eine Gebührenerhöhung wegen des Umfangs bzw. der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit wie die – wenn auch etwas ausführlicheren – Ausführungen zur Frage des Wiedererkennens im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage. Inwiefern die dortigen Ausführungen bereits auf Tätigkeiten im Rahmen der Vorbereitung des Termins zurückgehen, ist im Übrigen auch nicht ersichtlich.“

Und dann noch eine interessante Kostenentscheidung des LG:

„Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 4 StPO. Der Beschwerdeführer hat einen Teilerfolg erzielt, der unter Billigkeitsgesichtspunkten die aus dem Tenor ersichtliche Quotelung rechtfertigt. Da eine bloß hälftige Ermäßigung der nach Vorbemerkung 3.6 KV GKG einschlägigen Gerichtsgebühr Nr. 1812 KV GKG dem Ausmaß des Teilerfolgs nicht ausreichend Rechnung tragen würde und eine Ermäßigung auf einen anderen Prozentsatz nicht vorgesehen ist, hat die Kammer bestimmt, dass eine Gebühr nicht zu erheben ist.“

Anzumerken ist:

1. Die Ausführungen des LG zur Nr. 4141 VV RVG sind zutreffend. Für das Entstehen dieser zusätzlichen Verfahrensgebühr ist es unerheblich, in welchem Verfahrensabschnitt die Mitwirkung erbracht wird. Es genügt, dass ein früherer Beitrag des Verteidigers zur Erledigung in einem späteren Verfahrensabschnitt, in dem es dann zur Erledigung des Verfahrens kommt, noch fortwirkt (Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Nr. 4141 VV Rn 18). Zutreffend ist ebenfalls die Ansicht des LG zur Beweislast und zur Frage der Ursächlichkeit (dazu u.a.  BGH AGS 2008, 491 = RVGreport 2008, 431; OLG Stuttgart AGS 2010, 202 = RVGreport 2010, 263; LG Aachen, Beschl. v. 28.02.2024 – 2 Qs 8/23, AGS 2024, 228 mit zutreffendem Hinweis auf die Entstehungsgeschichte).

2. Ob die Höhe der Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG zutreffend festgesetzt worden ist, lässt sich nicht beurteilen, da der Beschluss die Höhe der Terminsgebühr nicht mitteilt und auch zu den übrigen konkreten Umstände der Gebührenbemessung schweigt. Die allgemeinen Ausführungen sind allerdings zutreffend.
3. Und schließlich ist die vom LG getroffene Kostenentscheidung ebenfalls nicht zu beanstanden. Der Angeklagte kann auf deren Grundlage unter Anwendung der Differenztheorie nun seine im Kostenbeschwerdeverfahren entstandenen Gebühren geltend machen. Grundlage ist Vorbem. 4 Abs. 5 Nr. 1 VV RVG, der auf Teil 3 VV RVG verweist. Dort ist dann die Nr. 3500 VV RVG einschlägig. Diese berechnet sich nach dem Gegenstandswert. Der ist in Höhe der streitigen Gebühren anzusetzen (zu allem Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Vorbem. 4 VV Rn 118 ff.).

Pflichti III: Pflichtverteidigerwechsel in der Revision, oder: Rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers?

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Und im dritten Posting dann zwei Entscheidungen zum Verfahren in Zusammenhang mit dem Pflichtverteidiger. Beides ist aber nichts Besonderes. Hier sind:

„Der Antrag ist unbegründet, da die Voraussetzungen für einen Pflichtverteidigerwechsel gemäß § 143a Abs. 3 und 2 StPO nicht vorliegen.

1. § 143a Abs. 3 StPO, der eine vereinfachte Regelung für den Pflichtverteidigerwechsel im Revisionsverfahren trifft, greift nicht ein. Der Angeklagte hat nicht innerhalb der Wochenfrist des § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO den neu zu bestellenden Verteidiger bezeichnet.

2. Die Voraussetzungen für einen Wechsel des Pflichtverteidigers gemäß § 143a Abs. 2 StPO liegen ebenfalls nicht vor.

Eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zum bisherigen Pflichtverteidiger, § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Fall 1 StPO, ist nicht glaubhaft gemacht. Der Angeklagte ist durch seinen Pflichtverteidiger ordnungsgemäß verteidigt. Es besteht kein Anlass für die Annahme, das Vertrauensverhältnis zwischen dem Angeklagten und dem Pflichtverteidiger sei tatsächlich zerrüttet oder der Verteidiger sei unfähig, die Verteidigung ordnungsgemäß zu führen (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 16. August 2019 – 3 StR 149/19, Rn. 4). Pauschale, weder näher ausgeführte noch sonst belegte Vorwürfe rechtfertigen eine Entpflichtung nicht (BGH, Beschluss vom 17. April 2024 – 1 StR 92/24, Rn. 3). Auch sonst ist kein Grund ersichtlich, der einer angemessenen Verteidigung des Angeklagten entgegenstünde und einen Wechsel in der Person des Pflichtverteidigers geböte, § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Fall 2 StPO.“

Nach der vorläufigen Einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 1 StPO besteht für die Mitwirkung eines Verteidigers kein Bedürfnis mehr. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers wäre daher unzulässig. Dies gilt auch dann, wenn der Beiordnungsantrag noch rechtzeitig vor der Einstellung des Verfahrens gestellt wird.

Pflichti III: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Viermal bejaht, zweimal verneint

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Und dann noch das Posting zur rückwirkenden Bestellung – ohne geht es dann leider nicht. Das sind heute sechs Entscheidungen – vier positive, die Zulässigkeit bejahende, und zwei negative, die Zulässigkeit verneinende Entscheidungen – bei denen verwundert mich immer wieder, wie hartnäckig doch manche LG die richtige Sicht der Dinge verweigern. Im Einzelnen:

Die Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung bejaht haben:

1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist ausnahmsweise zulässig.

2. Es existiert keine starre zeitliche Grenze, ab welcher eine Unverzüglichkeit nicht mehr gegeben ist.

1. Eine rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Beschuldigte rechtzeitig eine Pflichtverteidigerbestellung ausdrücklich beantragt hatte, wenn die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen haben und wenn eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag ohne zwingenden Grund nicht unverzüglich erfolgt ist, da die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.

2. Zur Frage der unverzüglichen Vorlage der Akte.

Die rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Beschuldigte rechtzeitig eine Pflichtverteidigerbestellung ausdrücklich beantragt hatte, wenn die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen haben und wenn eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag ohne zwingenden Grund nicht unverzüglich erfolgt ist, da die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.

Zur zulässigen rückwirkenden Bestellung des Pflichtverteidigers.

Die Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung verneint haben:

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist schlechthin unzulässig und unwirksam.

Es ist daran festzuhalten, dass eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht zulässig ist.

Gegenstandswert II: Gebühren für die Einziehung, oder: Objektives wirtschaftliches Abwehrinteresse

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Und die zweite Entscheidung, der LG Berlin, Beschl. v. 05.03.2024 – 511 Qs 5 und 10/24 – äußert sich dann noch einmal zum Gegenstandswert für die Einziehungsgebühr Nr. 4142 VV RVG. Dazu das LG Berlin:

„2. Die Beschwerde gegen die Festsetzung des Gegenstandswertes ist auch (teilweise) begründet.

Der Gegenstandswert für die Einziehung richtet sich nach dem objektiven wirtschaftlichen Interesse des Angeklagten an der Abwehr der Anordnung (vgl. BGH, Beschluss vom 22.05.2019 ¬1 StR 471/18, m.w.N.). Es kommt weder darauf an, ob der Erlass der Maßnahme rechtlich zulässig ist noch ob es an einer gerichtlichen Entscheidung über die Einziehung fehlt. Ebenfalls ist nicht erforderlich, dass die Einziehung ausdrücklich beantragt worden ist. Es genügt, dass sie nach Lage der Sache in Betracht kommt (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 14. Februar 2020 – 1 Ws 40/20 -, Rn. 1, juris). Somit ist vorliegend unschädlich, dass weder in der Anklageschrift oder im Eröffnungsbeschluss noch in der Hauptverhandlung auf die Möglichkeit der Einziehung hingewiesen oder ein entsprechender Antrag gestellt worden ist. Maßgeblich ist vielmehr, dass nach dem konkreten Anklagesatz, der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen worden ist, bezüglich des Freigesprochenen (zumindest in jedenfalls sieben von acht ihm zur Last gelegten Taten) eine Einziehung tatsächlich in Betracht kam. Hiervon ist auch das Amtsgericht in dem angefochtenen Beschluss zutreffend ausgegangen.

Wie die Beschwerdebegründung zutreffend wiedergibt, ist ein Vermögensgegenstand oder sonstiger wirtschaftlicher Vorteil ist im Sinne des § 73 Abs. 1 Alternative 1 StGB „durch“ eine rechtswidrige Tat als Tatertrag erlangt, wenn er dem Täter oder Teilnehmer unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestandes in irgendeiner Phase des Tatablaufs derart zugeflossen ist, dass er seiner faktischen Verfügungsgewalt unterliegt. Auf zivilrechtliche Besitz- oder Eigentumsverhältnisse kommt es dabei nicht an. Eine solche Verfügungsgewalt ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Tatbeteiligte im Sinne eines rein tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses ungehinderten Zugriff auf den betreffenden Vermögensgegenstand nehmen kann. Bei mehreren Beteiligten genügt zumindest eine tatsächliche Mitverfügungsmacht über den Vermögensgegenstand dergestalt, dass die Möglichkeit eines ungehinderten Zugriffs auf diesen besteht. Für die Bestimmung des Erlangten im Sinne von § 73 Abs. 1 StGB kommt es allein auf eine tatsächliche Betrachtung an; wertende Gesichtspunkte sind nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nicht zu berücksichtigen. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Beteiligte eine zunächst gewonnene (Mit-)Verfügungsmacht später aufgegeben hat (ständige Rechtsprechung des BGH, vgl. nur Beschluss vom 10. Januar 2023 – 3 StR 343/22 -, Rn. 5, mwN).

Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze ist somit maßgeblich, inwieweit der Freigesprochene ungehindert Zugriff auf vermeintlich betrügerisch erlangte Geldbeträge hatte. Dass er insoweit als Mitglied einer Bande angeklagt war, begründet nach dem Zuvorgesagten und der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung gerade keine gesamtschuldnerische Haftung hinsichtlich aller durch irgendwelche Bandenmitglieder (vermeintlich) erlangten wirtschaftlichen Vorteile (vgl. BGH, Beschluss vom 6. November 2018 – 5 StR 196/18 -, juris).

Danach ist, da eine weitergehende faktische Verfügungsgewalt nicht ersichtlich ist, auf die Gutachterkosten abzustellen. Die in dem angefochtenen Beschluss in den acht angeklagten Fällen jeweils im Wege der Schätzung ermittelten 300 Euro erweisen sich hingegen als zu niedrig. Für eine Schätzung war bereits deshalb kein Raum, da in den die früheren Anklagevorwürfen betreffenden Fallakten jedenfalls Gutachten des Freigesprochenen vorlagen. Da nach der Anklagehypothese der Freigesprochene mit den vermeintlichen Unfallverursachern kollusiv zusammengewirkt haben soll, sind die gesamten Gutachterkosten wirtschaftlich wertlos und damit erlangtes „Etwas“ im Sinne des § 73 StGB.

Danach gelten folgende Beträge als erlangt:

Fall 2            589,03 Euro (vgl. BI. 84 FA 3)
Fall 3            619,50 Euro (vgl. BI. 39 FA 5)
Fall 4            863,30 Euro (vg. BI. 39 FA 6)
Fall 5            832,83 Euro (vgl. BI. 187 FA 12)
Fall 6            924,05 Euro (vgl. BI. 103 FA 33)
Fall 8            832,83 Euro (vgl. BI. 69 FA 15)
Fall 12                    1.189,29 Euro (vgl. BI. 138 FA 21)

Gesamt:       5.850,83 Euro

Bezogen auf Fall 14 war der Gegenstandswert mit 0 Euro zu bemessen, da es nach der Anklage beim Versuch verblieb und keine Regulierung erfolgte. Mithin hat der Freigesprochene auch aus der Tat nichts erlangt.“

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung?, oder: LG Berlin bejaht mit sehr schöner Begründung

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Ich komme dann hier im zweiten Posting noch einmal auf den LG Berlin, Beschl. v. 21.09.2023 – 517 Qs 33/23 – zurück, den ich ja heute Morgen schon wegen des Beiordnungsgrundes vorgestellt hatte (Pflichti I: Beiordnung bei psychischer Beeinträchtigung, oder: Drohender Bewährungswiderruf/Gesamtstrafe).

Der Beschluss hat aber auch eine verfahrensrechtliche Problematik. Dabei geht es zwar „nur“ um die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, zu der ich ja sonst nur noch die Entscheidungen en bloc erwähne. Die Begründung des LG Berlin ist es aber wert, dass man sie einmal vollständig einstellt. Sie ist nämlich sehr schön:

„2. Die Beiordnung kann auch seit Neureglung des Rechts der notwendigen Verteidigung rückwirkend nach Einstellung des Verfahrens erfolgen, und zwar jedenfalls dann, wenn der Beiordnungsantrag – wie hier – vor der Verfahrenseinstellung ordnungsgemäß gestellt und darüber allein aufgrund justizinterner Verzögerungen nicht entschieden worden ist. Denn es ist gerade der Wille des Gesetzgebers und der damit umgesetzten Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (sogenannte PKH-Richtlinie) gewesen, nicht nur eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten (vgl. insoweit bereits Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie [EU] 2013/48 u.a. über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren), sondern gerade auch mittellose Beschuldigte im Fall der notwendigen Verteidigung von den Kosten ihrer Verteidigung freizustellen (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 2, 36). Diese vom Gesetzgeber und der Richtlinie intendierte effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten liefe jedoch ins Leere, wenn ein Beschuldigter, der sich auf sein Recht auf Pflichtverteidigerbestellung beruft und einen Verteidiger konsultiert, unter Umständen damit rechnen muss, – wie hier aufgrund justizinterner Verzögerung – unverschuldet mit den Kosten seines Rechtsbeistandes belastet zu werden (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 142 Rn. 20 m.w.N.; Krawczyk, in: BeckOK StPO, 47. Edition v. 1. April 2023, § 142 Rn. 30 m.w.N.; Kämpfer/Travers, in: MüKoStPO, 2. Auflage 2023, § 142 Rn. 14; OLG Stuttgart, Beschluss vom 15. Dezember 2022 – 4 Ws 529/22 -, juris Rn. 17 ff.; OLG Nürnberg Beschluss vorn 6. November 2020 – Ws962/20, Ws963/20 BeckRS 2020, 35193 Rn. 25ff; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 – 1 Ws 260/21 -, juris Rn. 14 ff.; LG Berlin, Beschluss vorn 6. Oktober 2022 – 511 Qs 79/22 -, BA S. 4 ff.; LG Hamburg, Beschluss vom 5. April 2022 – 612 Qs 6/22 -, juris Rn. 7 ff. rn.w.N.; LG Stade, Beschluss vom 30. September 2021 – 102 Qs 41/21 -, juris Rn. 9 ff.).

Angesichts der gesetzgeberischen Intention und der nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV normierten effet utile-Grundsatz zwingend zu berücksichtigenden europäischen Vorgaben überzeugt die Gegenansicht (vgl. Willnow, in: KK-StPO, 9. Auflage 2023, § 142 Rn. 16; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 – 2 Ws 112/20 -, juris Rn. 15 f.; KG, Beschlüsse vom 6. Februar 2023 – 6 Ws 169/22 – 121 AR 275/22 -, BA S. 5 ff.; vorn 9. April 2020 – 2 Ws 30 ¬31/20 -, juris Rn. 15; vom 30. Dezember 2019 – 4 Ws 115/19 -, BA S. 3 f.; vom 20. August 2019 -4 Ws 81/19 -, BA S. 3 f.; LG Berlin, Beschluss vorn 21. Dezember 2022 – 534 Qs 97/22 -, BA S. 2 ff.; zur alten Rechtslage nur BGH, Beschluss vom 20. Juli 2009 – 1 StR 344/08 -, juris Rn. 4) nicht. Danach sei die Beiordnung zum Pflichtverteidiger nach Abschluss des Verfahrens nicht möglich, weil die Beiordnung im Strafprozess nicht im Kosteninteresse des Beschuldigten, sondern – wie nach alter Rechtslage – allein dem Zweck diene, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten. Dies stünde auch im Einklang mit der PKH-Richtlinie, die in Art. 4 Abs. 1 den „Anspruch auf Prozesskostenhilfe“ nur dann von den Mitgliedstaaten sichergestellt wissen will, „wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich“ sei (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 15). Dieses Interesse sei jedoch mit dem Abschluss des Verfahrens entfallen (vgl. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 5). Einen „Systemwechsel“ von der Prüfung des Rechtspflegeinteresses hin zu einer Bedürftigkeitsprüfung habe der hiesige Gesetzgeber nicht beabsichtigt (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 16).

Die Gegenansicht verkennt, dass „das Interesse der Rechtspflege“ im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie nicht allein auf ein objektiv-organisatorisches Erfordernis reduziert werden darf, sondern im Lichte des – im Erwägungsgrund 3 der PKH-Richtlinie ausdrücklich in Bezug genommenen – Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (dort „Interesse der Rechtspflege“) weit im Sinne von Verfahrensgerechtigkeit gegenüber dem Beschuldigten bzw. Angeklagten zu verstehen ist (vgl. OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 20 m.w.N.; zu Art. 6 EMRK: Gaede,         MüKoStPO, 1. Auflage 2018, Art. 6 EMRK Rn. 209). Folgerichtig stellt der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung auch klar, dass kein Raum für eine über das Vorliegen eines Falles der notwendigen Verteidigung hinausgehende weitere Prüfung des Rechtspflegeinteresses besteht, wenn im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und die übrigen Antragsvoraussetzungen des § 141 StPO gegeben sind. In einem solchen Fall muss die Bestellung unverzüglich, das heißt nicht sofort, aber so rechtzeitig erfolgen, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 37).

Zudem dient die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht nur dazu, einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt zu schaffen, sondern mittelbar auch den Interessen des Beschuldigten, Angeklagten oder Verurteilten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung. Denn auch wenn es die Pflicht eines Verteidigers ist, ab dem Moment der Mandatsübernahme bestmöglich im Sinne des Mandanten tätig zu werden, liegt die Befürchtung nicht fern, dass ein Verteidiger trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung und rechtzeitiger Bestellung im Wissen um die – andernfalls bestehende – Möglichkeit, letztlich keine Vergütung zu erhalten, nicht im gleichen Maße für seinen Mandanten tätig wird, wie dies bei einer Wahlverteidigung mit einem solventen Mandanten der Fall wäre (vgl. zu alldem OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021, a.a.O., Rn. 15 f.; a.A. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 6). Diesen Gedanken, dass dem Beschuldigten ab Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen schnellstmöglich anwaltlicher Rat zur bestmöglichen Wahrnehmung seiner Interessen zur Verfügung stehen muss, hat der Gesetzgeber durch die Schaffung des Unverzüglichkeitsgebots in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO deutlich gemacht (vgl. OLG Bamberg, a.a.O., Rn. 16).

Die (ausnahmsweise) Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung zum Pflichtverteidiger steht darüber hinaus auch im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Diese kommt nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nämlich grundsätzlich bei bereits abgeschlossenen Verfahren nicht in Betracht. Denn Aufgabe der Prozesskostenhilfe sei es nach Ansicht des BGH nicht, finanziell bedürftige Personen für prozessbedingte Kosten oder dafür eingegangene Verpflichtungen nachträglich zu entschädigen. Etwas anderes gelte aber ausnahmsweise dann, wenn ein vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens mit den erforderlichen Unterlagen gestellter Bewilligungsantrag nicht bzw. nicht vorab beschieden worden sei und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan habe (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 2021 – 5 StR 222/20 -, juris Rn. 4, st. Rspr). Sachliche Gründe, die die unterschiedliche Behandlung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und eines Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Zwar ist es richtig, dass die Pflichtverteidigerbestellung anders als die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht an die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse knüpft, also nicht allein den mittellosen Beschuldigten bzw. Angeklagten im Blick hat (vgl. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 6). Entscheidend ist aber, dass beide Instrumente dem Betroffenen bei Vorliegen der Antragsvoraussetzungen effektiven Zugang zu anwaltlichem Rat verschaffen sollen (vgl. OLG Bamberg, a.a.O. Rn. 18 f.).“

Ein bisschen Fortbidlung für das ein oder andere OLG oder LG 🙂 .