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Pflichti I: Vier Beiordnungsgrund-Entscheidungen, oder: Gesamtstrafe, Beweisverwertung und Waffengleichheit

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Und heute ist es dann mal wieder so weit, es ist „Pflichti-Tag“, den ich hier mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen eröffne. Dazu stelle ich vor:

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge erfordert eine Pflichtverteidigerbestellung dann, wenn eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und darüber hinaus zu erwarten ist.

Eine Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO kann auch vorliegen, wenn das Gebot der „Waffengleichheit“ im Verhältnis mehrerer Angeklagter verletzt ist. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich anhand einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände im jeweiligen Einzelfall. Dabei begründet der Umstand, dass ein Angeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, ein anderer hingegen nicht, für sich allein noch nicht eine notwendige Verteidigung. Es müssen vielmehr weitere Umstände hinzutreten, die im konkreten Fall eine Beiordnung als geboten erscheinen lassen.

Die analoge Anwendung des § 140 Abs. Nr. 9 StPO auf die Pflichtverteidigerbestellung für den Angeklagte, wenn dem Nebenkläger kein Rechtsanwalt beigeordnet wurde, kommt nicht in Betracht.

Von einer Schwierigkeit der Rechtslage ist bereits dann auszugehen, wenn fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt.

Pflichti I: Beiordnung bei psychischer Beeinträchtigung, oder: Drohender Bewährungswiderruf/Gesamtstrafe

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Und heute dann „Pflichti“, es hält sich dieses mal aber in Grenzen.

Zunächst hier drei LG-Entscheidungen zum Beiordnungsgrund, und zwar:

Der LG Berlin, Beschl. v. 21.09.2023 – 517 Qs 33/23 – nimmt noch einmal Stellung zur Erforderlichkeit der Beiordnung in den Fällen der psychischen Beeinträchtigung des Beschuldigten:

„1. Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt.

Ein solcher Fall der notwendigen Verteidigung liegt hier gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor, weil ersichtlich ist, dass sich die Beschwerdeführerin, der auch der Tatvorwurf eröffnet worden ist und die noch keinen Verteidiger hatte, aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht selbst verteidigen kann. Denn ausweislich des aufgrund der Betreuerbestellung eingeholten psychiatrischen Gutachtens leidet die krankheits- und behandlungsuneinsichtige Beschwerdeführerin mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an einer paranoiden Schizophrenie, kann weder lesen noch schreiben, ist in ihrem Gedankengang assoziativ gelockert bis zerfahren und wahnhaft. Sie sei, so die psychiatrische Sachverständige, krankheitsbedingt nicht in der Lage, im Hinblick auf eine Betreuung einen freien Willen zu bilden, sondern ganz in ihrem eigenen Erleben gefangen. Die Unfähigkeit der Beschwerdeführerin zur Selbstverteidigung wird darüber hinaus dadurch belegt, dass sie vom Amtsgericht Mitte aufgrund ihrer psychischen Erkrankung unter Betreuung gestellt worden ist, wobei zum Aufgabenkreis des Betreuers unter anderem die Vertretung gegenüber Behörden zählt.

Ein Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO kommt nicht in Betracht, da dies ausweislich des ausdrücklichen Wortlauts sich lediglich auf Beiordnungen bezieht, die von Amts wegen erwogen werden (vgl. nur Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 141 Rn. 17).“

Und die zweite Entscheidung. der LG Oldenburg, Beschl. v. 17.08.2023 – 4 Qs 252/23 -, nimmt noch einmal zur „Schwere der Rechtsfolge“ Stellung, und zwar wie folgt:

Die Schwere der drohenden Rechtsfolge i.S. des § 140 Abs. 2 StPO bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile, wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.

Und dann noch der LG Münster, Beschl. 22.08.2022 – 11 Qs 27/23:

Die Schwelle von zu erwartender Freiheitsstrafe von einem Jahr für die Bestellung eines Pflichtverteidigers gilt auch bei der (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung. Das gilt auch, wenn die verfahrensgegenständliche Verurteilung voraussichtlich geringfügig ausfallen und die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflussen wird, jedoch neben der zu erwartenden nachträglichen Gesamtstrafenbildung auch noch ein Bewährungswiderruf  droht.

 

Pflichti II: Beiordnungsgründe, oder: Dauer der Haft, mittelbare Nachteile, Höhe der (Gesamt)Strafe

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Das zweite Posting mit Pflichtverteidigungsentscheidungen ist den Beiordnungsgründen und allem, was damit zu tun hat, gewidmet. Auch hier stelle ich wegen der doch recht zahlreichen Entscheidungen nur die Leitsätze vor. Und zwar:

Bei der Prüfung der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen kommt es entscheidend auf die Bedeutung des Verfahrens für den Beschuldigten an, wobei neben der Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe auch Maßregeln der Besserung und Sicherung, Nebenfolgen oder mittelbare Nachteile in die Entscheidung einzubeziehen sind. Von Bedeutung ist daher, welche Folgen eine Verurteilung wegen des dem Beschuldigten vorgeworfenen Delikts hat (für den Ausschlussgrund im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 lit c) GmbHG).

Bei dem Wegfall der Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO ist zu prüfen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist, nämlich wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Eine zu erwartende Freiheitsstrafe von einem Jahr sollte in der Regel Anlass für eine Beiordnung eines Verteidigers geben.

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 1 StPO und zur Bewertung des Tatverdachts durch das Beschwerdegericht.

Die Notwendigkeit der Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist unabhängig von der Dauer der Haft.

§ 141 Abs. 2 Satz 3 StPO ist ausdrücklich nur auf die Fälle des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 StPO anzuwenden. Eine entsprechende Anwendung der Vorschrift auf andere Fälle scheidet aus.

Pflichti II: Beiordnungsgründe, oder: Unfähigkeit zur Selbstverteidigung, schwere Rechtsfolge, Beweislage

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Im zweiten „Pflichtverteidigerposting“ dann Beiordnungsgründe, und zwar:

Sowohl der Umstand, dass eine (ausländische) Beschuldigte Analphabetin ist, unter Betreuung steht und bei einem Unterlassungsdelikt (hier: § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, passloser Aufenthalt) wegen psychischer Erkrankung §§ 20, 21 StGB in Betracht kommen erfordern jeweils selbständig eine Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit zur Selbstverteidigung. Jedenfalls begründet aber ansonsten die erforderliche Gesamtschau der angeführten Umstände die Bestellung.

Bei Einholung eines Sachverständigengutachtens ist nicht in jedem Fall die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich. Indes kann eine schwierige Sachlage vorliegen, wenn ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel gegen einen Angeklagten ist.

Zur (verneinten) schwierigen Beweislage.

Hätte man m.E. übrigens auch gut anders entscheiden können. Ausschreitungen bei einem Fußballspiel und dann keine schwierige Beweislage?

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge lässt die Mitwirkung eines Verteidigers nicht geboten erscheinen bei nur einem vergleichsweise geringfügiges Delikt, bei dem auch im Fall der Bildung einer Gesamtstrafe lediglich eine geringfügige, für den Beschuldigten nicht wesentlich ins Gewicht fallende Erhöhung der bereits rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe zu erwarten gewesen wäre.