Schlagwort-Archive: Schwierigkeit der Sachlage

Pflichti I: Mal wieder Bestellung im KiPo-Verfahren, oder: Erforderliche Akteneinsicht in Beweismittel

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

In die neue Woche geht es dann mit zwei „Pflichti-Entscheidungen“ – beide befassen sich mit dem Beiordungsgrund.

Der LG Kiel, Beschl. v. 22.04.2025 – 13 Qs 15/25  – ist in einem „KiPo-Verfahren“ ergangen. Dieses wird gegen den Beschuldigten wegen der Verbreitung, des Erwerbs und des Besitzes von kinderpornographischen Inhalten (§ 184b StGB) geführt.

Ein dem Bundeskriminalamt vom „National Center For Missing and Exploited Children“ (NCMEC) aus den USA übermittelter „CyberTipline Report“ hatte auf der Grundlage einer Providerauskunft die Information enthalten, dass am 13.02.2023 gegen 16:09 Uhr mitteleuropäischer Zeit über die IP-Adresse pp., die nachfolgend dem Beschuldigten zugeordnet wurde, unter Nutzung des Internetdienstes „Dropbox“ Dateien mit mutmaßlich kinderpornographischem Inhalt im Internet hochgeladen wurden. Die Auswertung der Dateien ergab, dass es sich um 87 Video-Dateien handelte, die sexuelle Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen in unterschiedlichen Konstellationen zeigen, darunter auch den vaginalen, analen und oralen Geschlechtsverkehr.

In der Folge wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Durchsuchung der Wohnung und anderer Räume des Beschuldigten sowie die Durchsuchung des Beschuldigten und dessen Sachen angeordnet. Im Zuge der Durchsuchung wurden diverse Speichermedien (Smartphones, USB-Sticks, eine Speicherkarte, ein Laptop und ein Tower-PC) sichergestellt. Die Daten wurden nachfolgend gesichert.

Unter dem 23.08.2023 beantragte der Verteidiger des Beschuldigten, diesem als Pflichtverteidiger gemäß § 140 Abs. 1, 2 StPO beigeordnet zu werden. Das AG hat das abgelehnt. Die sofortige Beschwerde hatte beim LG Erfolg:

Die sofortige Beschwerde des Beschuldigten ist gemäß §§ 142 Abs. 2, 7 S. 1, 311 StPO zulässig und hat auch in der Sache Erfolg:

„Die Notwendigkeit der Verteidigung ergibt sich jedenfalls aufgrund der Schwierigkeit der Sachlage nach § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO.

Dem Beschuldigten ist ein notwendiger Verteidiger beizuordnen. Denn dem Beschuldigten ist eine wirksame Verteidigung nur unter vollständiger Akteneinsicht möglich, die dem Beschuldigten selbst verwehrt ist. Zwar hat der Beschuldigte in § 147 Abs. 4 StPO ein eigenes Akteneinsichtsrecht erhalten. Dieses findet jedoch seine Grenzen soweit – wie hier – überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Die Einsicht des Beschuldigten in Beweismittelbände zu kinderpornografischen Abbildungen betrifft den Intimbereich der abgebildeten Personen, welcher gewahrt werden muss. Entsprechend wäre die Einsicht in den Sonderband „Beweismittel“ gemäß § 147 Abs. 4 S. 1 StPO zu versagen. Ohne eine umfassende Einsicht auch in diese Abbildungen, die den Kern des strafrechtlichen Vorwurfs bilden, ist eine hinreichende Verteidigung gegen die erhobenen Vorwürfe für den Beschuldigten indes nicht möglich. So kann er bereits nicht beurteilen, ob die Abbildungen als Tatobjekt überhaupt in Betracht kommen. Insoweit hat der (notwendige) Verteidiger die Abbildungen zu sichten und den Angeschuldigten über seine Erkenntnisse zu unterrichten (Meyer-Goßner/Schmitt, 67. Auflage 2024, § 147 Rn. 32, LG Hanau, Beschluss vom 25.07.2022 – 4 Qs 4/22, LG Frankfurt (Oder) Beschluss vom 29.12.2021 – 24 Qs 60/21, mit Anmerkung: Staudinger, jurisPR-StrafR 15/2022 Anm. 2, zitiert nach juris, LG Halle (Saale) Beschluss vom 29.06.2021 – 10a Qs 59/20). Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass etwaige Lichtbilder ggf. in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen würden. Denn dem Beschuldigten muss bereits zuvor eine hinreichende Möglichkeit zur Verteidigung gegeben wer-den. Es ist auch nicht zwingend, dass eine Inaugenscheinnahme ohnehin in der Hauptverhandlung zu erfolgen hätte. Denn bezüglich der Lichtbilder ist es ebenfalls denkbar, dass sich nach weiteren Ermittlungen herausstellt, dass die Lichtbilder zumindest teilweise keine Minderjährigen darstellen oder eine Einstellung nach §§ 153a oder 154 StPO in Betracht kommt, sodass bereits keine Hauptverhandlung durchzuführen wäre oder Teile der Lichtbilder nicht Inaugenschein genommen werden müssten. In diesem Fall würde es aber bei einer eigenen Einsichtnahme des Beschuldigten in den Sonderband „Beweismittel“ bereits zu einer Verletzung des Intimbereichs der dort gezeigten Personen kommen.“

Passt 🙂

Pflichti II: Notwendige Einsicht in andere Akten, oder: Selbstverteidigung bei Artikulationsstörung?

© fotomek – Fotolia.com

Im zweiten Posting habe ich hier dann zwei Entscheidungen zun den Beiordnungsgründen, und zwar.

„Hier ist jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sachlage gemäß § 140 Abs. 2 Var. 3 StPO die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich.

Als schwierig ist die Sachlage eines Verfahrens nämlich unter anderem dann zu bewerten, wenn die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis nicht umfassend vorbereitet werden kann. Hier ist die Akteneinsicht, insbesondere in die Akte des bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main geführten Ermittlungsverfahrens gegen den gesondert Verfolgten pp., bei verständiger Betrachtung für eine sachdienliche Vorbereitung und Durchführung der Verteidigung unerlässlich. Anhand der gegenständlichen Ermittlungsakte lässt sich der Tatvorwurf der Haupttat gegen den gesondert Verfolgten pp. – und somit auch der Tatvorwurf der Anstiftung zu ebenjener Haupttat gegen die Beschwerdeführerin – nicht hinreichend prüfen. Hierzu bedarf es der Akteneinsicht in die Ermittlungsakte bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main. Da die Beschwerdeführerin nicht Beteiligte des weiteren Ermittlungsverfahrens ist, erhält sie als Privatperson keine Einsicht in die Ermittlungsakten. Hierzu bedarf es gemäß § 475 Abs. 1 StPO der Beiziehung eines Rechtsanwalts.“

Für das Vorliegen der Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen „Unfähigkeit der Selbstverteidigung“ muss nicht gänzliche Verteidigungsunfähigkeit gegeben sein. § 140 Abs. 2 StPO ist bereits dann anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen. Das ist bei einer attestierten Dysarthrie (Artikulationsstörung) des Angeklagten der Fall, da dann erhebliche Zweifel bestehen, dass dieser in der Lage ist, seine Interessen selbst zu wahren und alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vorzunehmen.

Pflichti I: Vier Beiordnungsgrund-Entscheidungen, oder: Gesamtstrafe, Beweisverwertung und Waffengleichheit

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und heute ist es dann mal wieder so weit, es ist „Pflichti-Tag“, den ich hier mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen eröffne. Dazu stelle ich vor:

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge erfordert eine Pflichtverteidigerbestellung dann, wenn eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und darüber hinaus zu erwarten ist.

Eine Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO kann auch vorliegen, wenn das Gebot der „Waffengleichheit“ im Verhältnis mehrerer Angeklagter verletzt ist. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich anhand einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände im jeweiligen Einzelfall. Dabei begründet der Umstand, dass ein Angeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, ein anderer hingegen nicht, für sich allein noch nicht eine notwendige Verteidigung. Es müssen vielmehr weitere Umstände hinzutreten, die im konkreten Fall eine Beiordnung als geboten erscheinen lassen.

Die analoge Anwendung des § 140 Abs. Nr. 9 StPO auf die Pflichtverteidigerbestellung für den Angeklagte, wenn dem Nebenkläger kein Rechtsanwalt beigeordnet wurde, kommt nicht in Betracht.

Von einer Schwierigkeit der Rechtslage ist bereits dann auszugehen, wenn fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt.

Pflichti II: 3 x interessante Beiordnungsgründe (?), oder: KiPo, Maskenpflicht, verfassungswidriger BtM-Besitz

© Coloures-pic – Fotolia.com

Im zweiten Posting dann drei Entscheidungen zu den Beiorndungsgründem, also § 140 StPO, allerdings nur die jweiligen Leitsätze, und zwar:

In Verfahren mit dem Verfahrensgegenstand „Verbreitung von Kinderpornografie“ ergibt sich die Schwierigkeit der Sachlage i.S. des § 140 Abs. 2 StPO aus dem Umstand, dass der Beschuldigte sein sich aus § 147 Abs. 4 StPO ergebendes Akteneinsichtsrecht nicht ohne Verteidiger in vollem Umfang wahrnehmen kann.

Anmerkung: Die Entscheidung ist noch zum „alten Recht“ ergangen.

Der einem Betroffene zur Last gelegte Verstoß gegen die Maskenpflicht (CoronaVO) führt nicht zur Erforderlichkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen Schwierigkeit der Rechtslage.

Anmerkung: Das kann man m.E. mit guten Gründen auch anders sehen.

Zur bejahten Bestellung eines Pflichtverteidigers in einem BtM-Verfahren, in dem den Angeklagten zwar nur Besitz unter dem Grenzwert der nicht geringen Menge vorgeworfen wird, der Verteidiger jedoch. die Verfassungswidrigkeit des § 29 BtMG gerügt hat.

Anmerkung: Zur Nachahmung empfohlen 🙂 .

Pflichti II: Betreuer, Gesamtstrafe, Strafvollstreckung, oder: 3 x zu Beiordnungsgründen

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Im zweiten Posting dann drei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Die Existenz eines Betreuers mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ macht regelmäßig die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich, und zwar auch dann, wenn es sich bei dem Betreuer um einen Rechtsanwalt handelt.

      1. Einschlägige Rückfalltaten Drogen- oder Alkoholabhängiger müssen einer günstigen Sozialprognose nicht zwingend entgegen stehen, wenn neue tatsächliche Umstände vorliegen, die geeignet sind, die Möglichkeit der Wiedereingliederung im Einzelfall günstig zu beeinflussen.
      2. Zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren.

 

Die (subjektive) Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn zu besorgen ist, dass der Beschuldigte ohne anwaltliche Hilfe seine Rechte alleine nicht ausreichend wahrnehmen kann. Davon ist auszugehen, wenn gegen den Beschuldigten in drei verschiedenen Bundesländern Verfahren anhängig sind, die gesamtstrafenfähig und aus Sicht des Beschuldigten daher koordiniert zu betreiben sind.