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Pflichti I: 5 x etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: Höhe der Strafe, Berufung der StA, Betreuer, KiPo

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Und heute ist dann mal ein „Pflichti-Tag“ mit einigen Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen. Da hat sich in der letzten Zeit einiges angesammelt.

Ich starte hier mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar – wie gehabt – nur mit den Leitsätzen, da es sonst zu viel wird:

Die Erforderlichkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist in der Regel erst bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu bejahen.

Im Berufungsverfahren ist dem Angeklagten in der Regel ein Verteidiger beizuordnen, wenn die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil Berufung eingelegt hat und eine Verurteilung aufgrund abweichender Beweiswürdigung oder sonst unterschiedlicher Beurteilung der Sach- oder Rechtslage erstrebt.

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung, wenn dem Beschuldigten ein Betreuer bestellt ist.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge im Sinne des § 68 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Ausreichend ist, wenn einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, drohen.

1. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers in einem sog. KiPo-Verfahren.
2. Die Sachlage ist unter anderem dann im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO schwierig, wenn die Staatsanwaltschaft in Ermittlungsverfahren wegen Verdachts von Straftaten nach § 184b StGB ggf. externe Sachverständige mit der Auswertung und Begutachtung sichergestellter Datenträger beauftragt. Die zu erwartende Auseinandersetzung mit technischen Untersuchungsberichten begründet eine überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sachlage, für die auch nur dem Verteidiger zu gewährende Aktenkenntnis erforderlich ist.

Erstreckungsentscheidung, Beschwerde, Klarstellung, oder: Weniger wäre mehr gewesen, liebes LG

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Und heute dann Gebührenfreitag mit einer LG- und einer OLG-Entscheidung.

Ich beginne mit dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 25.06.2024 – 13 Qs 17/24 – noch einmal zu Fragen der Erstreckung (§ 48 RVG). Nachdem ja die mit der sog. Erstreckung der Beiordnung des Pflichtverteidigers auf andere Verfahren zusammenhängenden Fragen die Rechtsprechung und Literatur nach Inkrafttreten des RVG zunächst häufig beschäftigt haben, sind seit dem KostRÄnG 2021 dazu nur noch wenige Entscheidungen zu finden. Nun hat sich das LG Nürnberg-Fürth aber noch einmal mit der Problematik befasst. Folgender Sachverhalt:

Die Staatsanwaltschaft führte gegen den Beschuldigten zunächst ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte unter dem Aktenzeichen Az. 1 sowie ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung unter dem Aktenzeichen Az. 2. Mit Beschluss vom 10.03.2024 bestellte das AG anlässlich der Haftbefehlseröffnung den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger des Beschuldigten für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren mit dem (später vergebenen) Aktenzeichen Az. 1. Mit Schriftsätzen vom 11.03.2024 zeigte sich der Rechtsanwalt auch für weitere Ermittlungsverfahren der Polizeiinspektionen Fürth, Nürnberg-Mitte und Erlangen-Stadt als Verteidiger an und stellte im Namen des Beschuldigten den Antrag bei der jeweiligen Polizeiinspektion, als dessen Pflichtverteidiger bestellt zu werden. Die polizeilichen Aktenzeichen wurden nach Eingang der Verfahren bei der Staatsanwaltschaft den staatsanwaltschaftlichen Verfahren Az. 1 und Az. 2 zugeordnet.

Mit Verfügung vom 15.04.2024 hat die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren Az. 2 zum Verfahren Az. 1 verbunden. Mit Beschluss vom 18.04.2024 hat das AG festgestellt, dass sich die Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger des Beschuldigten für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren Az. 1 auch auf das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren Az. 2 erstreckt. Die Staatsanwaltschaft hat dem Rechtsanwalt mit Verfügung vom 2.5.2024 mitgeteilt, dass das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren Az. 2 zum Verfahren Az. 1 verbunden wurde. Mit Verfügung vom 10.05.2024 hat die Staatsanwaltschaft dann dem Rechtsanwalt mitgeteilt, dass er in den Verfahren, welche unter dem staatsanwaltlichen Az. 2 erfasst wurden, bereits wegen des Erstreckungsbeschlusses des AG v. 18.04.2024 zum Pflichtverteidiger bestellt worden sei.

Mit Schriftsatz vom 15.05.2024 erklärte der Rechtsanwalt, dass er seinen Beiordnungsantrag zum staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren Az. 2 vom 11.3.02024 trotz zwischenzeitlicher Verbindung zum Verfahren Az. 1 aufrechterhalte und teilte mit, dass nach seinem Kenntnisstand über seinen Antrag vom 11.03.2024 noch nicht entschieden worden sei. Er äußerte in diesem Schriftsatz die Ansicht, dass eine rückwirkende Bestellung als Pflichtverteidiger jedenfalls dann zulässig sei, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt worden sei und die Entscheidung über die Beiordnung aufgrund behördeninterner Vorgänge unterblieben sei. Die Staatsanwaltschaft hat dann beim AG beantragt, die Beiordnungsanträge abzulehnen, da der Rechtsanwalt bereits in allen Verfahren als Pflichtverteidiger bestellt sei. Der Rechtsanwalt hat dem AG auf Nachfrage mitgeteilt, dass er seine Beiordnungsanträge nicht zurücknehme.

Das AG hat sodann mit Beschluss vom 24.05.2024 den Antrag des Rechtsanwalts, ihn „erneut zum Pflichtverteidiger des Beschuldigten zu bestellen“, abgelehnt. Dagegen hat der Rechtsanwalt „sofortige Beschwerde“ eingelegt. Das LG hat das Rechtsmittel als unzulässig angesehen.

Ich beschränke mich hier auf die Leitsätze der Entscheidung, und zwar:

    1. Eine Beschwerde des Pflichtverteidigers gegen die Ablehnung der rückwirkenden Beiordnung für das hinzuverbundene Verfahren ist mangels Beschwer unzulässig, wenn die Verfahrensverbindung nach Beiordnung im führenden Verfahren erfolgt ist und das Gericht nach Verfahrensverbindung beschlossen hat, dass sich die Verteidigerbestellung auch auf das hinzuverbundene Verfahren erstreckt.
    2. Nach der zum 1.1.2021 erfolgten Ergänzung von § 48 Abs. 6 S. 3 RVG ist klargestellt, dass die Anordnung einer Erstreckungswirkung bei einer anwaltlichen Beiordnung nach der Verbindung nicht erforderlich ist, weil § 48 Abs. 6 S. 1 StPO unmittelbar gilt.

Die müssen/sollten genügen. Denn: Weniger wäre hier mehr gewesen, bzw. Ich kann nachvollziehen, wenn man als Leser der Entscheidungsgründe im verlinkten Volltext unter Berücksichtigung des obigen Sachverhalts verwirrt ist und das Ganze dann noch einmal liest, in der Hoffnung, es zu verstehen. Denn es ist mir auch so gegangen und ich hatte auch nach dem zweiten Lesen immer noch Verständnisprobleme. Und zwar vor allem im Hinblick auf die Frage: Was soll das eigentlich alles und sind die wortreichen Ausführungen überhaupt erforderlich? M.E. sind sie es nämlich nicht und sie führen gerade, da sie auch noch zu sehr ineinander verschachtelt sind, zur Verwirrung. Ich verkenne nicht, dass das LG es sicherlich sehr gut machen wollte. Nur wäre weniger hier mehr gewesen. Wobei darauf hinzuweisen ist, dass das Ergebnis des LG zutrifft.

Einfacher und – hoffentlich auch – klarer wird es, wenn man sich noch einmal die entscheidenden Verfahrensvorgänge für die zur Entscheidung anstehende Problematik in Zusammenhang mit der Erstreckung (§ 48 RVG) verdeutlich. Das sind folgende Punkte:

  • 10.3.2024 – Bestellung des Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger im Verfahren Az. 1,
  • 15.4.2024 (Hinzu)Verbindung von Verfahren Az. 2 zu Verfahren Az. 1,
  • 18.4.2024 – Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung aus Verfahren Az. 1 auch auf Verfahren Az. 2.

Damit ist im Grunde alles geklärt. Denn nach dem Ablauf ist eine Erstreckungsentscheidung nach § 48 Abs. 6 S. 2 RVG erforderlich. Denn es werden die Verfahren Az. 1 und Az. 2 verbunden und der Rechtsanwalt ist nur in Verfahren Az. 1 als Pflichtverteidiger bestellt. Daher muss also, wenn auch im Verfahren Az. 2 die gebührenrechtlichen Folgerungen der Pflichtverteidigerbestellung, insbesondere die des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG eintreten sollen, die Erstreckung erfolgen. Von dem ihm insoweit eingeräumten Ermessen – „kann“ – hat das AG Gebrauch gemacht und am 18.4.2024 festgestellt, „dass sich die Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger des Beschuldigten für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren Az. 1 auch auf das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren Az. 2 erstreckt“. Das hat die Staatsanwaltschaft dem Rechtsanwalt dann am 10.05.2024 mitgeteilt. Spätestens dann hätte aus Sicht des Rechtsanwalts Ruhe sein müssen. Denn er hatte alles erreicht, was er erstrebt hatte. Er war Pflichtverteidiger und es war erstreckt. Die gesetzlichen Gebühren waren also sicher.

Mir erschließt sich nicht, warum der Verteidiger dann aber noch auf „rückwirkende Beiordnung“ bestanden hat? Denn mit rückwirkender Beiordnung i.e.S., um die in Rechtsprechung und Literatur derzeit heftig gestritten wird, hat das Ganze nichts zu tun, da es in den Fällen immer zunächst um die Frage geht, ob der Rechtsanwalt nach Erledigung eines Verfahrens noch Pflichtverteidiger wird. Das Problem stand hier aber gar nicht an, da weder die Verfahren erledigt waren noch der Rechtsanwalt nicht Pflichtverteidiger war. Denn das war er durch die Verbindung auch im Verfahren Az. 2 geworden. Und auch die vergütungsrechtlichen Fragen waren durch die Erstreckungsentscheidung vom 18.04.2024 erledigt. Man versteht daher nicht, was der Rechtsanwalt eigentlich will. Man hat den Eindruck, dass er sich den Unterschied zu den Fällen nicht verdeutlich hat und lieber auf „Nummer Sicher“ geht. Und das LG macht das Spiel mit und führt dazu aus. Aber warum bescheidet man den Rechtsanwalt in Zusammenhang mit der Beschwer nicht kurz und knapp, dass er alles erreicht hat, was er erreichen wollte/muss. Alles andere ist überflüssig, führt zu Verwirrung und lässt den Eindruck entstehen, dass auch das LG nicht so richtig weiß, worauf es ankommt. Zumal in dem Satz: „…. nunmehr klar, dass bei der Verbindung von Verfahren nach der Beiordnung in einem der Verfahren die Erstreckung von einer gerichtlichen Feststellung abhänge ….“ das m.E. entscheidende „nur“ fehlt.

Aber ich will nicht nur meckern. Denn: Zutreffend sind die Ausführungen des LG zum zulässigen Rechtsmittel. Das ist eben nicht die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 StPO, sondern die einfache Beschwerde. Daran hat sich durch die Änderung des Rechts der Pflichtverteidigung im Jahr 2019 nichts geändert. Denn die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 StPO bezieht sich nur auf die materiellen Pflichtverteidigungsfragen. Damit haben wir es hier aber gar nicht zu tun, da es um eine RVG-Problematik der gebührenrechtlichen Erstreckung geht.

Und zutreffend ist auch das vom LG Ausgeführte zu Klarstellungen in § 48 Abs. 6 S. 1 und 3 RVG durch das KostRÄndG 2021, auch wenn es – siehe oben – überflüssig war. Das KostRÄndG hat den Streit, ob die Erstreckung beantragt werden und ausgesprochen werden muss, wenn erst die Verbindung erfolgt und danach die anwaltliche Beiordnung, erledigt (vgl. Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, § 48 Rn 24; Volpert AGS 2021, 445, 450).

StPO III: Immer wieder Zustellungsproblematik, oder: Vollmacht, ZU-Bevollmächtigter, Ersatzzustellung

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Und dann zum Tagesschluss ein paar Entscheidungen, die sich bei mir zu Zustellungsfragen angesammelt haben. Die haben ja in der Praxis eine nicht unerhebliche Bedeutung. Hier sind dann – jeweils nur die Leitsätze – leider sind die Entscheidungen zum Teil schon etwas älter:

Die Heilung eines Zustellungsmangels durch den tatsächlichen Zugang des zuzustellenden Schriftstücks gemäß § 189 ZPO i.V.m. § 37 Abs. 1 StPO setzt voraus, dass eine Zustellung vom Gericht beabsichtigt war, diese muss folglich angeordnet worden sein.

Gemäß der Entscheidung des EuGH vom 22.04.2017, Az.C-124/16, C-188/16 und C-213/16, C-124/16, C-188/16, C-213/16, sind die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund des Art. 6 der Richtlinie 2012/13 richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass in einem Fall, in dem ein Beschuldigter keinen festen Wohnsitz hat und daher einen Zustellungsbevollmächtigten benennt, und an diesen dann ein Strafbefehl zugestellt wird, in dem Moment, in dem der Beschuldigte vom Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt, durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand über die volle Einspruchsfrist verfügen können muss.

1. Die nach § 43 StPO zu berechnende, zweiwöchige Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl beginnt ausweislich des § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO mit dessen Zustellung. Für die Ausführung der Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde gelten nach § 37 Abs. 1 StPO Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechend.

2. Bei der Verpflichtung des Zustellers bei Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gemäß § 180 Satz 3 ZPO, das Datum der Zustellung auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks zu vermerken, handelt es sich um eine zwingende Zustellungsvorschrift im Sinne des § 189 ZPO mit der Folge, dass das Schriftstück bei einer Verletzung dieser Vorschrift erst mit dem tatsächlichen Zugang als zugestellt gilt.

Die Zustellung an den Wahlverteidiger ist unwirksam, wenn dessen Bevollmächtigung nicht gemäß § 145a Abs. 1 StPO nachgewiesen ist. Die anwaltliche Versicherung ordnungsgemäßer Bevollmächtigung ist hierfür nicht ausreichend.

Und zu der Zustellungsproblematik – und noch zu viel mehr – kann man dann schon und bald wieder << Werbemodus an>> Aktuelles lesen in den Neuauflagen von

  • Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 7. Aufl., und in
  • der 3. Auflage von Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe.
  • und in den beiden Handbücher für das Ermittlungsverfahren – jetzt dann 10. Aufl. – und für die Hauptverhandlung – jetzt dann 11. Aufl.,

die man hier (vor)bestellen kann. <<Werbemodus aus>>

Grobsichtung von Datenträgern in Kipo-Verfahren, oder: Wer trägt die Kosten?

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Und dann gibt es heute noch den Gebührenfreitag, und zwar mit zwei kostenrechtlichen Entscheidungen.

Hier kommt dann zunächst der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 17.06.2024 – 12 Qs 19/24 – zu den Auslagen der Staatskasse für Grobsichtung von Datenträgern, hier in einem Kipo-Verfahren, und zur Frage der „Übernahme“ dieser Kosten durch den Verurteilten Angeklagten. Insbesondere in sog. KiPo-Verfahren kommt ja nach einer Verurteilung des Angeklagten häufig weiteres „Ungemach“ auf den Verurteilten zu, und zwar dann wenn er die Gerichtskostenrechnung erhält. Denn diese enthält häufig erhebliche von Staatskasse verauslagte Auslagen für die Sichtung von Datenträgern. So auch in den jetzt vom LG Nürnberg-Fürth entschiedenen Fall.

Hier waren mit Kostenrechnung vom 24.08.2023 wurde unter Bezugnahme auf Nr. 9005 KV GKG eine Sachverständigenvergütung in Höhe von 17.794,31 EUR zu seinen Lasten festgesetzt worden. Dem lag die Rechnung einer GmbH vom 13.01.2023 über einen Gesamtbetrag von 17.802,64 EUR zugrunde. In dieser waren in einer Position in Ansatz gebracht für die Grobsichtung verschiedener Asservate 4.030 Arbeitsminuten und außerdem in einer Position 7.080 Arbeitsminuten, was 118 Stunden entspricht, zu einem Stundenpreis von 125,00 EUR.

Das AG hat dann die Erinnerung des Verurteilten als unbegründet verworfen. Die dagegen gerichtet Beschwerde des Verurteilten hatte beim LG nach Übertragung durch den Einzelrichter (§ 66 Abs. 6 Satz 2 GKG) auf die Kammer Erfolg:

„Zu den Kosten des Verfahrens gehören die Gebühren und Auslagen der Staatskasse, einschließlich derjenigen Kosten, die im Ermittlungsverfahren durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind (§ 464a Abs. 1 Satz 1, 2 StPO). § 3 Abs. 2 GKG verweist wegen der Kosten auf die in der Anlage 1 aufgeführten Gebühren und Auslagen. Gemäß Nr. 9015 KV GKG gehören zu den Auslagen der Staatskasse auch die unter Ziffer 9000 bis 9014 bezeichneten Kosten, soweit sie durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind. Dies gilt also auch für die gemäß Nr. 9005 KV GKG nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz zu zahlenden Beträge. Dazu gehören die festgesetzten Sachverständigenkosten i.H.v. 9.993,03 € brutto jedoch nicht.

1. Zu den Kosten des Ermittlungsverfahrens kann auch der Aufwand für die Durchsicht der Papiere oder Daten gehören. Gemäß § 110 Abs. 1, 3 StPO steht die Durchsicht der elektronischen Speichermedien der Staatsanwaltschaft und – auf deren Anordnung – ihren Ermittlungspersonen im Sinne des § 152 GVG zu. Soweit sichergestellt ist, dass die Verantwortung für die Durchsicht der Papiere bei der Staatsanwaltschaft verbleibt, kann diese auch Hilfspersonen wie Dolmetscher, Sachverständige oder sonstige dienstleistende Dritte einsetzen (OLG Nürnberg, Beschluss vom 10.04.2018 – 1 Ws 605/17, S. 3; OLG Schleswig, Beschluss vom 10.01.2017 – 2 Ws 441/16, juris Rn. 9; Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 110 Rn. 3). Das war der Fall. Der Sachbearbeiter bei der Kriminalpolizei hat nach Rücksprache mit dem ermittelnden Oberstaatsanwalt die … GmbH mit der Auswertung beauftragt.

2. Allerdings stellen die abgerechneten Leistungen unter Pos. 4 der Rechnung der … GmbH in Höhe von 8.397,50 € netto (4.030 min / 60 min = 67,17 h * 125 € netto) bzw. 9.993,03 € brutto keine Tätigkeiten eines Sachverständigen dar, sodass in dieser Höhe auch kein Kostenansatz nach Nr. 9005 KV GKG erfolgen konnte.

a) Aufgabe eines Sachverständigen ist es, aufgrund von Erfahrungssätzen oder besonderen Fachkenntnissen Schlussfolgerungen aus einem feststehenden Sachverhalt zu ziehen und dem Gericht allgemeine Erfahrungssätze oder besondere Kenntnisse auf seinem jeweiligen Wissensgebiet zu vermitteln (OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.05.2020 – 2 Ws 89-91/19, juris Rn. 8; OLG Schleswig, Beschluss vom 10.01.2017 – 2 W 441/16, juris Rn. 11; LG Hamburg, Beschluss vom 07.08.2019 – 631 Qs 27/19, juris Rn. 10). Damit wird ein externer IT-Forensiker dann als Sachverständiger tätig, wenn er unter Einsatz geeigneter und nicht für jedermann zur Verfügung stehender Programme und entsprechenden Fachwissens den Zugang zu verschlüsselten oder sonst für die Ermittlungsbehörden nicht zugänglichen Daten ermöglicht und diese Daten aufbereitet und so die ermittlungsrelevanten Tatsachen fest- und zusammenstellt (OLG Nürnberg, Beschluss vom 10.04.2018 – 1 Ws 605/17, S. 5; Wackernagel/Graßie, NStZ 2021, 12, 16; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., vor § 72 Rn. 7a). In Abgrenzung dazu ist genuine Ermittlungsarbeit und keine Sachverständigentätigkeit anzunehmen, wenn der externe IT-Forensiker als Hilfskraft der Ermittlungsbehörden lediglich eine reine Sichtung sichergestellter Datenträger vornimmt oder soweit er für die Ermittlungsbehörden technische Dienstleistungen zur Erleichterung der Durchsicht eines Datenbestandes erbringt, die etwa in der Durchsicht nach bestimmten Kriterien oder in der Aufbereitung und Strukturierung der Daten bestehen kann (OLG Nürnberg, aaO; OLG Schleswig, aaO, Rn. 12 ff.; Schmitt, aaO). Knüpft der Sachverständige auftragsgemäß an eine derartige Sichtung oder Strukturierung jedoch als sachverständig zu wertende Schlussfolgerungen oder Erläuterungen, wäre seine Arbeit allerdings insgesamt als die eines Sachverständigen zu qualifizieren (vgl. OLG Nürnberg, aaO, S. 4 f.).

b) Daran gemessen lag, soweit dies von der Beschwerde angegriffen wird, Sachverständigentätigkeit nicht vor. Ausweislich der Ausführungen unter „D.99 Grobsichtung“ im Gutachten vom 13.01.2023 beschränkte sich die Tätigkeit der beauftragten GmbH darauf, die Asservate 1.1.9, 1.1.10, 1.1.11, 1.1.13, 1.1.16, 1.1.22, 1.1.25, 1.1.29, 1.1.30, 1.1.31, 1.1.36, 1.2.1, 1.2.2, 1.2.3, 1.2.4, 1.2.5, 1.3.5, 1.3.6, 1.3.7, 1.3.9, 1.3.10, 1.3.11, 1.3.12, 1.3.13, 1.3.14, 1.3.15, 1.3.16, 1.3.18 nach deren Art zu beschreiben, den Datenträgerinhalt mittels der Software … einzulesen und ggf. zu prüfen, ob Dateien gelöscht wurden. Soweit nach Ansicht des Auswerters inkriminiertes Material aufgefunden wurde, wurde dies knapp festgehalten und eine weitergehende Prüfung nicht durchgeführt.

Die Beantwortung spezifischer Fragestellungen, für die ein spezielles Fachwissen im Bereich der Informationstechnologie erforderlich wäre, erfolgte damit gerade nicht. Soweit für die Auswertung die Software … angewandt wurde, handelt es sich um eine für Jedermann käufliche Software, für deren Anwendung ebenfalls – jedenfalls für die unter D.99 genannten Maßnahmen – kein besonderes Fachwissen erforderlich ist.“

Dazu kurz Folgendes:

Die Entscheidung ist zutreffend und entspricht dem Ansatz der zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung.as „richtige“ Rechtsmittel richtet sich in diesen Fällen nach § 66 GKG, also Erinnerung und ggf. Beschwerde. Das Beschwerdegericht kann nach §§ 66 Abs. 4 S. 1 GKG die weitere Beschwerde zulassen. Davon hat das LG hier abgesehen, da die maßgeblichen Rechtsfragen durch die – angeführten – Entscheidungen des OLG Nürnberg (Beschl. v. 10.4.2018 – 1 Ws 605/17) und des OLG Schleswig (a.a.O.) hinreichend geklärt seien. was m.E. zutrifft. In dem Zusammenhang „bedauert“ das LG, dass der OLG Nürnberg-Beschluss bislang unveröffentlicht ist. Ich kann das Bedauern nachvollziehen. Denn als „nachgeordnetes“ Gericht wüsste man ja schon gern, wie das „übergeordnete“ OLG die ggf. anstehenden Rechtsfragen entschieden hat. Mir erschließt sich deshalb und auch im Hinblick, dass auch die „juristische Öffentlichkeit“ sehr wissen möchte, welche Rechtsauffassungen von den jeweiligen OLG vertreten werden, die leider oft sehr restriktive „Veröffentlichungspraxis“ nicht. Das gilt vor allem dann, wenn dann ein OLG noch in einer Entscheidung auf seine „ständige Rechtsprechung“ Bezug nimmt. Woher soll man die kennen, wenn nicht veröffentlicht wird?

StPO III: Sicherungsbedürfnis beim Vermögensarrest, oder: Unaufgeklärte Beteiligung mehrere Personen

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Und als dritte Entscheidung dann hie rnoch etwas zum Vermögensarrest, und zwar der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 30.04.2024 – 12 Qs 11/24.

Der Ermittlungsrichter des AG hat gegen den Beschuldigten einen Beschluss, mit dem er den Vermögensarrest zur Sicherung eines Anspruchs auf Wertersatz über 34.911,57 EUR anordnete, erlassen. Tatvorwurf war gewerbsmäßiger Bandenbetrug; die Einzelheiten sind für die Entscheidung nicht von Bedeutung.

Aufgrund dieses Arrestes führte die Staatsanwaltschaft Pfändungsmaßnahmen durch. Der Verteidiger des Beschuldigten hat Beschwerde eingelegt, die aber keinen Erfolg hatte:

„Die statthafte Beschwerde (§ 304 Abs. 1 StPO) ist auch im Übrigen zulässig. In der Sache ist sie allerdings unbegründet, weil der Arrest zu Recht angeordnet wurde und derzeit aus Verhältnismäßigkeitsgründen auch nicht aufzuheben ist.

1. Die Anordnung eines Arrestes setzt gem. § 111e Abs. 1 Satz 1 StPO lediglich den Anfangsverdacht einer rechtswidrigen Straftat i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO voraus, mit der Folge, dass die Voraussetzungen der Einziehung (von Wertersatz) bejaht werden können (OLG Nürnberg, Beschluss vom 20.12.2018 – 2 Ws 627/18, juris Rn. 14; OLG Stuttgart, Beschluss vom 25.10.2017 – 1 Ws 163/17, juris Rn. 10; OLG Hamburg, Beschluss vom 26.10.2018 – 2 Ws 183/18, juris Rn. 29 m.w.N.). Es müssen also konkrete Tatsachen vorliegen, die in Verbindung mit kriminalistischer Erfahrung den Schluss zulassen, dass später eine Einziehung erfolgen kann. Diese Voraussetzungen liegen vor.

a) Klarzustellen ist zunächst, dass es im Rahmen der Beschwerde gegen einen Vermögensarrest nicht darauf ankommt, ob im Zeitpunkt des Erlasses des Arrestbeschlusses ein Anfangsverdacht vorlag, sondern darauf, ob er im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung vorliegt. Die Beschwerde ist eine Tatsacheninstanz (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 309 Rn. 3; KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl., § 309 Rn. 6) und nicht auf die retrospektive Überprüfung der seinerzeitigen Sachlage bei Erlass der angegriffenen Entscheidung beschränkt (anderes gilt lediglich bei Durchsuchungsbeschlüssen zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Richtervorbehalts in Art. 13 Abs. 2 GG, vgl. MüKo-StPO/Hauschild, 2. Aufl., § 105 Rn. 41c m.w.N.).

b) Dies vorweggeschickt besteht zunächst ein Anfangsverdacht hinsichtlich des Beschuldigten Ö.

2. Das für die Arrestanordnung notwendige Sicherungsbedürfnis besteht.

Im Ausgangspunkt ist beim Vorliegen dringender Gründe, die die Kammer als gegeben erachtet, die Anordnung des Vermögensarrestes nach § 111e Abs. 1 Satz 2 StPO der gesetzliche Regelfall („soll“, vgl. BT-Drs. 18/9525, 77; OLG Nürnberg, Beschluss vom 20.12.2018 – 2 Ws 627/18, juris Rn. 14; KK-StPO/Spillecke, 9. Aufl., § 111e Rn. 2). Diese gesetzliche Wertung begründet zwar keinen Automatismus, wonach allein schon der dringende Verdacht einer gegen fremdes Vermögen gerichteten Straftat die Bejahung des Sicherungsbedürfnisses rechtfertigt (Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 66. Aufl., § 111e Rn. 6 m.w.N.), senkt aber gegebenenfalls die Hürden für die Begründung des Sicherungsbedürfnisses und der Verdacht gibt ein starkes Indiz für dessen regelmäßiges Vorliegen (vgl. die Rspr.-Nachweise bei Rettke, wistra 2024, 38), wobei auch allgemein kriminalistische Erfahrungen zu berücksichtigen sind (vgl. LR-StPO/Johann, 27. Aufl., § 111e Rn. 18). Weiterhin teilt die Kammer die Einschätzung von Köhler (in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. § 111e Rn. 7), dass das Sicherungsbedürfnis ohne weiteres bei mehreren Tatbeteiligten angenommen werden kann, wenn der personelle Hintergrund der Straftaten (noch) nicht völlig aufgeklärt werden konnte und deshalb zu besorgen ist, dass der Einziehungsadressat sein noch vorhandenes Vermögen mithilfe der weiteren Mittäter dem Zugriff entziehen könnte. So liegen die Dinge hier. Der Sachverhalt ist noch nicht umfassend aufgeklärt, die Ermittlungen legen aber nahe, dass hier eine größere Anzahl von Beteiligten an dem Geschäftsmodell der UG beteiligt war, sodass auch die vorläufige Bejahung eines gewerbsmäßigen Bandenbetrugs (§ 263 Abs. 5 StGB) derzeit gut begründet ist. Damit sind aber auch die Beziehungen zwischen den Beteiligten und damit das Risiko ihres kollusiven Verhaltens derzeit noch nicht sicher abzuschätzen, was prognostisch zulasten des Beschuldigten geht.

3. Der Arrest ist auch im Übrigen verhältnismäßig.

Bei der Anordnung eines Arrestes ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, bei der das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit gegen das Grundrecht des Betroffenen aus Art. 14 Abs. 1 GG abzuwägen ist; die „Soll“-Regelung des § 111e Abs. 1 Satz 2 StPO lässt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unberührt (BT-Drs. 18/9525, S. 77). Dabei wachsen mit der den Eigentumseingriff intensivierenden Fortdauer der Maßnahme die Anforderungen an die Rechtfertigung der Anspruchssicherung (OLG Nürnberg, Beschluss vom 20.12.2018 – 2 Ws 627/18, juris Rn. 107 m.w.N.). Derzeit fällt die Abwägung zugunsten des staatlichen Sicherungsbedürfnisses aus.

Bedenken gegen die Dauer des Arrestes bestehen hier nicht, nachdem er erst seit wenigen Wochen vollstreckt wird. Inwieweit der Arrest die Lebensführung des Beschuldigten beschränkt, vermag die Kammer nach gegebenem Aktenstand nicht zu sagen; die Bemerkung in der Beschwerde, der Beschuldigte sei „in seinem täglichen Leben erheblich eingeschränkt“ ist reichlich unbestimmt. Aber selbst wenn der Arrest in wirtschaftlicher Hinsicht zur Folge haben sollte, dass dadurch nahezu das gesamte Vermögen des Beschuldigten dessen Verfügungsbefugnis entzogen wurde (dazu vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.04.2015 – 2 BvR 1986/14, juris), hinderte das die Anordnung des Arrestes nicht. Denn sind die Voraussetzungen der Einziehung von Taterträgen nach § 73 Abs. 1 StGB oder einer hieran anknüpfenden Wertersatzeinziehung gemäß § 73c StGB erfüllt, sieht die gesetzliche Regelung die Anordnung der entsprechenden Vermögensabschöpfung zwingend vor, sofern, wofür es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt, kein Ausschlusstatbestand des § 73e StGB gegeben ist. Eine Abhilfe zugunsten des Beschuldigten ist mit der Regelung des § 459g Abs. 5 StPO eröffnet, die eine entsprechende Verhältnismäßigkeitsprüfung im Vollstreckungsverfahren vorsieht (BGH, Urteil vom 27.09.2018 – 4 StR 78/18, juris Rn. 11). Dazu kann bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vorgetragen werden.“