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Einfluss wirtschaftlicher Nachteile eines Arrestes, oder: Gegenstandswert bei der Einziehungsgebühr

Und dann machen ich in dieser Woche bei den RVG-Entscheidungen/-Postings mit dem Gegenstandswert weiter. Also heute dazu wieder zwei Entscheidungen, in dieser Woche aber zur Nr. 4142 VV RVG – also Einziehung und was damit zu tun hat.

Zunächst kommt hier der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 22.11.2024 – 12 KLs 506 Js 609/22. Der Verteidiger der freigesprochenen Angeklagten hat Kostenfestsetzung und in dem Rahmen die Wertfestsetzung gem. § 33 Abs. 1 und 2 RVG im Hinblick auf ein gegen seine Mandantin durchgeführtes Arrestverfahren beantragt. Dem liegt zugrunde:

Die Staatsanwaltschaft verfolg-te die ehemalige Angeklagte – neben weiteren Beschuldigten – wegen Betrugs. In diesem Zu-sammenhang erließ das AG auf Antrag der Staatsanwaltschaft am 21.3.2022 einen Vermö-gensarrest über 1.858.364,80 EUR gegen sie, der in der Folgezeit vollzogen wurde. Am 31.3.2022 bestellte das AG den Antragsteller als Pflichtverteidiger für die Freigesprochene. Dieser legte gegen den Arrest Beschwerde ein, woraufhin das LG den Arrestbetrag auf 1.772.095,46 EUR ermäßigte. Das OLG reduzierte auf weitere Beschwerde den Arrestbetrag weiter auf 912.686,14 EUR. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach dem mittlerweile erreich-ten Ermittlungsstand habe die ehemalige Angeklagte diese Summe aus Betrugstaten erlangt. Nach dem Freispruch der ehemaligen Angeklagten ist der gegen sie fortbestehende Arrest auf-gehoben worden.

Der Verteidiger hat in seinem Kostenfestsetzungsantrag ausgeführt, der Vollzug des Arrestes habe das Unternehmen der ehemaligen Angeklagten. Die kreditfinanzierten Betriebs-Lkw seien an die finanzierenden Firmen zurückgegeben worden, die Arbeitnehmer der ehemaligen Ange-klagten hätten gekündigt und sie lebe aktuell von Sozialleistungen. Wegen dieser Folgen könne nicht nur ein Bruchteil – beispielsweise ein Drittel – der Arrestsumme für die Festsetzung der Rechtsanwaltsgebühren angesetzt werden, sondern der volle (ursprüngliche) Arrestbetrag. Die Halbierung des Arrestbetrages durch das OLG habe nicht mehr helfen können, da die ehemali-ge Angeklagte da bereits vermögenslos gewesen sei. Das alles zeige, dass sich die an sich vor-läufige Regelung des Arrestes für die Mandantin als endgültig – weil existenzvernichtend – er-wiesen habe.

Das LG hat den Gegenstandswert auf 233.333,33 EUR festgesetzt.

„1. Bei einem Vermögensarrest ist das wirtschaftliche Interesse des Betroffenen an der Abwehr der Arrestforderung maßgebend für die Wertfestsetzung, wobei die konkrete wirtschaftliche Situation in den Blick zu nehmen ist (§ 23 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 RVG). Beträge, deren Durchsetzbarkeit nicht ernstlich in Betracht kommt und die deshalb eher fiktiven Charakter haben, bleiben unberücksichtigt. Nur soweit der zu sichernde Anspruch werthaltig ist und eine Befriedigung des Arrestgläubigers erwarten lässt, ist er im Rahmen der Gebühr nach Nr. 4142 VV RVG der Bemessung des Gegenstandswerts zu Grunde zu legen. Damit geht das für die Wertberechnung gem. § 2 Abs. 1 RVG maßgebliche Interesse des Betroffenen an der Abwehr des Arrests nicht weiter, als Vermögenswerte vorhanden sind, auf die im Wege der Arrestvollziehung zugegriffen werden kann. Entscheidend ist dabei der Zeitpunkt, zu dem der Verteidiger tätig wird. Dabei können die in Vollziehung des Arrests erfolgten Pfändungen Anhaltspunkte dafür liefern, inwieweit eine durchsetzbare Verfallsanordnung in Betracht kommt. Da es sich bei dem Arrest um eine vorläufige Maßnahme handelt, ist auf den so geschätzten Wert ein Abschlag auf – regelmäßig – ein Drittel vorzunehmen (BGH, Urteil vom 08.11.2018 – III ZR 191/17; OLG Nürnberg, Beschluss vom 21.12.2021 – Ws 1149/21; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 20.06.2024 – 18 KLs 104 Js 10095/22; Burhoff, ZWH 2022, 123, 126 mwN).

2. Ausgehend von der ursprünglichen Arrestforderung iHv 1.858.364,80 EUR waren tatsächliche Vermögenswerte der Freigesprochenen vorhanden, die auf 700.000 EUR zu schätzen waren.

a) Die Freigesprochene war bei Vollzug des Arrestes Miteigentümerin zur Hälfte des gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Verurteilten P, genutzten Hausgrundstücks (freistehendes Einfamilienhaus in pp.). Insoweit wurde in Vollzug des Arrestes für den Freistaat Bayern eine Höchstbetragssicherungshypothek über 600.000 EUR im Grundbuch eingetragen. Angesichts der sehr hohen Immobilienpreise im Umland von pp. zur Zeit des Arrestvollzugs hält die Kammer diesen Betrag für nicht abwegig, um den hälftigen Grundstückswert abzubilden.

b) Kontenguthaben und Bargeld der Freigesprochenen wurden in Höhe von 70.922,11 EUR gepfändet, weiterhin Schmuck im Schätzwert von 2.000 EUR.

c) Nimmt man schließlich in den Blick, dass auch weiteres Mobiliarvermögen, insbesondere die verschiedenen Jagdwaffen der Freigesprochenen beschlagnahmt wurden oder jedenfalls hätten beschlagnahmt werden können, schätzt die Kammer den Wert des abzuwehrenden Arrestes auf insgesamt 700.000 EUR. Dass weitere Vermögenswerte der Freigesprochenen bestanden, auf die zum Vollzug des Vermögensarrests hätte zugegriffen werden können und die eine höhere Bewertung tragen könnten, war nicht ersichtlich.

d) Soweit der Antragsteller darauf abhebt, dass der nominelle ursprüngliche Arrestbetrag anzusetzen sei, weil das Fuhrunternehmen der Freigesprochenen infolge des Zugriffs der Ermittlungsbehörden den Betrieb habe einstellen müssen, so führt das zu keiner anderen Beurteilung. Das Betriebsvermögen der Freigesprochenen, das im Wesentlichen aus fremdfinanzierten Lkw bestand, die zwischenzeitlich an die Kreditinstitute bzw. an die Leasinggeber zurückgefallen sind, wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht beschlagnahmt und sollte – weil es Fremdeigentum war – von Vornherein auch nicht gepfändet werden. Das letztlich vom Verurteilten P gesteuerte, formell von der Freigesprochenen betriebene Unternehmen lebte vor dem Zugriff der Ermittler von den Aufträgen, die ihm P im Rahmen seiner Korruptionstaten „zugeschanzt“ hatte. Das Fuhrunternehmen diente nach dem Ergebnis der späteren Beweisaufnahme dazu, die als Aufträge deklarierten und abgewickelten Bestechungsgelder zu waschen, wobei die Freigesprochene eine Strohgeschäftsführerin war, die die Vorgänge nicht durchschaute. Das Unternehmen wurde insolvent, als P in Untersuchungshaft genommen wurde und so die Grundlage der Aufträge wegfiel. Diese mittelbare Folge des Ermittlungsverfahrens – insoweit nicht des Arrestes selbst – kommt bei der Bewertung des gegen die Freigesprochene vollzogenen Arrestes nicht in Ansatz.

3. Im Hinblick auf den vorläufigen Charakter der Anordnung des Vermögensarrests war auf den Arrestwert von 700.000 EUR ein Abschlag von zwei Dritteln vorzunehmen, woraus der Gegenstandswert von 233.333,33 EUR folgt.“

Die Entscheidung ist zutreffend. Zutreffend ist es insbesondere auch, wenn das LG die Vermögenseinbuße durch die (vermeintliche) Existenzvernichtung nicht berücksichtigt hat. Das ist – wenn überhaupt – eine Folge des Arrestes, nicht aber eigentlicher Gegenstand des vom LG angeordneten und vom OLG bestätigten Arrestes. Im Grunde hate die ehemalige Angeklagte insoweit einen Schadensersatzanspruch geltend gemacht. Der wird aber sicherlich nicht von der Nr. 4142 VV RVG erfasst, sondern möglicherweise von § 839 BGB, wenn den beteiligten Justizbehörden ein Schuldvorwurf zu machen ist/wäre.

Unfallschadenregulierung beim E-Auto-Unfall, oder: Merkantiler Minderwert

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Es ist Samstag und damit „Kessel-Buntes-Tag“. Und an dem stelle ich heute zwei zivilrechtliche Entscheidungen vor.

Ich beginne mit dem LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 18.09.2024 – 8 O 4990/23 – zur Bemessung des merkantilen Minderwerts bei E-Autos. Das LG nimmt zu Bemessung wie folgt Stellung:

„b) Ferner hat der Kläger Anspruch auf Ersatz eines merkantilen Minderwerts des Fahrzeuges in Höhe von 3.750,00 €.

Das Gericht folgt bei der Bezifferung des merkantilen Minderwerts nicht der Auffassung des gerichtlich bestellten Sachverständigen. Dieser nahm eine Berechnung des Minderwerts auf Grundlage der gängigen Modelle BVSK, MFM (“Marktrelevanz- und Faktorenmethode“) und Halbgewachs vor und kam so zu einem Betrag von lediglich 2.500,00 € (für November 2023). Die vom Sachverständigen hinzugezogenen Modelle wurden für konventionelle Verbrenner-Fahrzeugen entwickelt. Bei dem klägerischen Fahrzeug handelt es sich jedoch um einen VW ID 4, also ein Fahrzeug mit ausschließlich batterieelektrischem Antrieb. Die Brutto-Reparaturkosten dieses sog. Elektroautos (“E-Auto“), welchen der Sachverständige mit einem Händlerverkaufswert von 42.125,00 € bezifferte, lagen bei über 19.000,00 €. Auch wenn „nur“ der Heckbereich des Fahrzeugs in Mitleidenschaft gezogen wurde, führt ein solch hoher Schaden nach Einschätzung des Gerichts zu einer überdurchschnittlichen Reduzierung potentieller Kaufinteressenten auf dem allgemeinen Automarkt. Zu sehen ist, dass das Vertrauen in die Reparaturmöglichkeit von Fahrzeugen mit elektronischen Antriebs- und Steuerungssystemen, die erst seit wenigen Jahren markttauglich sind, geringer ausgeprägt ist, als ein solches in die Reparaturmöglichkeit von konventionellen Verbrenner-Fahrzeugen. Mit anderen Worten: Die Skepsis eines potentiellen Käufers eines E-Autos, dass ein großer Unfallschaden „nicht richtig“ behoben werde kann bzw. konnte, ist (zumindest heute) größer, als diejenige eines potentiellen Käufers eines Verbrenner-Fahrzeuges. Der E-Fahrzeug-Käufer wird sich daher tendenziell eher einem unfallfreien Fahrzeug zuwenden als derjenige eines Verbrenner-Fahrzeuges. Die Wertminderung muss daher höher ausfallen, um den Mangel an Attraktivität auszugleichen.

Das Gericht schätzt mithin gem. § 287 ZPO, dass die Wertminderung eines Elektroautos um etwa 50% höher ist als die vergleichbare Wertminderung eines Verbrenner-Fahrzeuges.

Im vorliegenden Fall geht das Gericht daher von einem merkantilen Minderwert von 3.750,00 € aus. Unterstrichen wird dies durch den Umstand, dass der Halter des Fahrzeuges wenige Monate nach dem Unfall gegenüber der V. AG einen deutlich niedrigeren Kaufpreis durchsetzen konnte, obwohl das Fahrzeug zwischenzeitlich in einer Fachwerkstatt repariert worden war.

Entgegen der klägerischen Auffassung kommt es hingegen auf den realisierten Wertverlust nicht an. Dieser hängt unter anderem vom Verhandlungsgeschick des Verkäufers ab. Auch die allgemeine Markt- und Wirtschaftslage und sogar die Jahreszeit können sich auf den Verkaufspreis auswirken.“

StrEG II: Teilvollstreckung nach Bewährungswiderruf, oder: Keine Entschädigung nach dem StrEG?

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Die zweite Entscheidung, der schon etwas ältere LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 28.08.2024 – 18 Qs 15/24 -, äußert sich zur Frage der Entschädigung nach dem StrEG bei Teilvollstreckung zwischen dem Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung und der Aufhebung des Widerrufsbeschlusses durch das Beschwerdegericht.

Dazu sagt das LG  mit dem AG: Gibt es nicht:

„2. Die sofortige Beschwerde ist unbegründet.

Wer durch eine strafgerichtliche Verurteilung einen Schaden erlitten hat, wird aus der Staatskasse entschädigt, soweit die Verurteilung im Wiederaufnahmeverfahren oder sonst, nachdem sie rechtskräftig geworden ist, in einem Strafverfahren fortfällt oder gemildert wird, § 1 Abs. 1 StrEG. Unter dem Begriff der Verurteilung ist jede rechtsförmliche Feststellung einer strafrechtlichen Schuld zu verstehen (BeckOK StPO/Cornelius, 52. Ed. 1.7.2024, StrEG § 1 Rn. 1 m.w.N.).

a) Wenn das Gericht die Aussetzung einer Strafe (§ 56 StGB) oder Maßregel (§ 67b StGB) oder eines Strafrestes (§ 57 StGB) oder des Maßregelvollzugs (§ 67 Abs. 2, § 67e StGB) widerruft, die Widerrufsentscheidung aber auf sofortige Beschwerde aufgehoben wird, gibt es für eine Teilvollstreckung zwischen Widerruf und Aufhebung nach ganz herrschender Meinung keine Entschädigung nach dem StrEG (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.02.1993 – 1 Ws 92-93/93; LG Karlsruhe, Beschluss vom 23. Oktober 2023 – 11 O 19/23; MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 29; Kunz, StrEG, 4. Auflage 2010, § 1 Rn. 29; a. A. OLG Köln, Beschluss vom 23. August 2002 – 2 Ws 372/02). Für Maßnahmen im Bereich der Strafvollstreckung kann nach den Regelungen des StrEG keine Entschädigung verlangt werden (vgl. KG, Beschluss vom 25. Februar 2005 – 5 Ws 67/05; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Juni 1981 – 3 Ws 261/81; Meyer, StrEG, 10. Auflage 2017, § 1 Rn. 15, 15a). Die nachträglichen gerichtlichen Entscheidungen ergehen vielmehr im Rahmen der kriminalpolitischen Zielsetzungen, die das materielle Strafrecht mit dem Bewährungssystem verfolgt. Sie betreffen allein die Vollstreckung, nicht das Urteil (vgl. MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 27). Während die Entschädigungspflicht des Staates nach § 1 StrEG voraussetzt, dass eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung später in einem Strafverfahren wegfällt oder gemildert wird, zielt § 2 StrEG auf solche Fälle ab, in denen es trotz vorläufiger Strafverfolgungsmaßnahmen erst gar nicht zu einer Verurteilung gekommen ist. Beide Voraussetzungen liegen bei der Vollstreckung des rechtskräftigen Urteils nicht vor. Das gilt auch dann, wenn das der Strafvollstreckung entgegenstehende Hindernis der Strafaussetzung durch deren Widerruf beseitigt wird. Auch in diesem Fall handelt es sich um die Vollstreckung des rechtskräftigen auf Freiheitsstrafe lautenden Urteils, das weder durch den Widerruf der Strafaussetzung noch durch die Aufhebung dieses Widerrufs in seinem materiellen Inhalt berührt wird. Hinzukommt, dass § 2 StrEG abschließend aufzählt, welche Strafverfolgungsmaßnahmen zu einer Entschädigungspflicht des Staates führen. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach rechtskräftigem Widerruf der Strafaussetzung bis zu dessen späteren Wegfall zählt nicht dazu (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.02.1993 – 1 Ws 92-93/93; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 05.06.1981 – 3 Ws 261/81 für Sicherungshaftbefehl).

b) aa) Die Kammer hat diese Frage in ihrer Entscheidung vom 07.09.2020 (18 Qs 45/20) mangels Entscheidungserheblichkeit noch dahinstehen lassen (Bl. 48), schließt sich der herrschenden Meinung mit deren zutreffenden Argumenten aber an. § 1 Abs. 1 StrEG spricht ausdrücklich von einer strafgerichtlichen Verurteilung als schadenstiftendem Ereignis. Ein Beschluss über den Widerruf der Strafaussetzung nach den §§ 56f StGB; 453 StPO stellt aber kein Urteil im Sinne der §§ 260, 267, 268, 275 StPO und auch nicht einen diesem gleichstehenden (§ 410 Abs. 3 StPO) Strafbefehl dar.

bb) Der – umstrittene – Ansatz, § 1 Abs. 1 StrEG umfasse auch Fälle der Wiedereinsetzung und Rechtskraftdurchbrechung, rechtfertigt keine andere Betrachtung.

(A) Vertreten wird, von § 1 Abs. 1 StrEG würden alle Fälle umfasst, in denen die Rechtskraft nachträglich durchbrochen werde, weil das Gebot materieller Gerechtigkeit der Rechtskraftwirkung vorgehe (MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 2). Auch bei einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei der Regelungsbereich von § 1 StrEG eröffnet (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl. 2023, StrEG § 1 Rn. 2; BeckOK StPO/Cornelius, 52. Ed. 1.7.2024, StrEG § 1 Rn. 6.1; MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 21; BayObLG, Beschluss vom 26. Februar 1986, RReg. 4 St 256/85; aA: Meyer, StrEG, 10. Auflage 2017, § 1 Rn. 11). Dafür, dass auch die Wiedereinsetzung in diesem Sinne umfasst sei, sprächen sowohl der Wortlaut von § 1 Abs. 1 StrEG, als auch der Sinn und Zweck des Gesetzes, den Ausgleich eines nicht gerechtfertigten Sonderopfers zu ermöglichen. Dem Beschuldigten, der einer durch das Verfahrensergebnis nicht gedeckten Strafverfolgungsmaßnahme ausgesetzt sei, werde im Allgemeininteresse, nämlich aus Gründen der Strafrechtspflege, ein Sonderopfer auferlegt. Dem Ausgleich der hierdurch verursachten Schäden diene die im StrEG normierte Staatshaftung. Hinsichtlich des dem Verurteilten auferlegten Sonderopfers bedeute es keinen Unterschied, ob die rechtskräftige Strafe nach Wiederaufnahme oder nach Wiedereinsetzung gemildert worden sei (BayObLG, Beschluss vom 26. Februar 1986, RReg. 4 St 256/85).

(B)

(I) Bei rechtlich zutreffender Würdigung der Sach- und Rechtslage lag – entgegen der Annahme des Amtsgerichts im Beschluss vom 15.07.2020 (Bl. 30) – bereits kein Fall der Wiedereinsetzung und Rechtskraftdurchbrechung in diesem Sinne vor, weil bezogen auf den Beschluss vom 11.05.2020 (Bl. 12 ff.) und das Schreiben der Verurteilten vom 18.06.2020 (Bl. 17) keine Frist versäumt wurde (§ 44 StPO).

…..“

StPO II: Durchsuchung wegen Abrechnungsbetrug, oder: Vollständige Spiegelung der Patientendaten

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Die zweite Durchsuchungsentscheidung kommt dann auch vom LG Nürnberg-Fürth. Das hat dann im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 27.01.2025 – 12 Qs 60/24 – zur  vollständige Spiegelung der Patientendaten einer Arztpraxis im Wege einer virtuellen Maschine zur Durchführung der Durchsicht bei einer Durchsuchung Stellung genommen.

Gestritten wird um die Beschlagnahme einer sog. virtuellen Maschine durch die StA. Dem liegt zugrunde: Der Beschuldigte ist als Arzt zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Die GenStA Nürnberg verdächtigt ihn des Abrechnungsbetrugs gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) in den Quartalen 3/2019 bis 3/2021. Das AG erließ dementsprechend Durchsuchungsbeschlüsse, u.a. auch für die Praxisräume des Beschuldigten, die am 09.10.2024 vollzogen wurden.

Im Rahmen der Durchsuchung wurden in der Praxis Daten sichergestellt. Dies geschah in der Weise, dass Daten von Praxisrechnern auf dienstliche Datenträger gespiegelt wurden. Gespiegelt wurde auch die Praxissoftware CGM Medistar in Form einer sog. virtuellen Maschine vom Arbeitsplatzrechner des Beschuldigten. Diese virtuelle Maschine wurde aus dem auf dem Praxisrechner installierten Verwaltungsprogramm für virtuelle Maschinen Microsoft Hyper-V direkt exportiert und auf einem dienstlichen Datenträger gespeichert.

Noch während der laufenden Datensicherung ordnete der in der Praxis anwesende Oberstaatsanwalt die Beschlagnahme der genannten Daten an, um dem Beweismittelverlust durch einen befürchteten (Fern-)Zugriff des Beschuldigten zuvorzukommen. Er begründete das damit, dass der Beschuldigte vor Beendigung der Sicherung die Praxis verlassen habe. Bei Durchsuchungsbeginn habe der Beschuldigte erklärt, die gesuchten Daten lägen nur elektronisch vor und er habe auf sie von seinem Praxisrechner und vom Homeoffice aus Zugriff.

Das AG hat die Beschlagnahme der virtuellen Maschine bestätigt. Die Beschlagnahme sei verhältnismäßig und für die Ermittlungen notwendig.

Dagegen die Beschwerde, die Erfolg hatte. Die angegriffene Beschlagnahme war nahc Auffassung des LG unverhältnismäßig und damit rechtswidrig:

„b) Der Durchsicht außerhalb der Praxisräume standen Rechtsgründe nicht entgegen. Die Durchsicht großer Datenmengen, erst recht, wenn es sich um sensible Gesundheitsdaten handelt, unterliegt allerdings in strikter Weise dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, was verfahrensrechtliche Sicherungen, einschließlich Löschungen nicht benötigter Daten beinhalten kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.04.2005 – 2 BvR 1027/02, juris 106 ff.; Park, NStZ 2023, 646, 647 ff.).

aa) Im ersten Schritt war es zulässig, dass die die Arztpraxis durchsuchenden Ermittler den kompletten Datenbestand von Medistar durch die Erzeugung einer virtuellen Maschine spiegelten und diese mitnahmen.

(1) Ist am Durchsuchungsort eine Durchsicht und Sortierung der Daten nach ihrer Verfahrensrelevanz nicht möglich oder erlaubt die – auch technische – Erfassbarkeit des Datenbestands eine unverzügliche Zuordnung nicht, kann die vorläufige Sicherstellung des gesamten Datenbestands erfolgen, an die sich die Durchsicht gemäß § 110 StPO zur Feststellung der potenziellen Beweiserheblichkeit und -verwertbarkeit der einzelnen Datensätze anschließt (BVerfG, Beschluss vom 15.08.2014 – 2 BvR 969/14, juris Rn. 44). Begrenzt wird ein solcher umfassender Zugriff durch das Übermaßverbot (BVerfG, Beschluss vom 12.04.2005 – 2 BvR 1027/02, juris 120).

Nach den technischen Gegebenheiten des vom Beschuldigten verwendeten Programms Medistar war vor Ort eine nach bestimmten allgemeinen Parametern vorzunehmende Sortierung und ein entsprechend umgrenzter Datenexport in angemessener Zeit nicht möglich. Die unvollständige Spiegelung von Programm und Patientendaten oder etwaige zu dem Zeitpunkt durchgeführten Löschungen hätten dazu geführt, dass die virtuelle Maschine nicht mehr lauffähig ist und daher später nicht gesichtet und ausgewertet werden kann. Insofern war die Erzeugung der virtuellen Maschine zur Durchführung der Ermittlungen erforderlich und geeignet.

(2) Nichts anderes folgt aus dem Hinweis der Beschwerde auf ein anderes Ermittlungsverfahren, in dem Krankenhausmitarbeiter zusammen mit den Ermittlern vor Ort die dortige Datenbank durchgegangen seien und potenziell beweisrelevante Datensätze per Screenshot gesichert haben sollen, sodass die anschließende Auswertung sich allein darauf bezogen habe. Wenn die tatsächlichen Umstände dieses der Kammer nicht bekannten Verfahrens das hergegeben haben, so mag das so sein. Wenn es aber – wie hier – wohl um mehrere Tausend Patienten-Datensätze geht, die einzeln gesichtet werden müssten, so hätte die Durchführung der vorgeschlagenen Prozedur die tage- oder wochenlange Lahmlegung der Arztpraxis zur Folge gehabt, weil Medistar während der Durchsicht zur Meidung von Datenmanipulationen dem Zugriff des Praxispersonals entzogen werden müsste. Die Kammer vermag darin kein milderes Mittel zu erkennen. Die Ermittlungspersonen müssten auch in diesem Fall, den technischen Möglichkeiten von Medistar folgend, alle Datensätze einzeln sichten. Zudem wäre die Binnenorganisation der Ermittlungsbehörden empfindlich gestört, denn die Sichtung vor Ort müsste – zwangsläufig – umgehend erfolgen, was die Ermittlungspersonen für deren Dauer entsprechend binden und sie damit an der Teilnahme an anderen, möglicherweise länger geplanten und koordinierten Ermittlungen hindern würde. Auch das ist im Blick zu behalten.

(3) Die Kammer vermag weiterhin dem Argument der Beschwerde nicht zu folgen, wonach § 500 StPO mit §§ 48, 46 Nr. 14 Buchstabe d BDSG der Sicherstellung der vollständigen Patientendatenbank entgegengestanden hätte. Diese Vorschriften des BDSG sind insoweit nicht anwendbar. Nur der (spätere) Umgang mit den durch strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen gewonnenen Daten richtet sich nach dem spezifischen Datenschutzrecht, das sich in Teil 3 des BDSG und in den speziellen Datenschutzregelungen der StPO findet. Die strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen – und um deren Beurteilung geht es hier – richten sich dagegen nach den Vorschriften der StPO und der hierzu ergangenen Rechtsprechung, weil ihnen als bereichsspezifischen Sonderregelungen der Vorrang gebührt (BGH, Beschluss vom 27.04.2023 – 5 StR 421/22, juris Rn. 4 m.w.N. auch zur a.A.; LR-StPO/Böß, 27. Aufl., § 500 Rn. 6 f.; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 67. Aufl., § 500 Rn. 2).

(4) Das Übermaßverbot wäre durch die Virtualisierung von Medistar allerdings dann verletzt, wenn der die Durchsuchung begründende Tatverdacht insgesamt als nicht hinreichend gewichtig zu werten wäre, um den erheblichen Eingriff zu rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.06.2008 – 2 BvR 1111/08, juris Rn. 4; LR-StPO/Tsambikakis, 27. Aufl., § 110 Rn. 23). Das war aber nicht der Fall, denn die in der Strafanzeige der KVB vorgelegten Anlagen belegen eine Vielzahl von Unregelmäßigkeiten, die geeignet sind, den Verdacht umfänglichen Abrechnungsbetrugs durch den Beschuldigten zu tragen. Die Bekämpfung von systematischem Abrechnungsbetrug in dem auf Vertrauen basierenden Abrechnungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung stellt bei dieser Abwägung einen gewichtigen, gegen den Beschuldigten streitenden Belang dar (vgl. BGH, Beschluss vom 14.04.1993 – 4 StR 144/93, juris Rn. 2 f.; Urteil vom 21.05.1992 – 4 StR 577/91, juris Rn. 34).

bb) Im zweiten Schritt wäre das Aussondern von möglicherweise verfahrensrelevanten Datensätzen im Wege der Sichtung angestanden. Hierbei hätten die Ermittlungsbehörden dem begrenzenden Zweck des im Durchsuchungsbeschluss formulierten Tatverdachtes Rechnung zu tragen gehabt, was einer gezielten Suche nach Zufallsfunden in der Masse der gespiegelten Daten von vornherein Schranken gesetzt haben würde (vgl. Park, NStZ 2023, 646, 651). Der danach verbleibende Bestand potenziell beweisrelevanter Datensätze wäre tauglicher Gegenstand einer anschließenden Beschlagnahme.

c) Eine Durchsicht und damit eine Sortierung nach verfahrensrelevanten und -irrelevanten Datensätzen hat vor der Beschlagnahme jedoch nicht stattgefunden. Beschlagnahmt und damit als potenziell beweisbedeutsam erklärt wurde der gesamte Datenbestand aus den Jahren 2007 bis Ende 2024, obwohl nur der Zeitraum von zwei Jahren (Quartal 3/2019 bis 3/2021) zur näheren Untersuchung ansteht. Dass das, auch angesichts der Sensibilität der fraglichen Daten, die Grenzen der Angemessenheit und damit der Verhältnismäßigkeit überschreitet, liegt auf der Hand (vgl. auch LR-StPO/Menges, 27. Aufl., § 94 Rn. 51 ff.). Der Beschlagnahmebeschluss war daher insgesamt aufzuheben. Eine Teilbarkeit in dem Sinne, dass die Beschlagnahme aufrechterhalten bleibt, soweit sie allein die Daten aus den genannten Quartalen betrifft, war nicht gegeben, denn mangels vorangehender Durchsicht und Sortierung wäre sie (derzeit und absehbar) technisch nicht umsetzbar.“

StPO I: Durchsuchung wegen Steuerhinterziehung, oder: Durchsuchung bei Berufsausübungsgesellschaft

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Und dann stelle ich heute weitere StPO-Entscheidungen vor, und zwar drei LG-Beschlüsse zur Durchsuchung

Ich starte mit dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 08.01.2025 – 18 Qs 27/24 – von dem ich aber nur die Leitsätze einstelle, da der Beschluss 22 Seiten lang ist. Es geht um die inhaltlichen Anforderungen an einen Durchsuchungsbeschluss wegen Steuerhinterziehung und um Durchsuchungsmaßnahmen bei Berufsausübungsgesellschaften nach § 59b BRAO bzw. § 50 StBerG:

1. Ein Durchsuchungsbeschluss wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung erfüllt die an seinen Inhalt zu stellenden rechtsstaatlichen Mindestanforderungen nur dann, wenn nach der Beschlussbegründung klar ist, ob und wann der/die Beschuldigte unrichtige Angaben gemacht hat oder ob die (wann und mit welchem Inhalt auch immer) ergangenen Steuerbescheide wegen Nichterklärung aufgrund von Schätzungen erlassen wurden. Sollten unrichtige Angaben gemacht worden sein, muss klar sein, wann was erklärt wurde und zu welcher Steuerfestsetzung dies geführt hat.

2. Wie sich aus § 30 Abs. 4 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b AO ergibt, steht das Steuergeheimnis bei Durchsuchungsbeschlüssen gemäß § 103 StPO wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung einer Sachverhaltsbeschreibung nicht grundsätzlich entgegen. Steuerdaten des/der Beschuldigten sollen im Rahmen der Beschreibung des steuerstrafrechtlichen Vorwurfs Dritten aber nur insoweit offenbart werden, als dieses notwendig ist. Mindestens müssen aber Grund, Ziel und Zweck der Durchsuchungsmaßnahmen nachvollziehbar dargestellt sein.

3. Sofern sich Rechtsanwälte gemäß § 59c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BRAO mit Steuerberatern, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfern und vereidigten Buchprüfern in einer Berufsausübungsgesellschaft nach § 59b BRAO verbunden haben oder umgekehrt Steuerberater und Steuerbevollmächtigte sich gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StBerG mit Mitgliedern einer Rechtsanwaltskammer sowie mit Wirtschaftsprüfern und vereidigten Buchprüfern zu einer Berufsausübungsgesellschaft nach § 49 StBerG zusammengeschlossen haben, gemeinsam Räumlichkeiten nutzen und im konkreten Fall bei einer Durchsuchungsmaßnahme lediglich ein Vertrauensverhältnis im Sinne des § 160a Abs. 2 StPO zu einem Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer betroffen sein kann, richtet sich diese Ermittlungsmaßnahme nicht gegen einen Rechtsanwalt und ist nicht nach § 160a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 4 StPO unzulässig.