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Aufgedrängter SV/unzumutbare Weisung der RSV, oder: Kein „Schadensersatz“ für Rechtsschutzversicherung

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Heute im „Kessel-Buntes“ zwei Entscheidungen aus Zivilverfahren, die aber mit Sicherheit Bezug auch zu Straf- und Bußgeldsachen haben.

Zunächst kommt hier ein AG-Urteil aus einem Schadenersatzprozess einer RSV mit einem Verteidiger. Inbesondere in Bußgeldsachen kommt es ja häufiger vor, dass Rechtsschutzversicherer Verteidigern bestimmte Sachverständige vorschlagen. Dabei handelt es ist i.d.R. um solche, die lediglich sehr niedrige Honorare für die Gutachtenerstellung vorsehen. In der Praxis sind dann deren Gutachten häufig nur eingeschränkt verwertbar und qualitativ deutlich schwächer als solche von frei beauftragten Sachverständigen. Daher folgen Verteidiger diesen „Empfehlungen“ meist nicht und beauftragen andere Sachverständige. Das führt dann nicht selten zum Streit um den Ersatz der bei den entstandenen Kosten. Mit einer solchen Konstellation hat sich das AG Zwickau im AG Zwickau, Urt. v. 30.07.2025 – 22 C 5/25 – befasst.

In dem Verfahren hat die Klägerin, eine Rechtsschutzversicherung, den Beklagten, einen Rechtsanwalt/Verteidiger, aus übergegangenem Recht ihres Versicherungsnehmers V auf Ersatz eines Kostenschadens wegen angefallener Sachverständigengebühren in Anspruch genommen. Zwischen der Klägerin und Herrn V. bestand eine Rechtsschutzversicherung. Die Klägerin hatte in einem Bußgeldverfahren, in dem V den Beklagten mit seiner Verteidigung beauftragt hatte, Deckungszusage erteilt.

Unter dem 16.12.2019 bat der Beklagte das Schadensabwicklungsunternehmen um Kostenübernahme für die Einholung eines verkehrstechnischen Sachverständigengutachtens. Am 17.12.2019 wurde Deckung für die Einholung eines solchen Gutachtens zugesagt. Zugleich erteilte man unmittelbar gegenüber dem Versicherungsnehmer die Weisung, eine Sachverständigengesellschaft mbH & Co. KG mit der Begutachtung zu beauftragen. Der Beklagte erhielt eine Abschrift dieses Schreibens unmittelbar übersandt.

Die Beauftragung eines Sachverständigen erfolgte dann nicht durch den Versicherungsnehmer, sondern unmittelbar durch den Beklagten. Dieser beauftragte in Kenntnis der an den Versicherungsnehmer gerichteten Weisung allerdings nicht die von der Klägerin genannte Firma, sondern das Ingenieurbüro F. Dieses Büro erstattete am 27.12.2019 ein Gutachten und stellte dafür eine Vergütung in Höhe von 1.947,32 EUR in Rechnung.

Die Klägerin verweigerte mit Schreiben vom 27.1.2020 aufgrund der Beauftragung eines nicht von ihr genannten Sachverständigen die Freistellung ihres Versicherungsnehmers V von der noch offenen Restforderung des Ingenieurbüros F. in Höhe von 1.447,32 EUR, sie zahlte lediglich 500,00 EUR. Der Versicherungsnehmer nahm daraufhin – vertreten durch den Beklagten – das Schadensabwicklungsunternehmen der Klägerin vor dem AG Zwickau auf Freistellung in Anspruch. Die Klage wurde abgewiesen und hiergegen durch den Beklagten für V Berufung eingelegt. Das LG Zwickau hat auf die Berufung des Versicherungsnehmers das Urteil des AG Zwickau abgeändert und das Schadensabwicklungsunternehmen zur Freistellung von weiteren 1.442,32 EUR Sachverständigenkosten verurteilt.

Nun verlangt die Klägerin Schadensersatz von dem Verteidiger wegen der Beauftragung des anderen Sachverständigen. Ohne Erfolg:

„Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen den Beklagten gemäß §§ 675, 280 BGB, 86 VVG.

1. Ein Anspruch der Klägerin aus übergegangenem Recht besteht bereits dem Grunde nach nicht.

Die Klägerin nimmt den Beklagten aus abgetretenem Recht (§ 86 VVG) in Anspruch, sodass es für die Beurteilung eines Anspruchs auf Schadensersatz auf das Verhältnis Versicherungsnehmer und dem Beklagten ankommt.

Der Beklagte ist danach zur Überzeugung des Gerichts dem Versicherungsnehmer nicht zum Schadensersatz verpflichtet. Ein solcher Anspruch besteht nicht, da zum einen keine Pflicht-verletzung des Beklagten gegen seine Beratungs- und Aufklärungspflichten gegenüber dem Versicherungsnehmer vorliegt (a.) und dem Versicherungsnehmer jedenfalls kein Schaden entstanden ist (b.).

a) Umfang und Inhalt der vertraglichen Pflichten des Rechtsanwalts richten sich nach dem jeweiligen Mandat und den Umständen des Einzelfalles. In diesen Grenzen ist der Rechtsanwalt zu einer umfassenden und möglichst erschöpfenden Belehrung des Auftraggebers verpflichtet. Er muss den Auftragsgeber die Entscheidungsgrundlagen mitteilen, nicht erforderlich ist eine umfassende rechtliche Analyse. Er muss ihn vor Irrtümer bewahren und der Rechtsanwalt hat dem Mandanten diejenigen Schritte anzuraten, die zum erstrebten Ziel führen sowie den Eintritt von Nachteilen oder Schäden zu verhindern, die voraussehbar und vermeidbar sind. Dazu hat er den Mandanten über die möglichen Risiken aufzuklären und im Interesse des Mandanten den sichersten Weg zu wählen (Grüneberg in: Grüneberg BGB, § 280 Rn. 66 ff.).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegt keine Pflichtverletzung durch den Beklagten vor. Eine solche ergibt sich zum einen nicht aus der anderweitigen Beauftragung des Ingenieurbüros pp. entgegen der erteilten Weisung der Klägerin im Schreiben vom 17.12.2019. Der Beklagte hat zwar unstreitig bewusst entgegen der mit Schreiben vom 17.12.2019 erteilten Weisung einen anderen Sachverständigen beauftragt. Diese Weisung war jedoch unwirksam. Nach § 82 Abs. 2 VVG hat der Versicherungsnehmer Weisungen des Versicherers, soweit für ihn zumutbar, zu befolgen sowie Weisungen einzuholen, wenn die Umstände dies gestatten.

In der Weisung im Schreiben vom 17.12.2019 kann zur Überzeugung des Gerichts jedoch keine Weisung gesehen werden, welche den Zumutbarkeitskriterien entspricht. Die Vorgabe eines konkreten Sachverständigen zur Einholung eines außergerichtlichen Gutachtens im Versicherungsfall, wie hier der pp. Sachverständigengesellschaft mbH & Co. KG, benachteiligt den Versicherungsnehmer unangemessen (Amtsgericht Paderborn, Urteil vom 16.06.2023, Az.: 51 C 175/22). Es handelt sich dabei um eine unzulässige Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten des Versicherungsnehmers, wenn diesem die Beauftragung eines konkreten Sachverständigen vorgegeben wird, ohne auch die Möglichkeit zu eröffnen, einen anderen Sachverständigen mit der Erstattung eines Gutachtens zu beauftragen. Grund hierfür ist, dass Sachverständige sich hinsichtlich Qualität und Brauchbarkeit der von ihnen erstatteten Gutachten unterscheiden. Welcher Sachverständige für das in Rede stehende Verfahren ein brauchbares Gutachten erstellt und damit die effektivsten Verteidigungsmöglichkeiten bietet, kann dabei ausschließlich der Versicherungsnehmer als Betroffener beziehungsweise der Verteidiger bewerten. Vorliegend führt der Beklagte plausibel an, dass er unter Berücksichtigung einer effektiven Rechtsverfolgung seine Bedenken gegen den angewiesenen Sachverständigen geäußert hat und zur ordnungsgemäßen Bearbeitung des Mandats, nachdem kein sachlicher Grund für die Auswahl durch die Klägerseite erklärt wurde, das Ingenieurbüro pp. beauftragt hat.

Aus dem Schreiben vom 17.12.2019 ist auch kein vernünftiger Grund dafür ersichtlich, dass der Versicherungsnehmer ausschließlich die pp. Sachverständigengesellschaft mbH & Co. KG mit der Erstattung eines Gutachtens hätte beauftragen müssen. Es hätte für den Fall, dass die Beauftragung der pp. Sachverständigengesellschaft mbH & Co. KG geringere Kosten zum Beispiel aufgrund einer Kostenvereinbarung hervorgerufen hätte, ein entsprechender Kostenrahmen in dem Schreiben offengelegt und im Rahmen der Weisung auf die entsprechende kostengünstigere Möglichkeit hingewiesen werden müssen. Eine solche offene Weisung ist nicht ersichtlich. Die Klägerin verweist in dem Schreiben vom 17.12.2019 allein auf den Sachverständigen ohne konkrete Begründung. Auch auf Nachfrage des Beklagten mit Schreiben vom 06.01.2020 (Anlage B 3) hat die Klägerseite keine Gründe für die Vorgabe des konkreten Sachverständigen genannt.

Auch die Beratung des Beklagten nach dem Schreiben vom 17.12.2019 und Schreiben vom 17.01.2020 (Anlage B 4), dass der Versicherungsnehmer seine Kosten auch bei Beauftragung eines anderen Sachverständigen erstattet erhält, stellt keine Pflichtverletzung gegenüber dem Versicherungsnehmer als Mandanten dar. Schlussendlich war die Beratung korrekt, da der Versicherungsnehmer durch gerichtliche Feststellung des Landgerichts Zwickau vom 24.03.2022, Az.: 6 S 91/21 die Erstattung/Freistellung von Kosten des vom Beklagten beauftragten Sachverständigen zugesprochen bekam, entsprechend der Beratung des Beklagten gegenüber dem Versicherungsnehmer der Klägerin, über eine Summe von 500,00 EUR hinaus.

Ein Blick auf § 5 Abs. 1 f. aa) ARB lässt keine anderweitige Beurteilung zu. Diese sind unstreitig Vertragsgegenstand. Die Klägerseite hat in dem Schreiben vom 17.12.2019 ausdrücklich auf die zwischen den Parteien bestehenden allgemeinen Versicherungsbedingungen hingewiesen. Aus diesen ergibt sich, dass die übliche Vergütung eines öffentlich bestellten technischen Sachverständigen oder einer rechtsfähigen technischen Sachverständigenorganisation in Fällen der Verteidigung in verkehrsrechtlichen Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren erstattet wird. Ausweislich der zur Akte gereichten landgerichtlichen Entscheidung vom 24.03.2022, Az.: 6 S 91/21 ist die Vergütung des tatsächlich durch den Beklagten beauftragten, öffentlich bestellten Sachverständigen als üblich und deshalb erstattungsfähig anzusehen.

b) Indem der Versicherungsnehmer der Klägerin schlussendlich auch die aus Sicht der Klägerin überhöhten Kosten für das Ingenieurbüro pp. von der Klägerin erstattet bekommen hat, liegt jedenfalls keine unfreiwillige Vermögenseinbuße des Versicherungsnehmers durch die Beauftragung des Ingenieurbüros pp. statt der pp. Sachverständigengesellschaft mbH & Co. KG und daraus entstandene (Mehr-)Kosten vor. Die Klägerin klagt aus übergegangenem Recht des Versicherungsnehmers, weshalb es auf dessen Rechtspositionen und -güter ankommt und nicht auf diese der Klägerin. Es überzeugt nicht, dass die Klägerin aus übergegangenem Recht des Versicherungsnehmers klagt, welcher die Kosten vollumfänglich erstattet bekam, jedoch mit Mehrkosten als Schaden argumentiert, welche allein in der Sphäre der Klägerin angefallen sind. Dem Versicherungsnehmer sind keine Mehrkosten durch die Beauftragung des Sachverständigen durch den Beklagten entgegen der klägerischen Weisung entstanden, da die Klägerin vollumfänglich einstandspflichtig war.

2. Jedenfalls ist ein Anspruch auf Schadensersatz des Versicherungsnehmers gegen den Beklagten nicht durchsetzbar, da er mit Ablauf des 31.12.2023 verjährt ist. ….“

Eine „schöne“ Entscheidung, mit der mal wieder (ähnlich das zitierte AG Paderborn, Urt. v. 16.6.2023 – 51 C 175/22) mit deutlichen Worten die vielfach anzutreffende Praxis der Rechtsschutzversicherungen, dem Versicherungsnehmer einen kostengünstigen Sachverständigen „aufzudrängen“ als unzulässig gerügt wird. Im Übrigen muss man darüber hinaus auch erst mal auf die Idee kommen, nach einem Unterliegen im Freistellungprozess dann den Verteidiger auf Schadensersatz in Anspruch nehmen zu wollen. Man fragt sich, was sich manche Rechtsschutzversicherungen denken.

OWi III: Abwesenheitsverhandlung im OWi-Verfahren, oder: Schriftliche (Vor)Erklärungen/Sacheinlassungen

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Und dann habe ich noch etwas Verfahrensrechtliches, nämlich den OLG Koblenz, Beschl. v. 06.10.2025 – 3 Orbs 4 SsRs 29/25 – zum Abwesenheitsverfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG. Nichts Dolles, aber immerhin 🙂 .

Der Betroffene ist mit Abwesenheitsurteil wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße verurteilt worden. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die beim OLG Erfolg hatte:

„Das statthafte (§§ 79 Abs. 1 Satz 2, 80 Abs. 1 OWG), form- und fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsmittel hat in der Sache einen jedenfalls vorläufigen Erfolg.

Vorliegend ist die Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) aufzuheben. Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist mit dem Vortrag, das Ausgangsgericht habe vor-terminliches Vorbringen des Verteidigers unberücksichtigt gelassen, mit den für eine Verfahrensrüge nach §§ 80 Abs. 3, 79 Abs. 3 OWG, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erforderlichen Angaben erhoben und auch in der Sache begründet. Die (zugelassene) Rechtsbeschwerde ist mit der Verletzung des rechtlichen Gehörs ihrerseits begründet.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu ausgeführt:

„Das Amtsgericht verfuhr vorliegend nach § 74 Abs. 1 OWiG, da ausweislich des Protokolls im Hauptverhandlungstermin vom 07.01.2025 weder der von seiner Verpflichtung zu persönlichem Erscheinen entbundene Betroffene noch sein Verteidiger erschienen waren. Wird das Abwesenheitsverfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG durchgeführt, so ist der wesentliche Inhalt früherer Vernehmungen des Betroffenen und seine schriftlichen oder protokollierten Erklärungen durch Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts oder durch Verlesung in die Hauptverhandlung einzuführen, § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG. Dadurch wird sichergestellt, dass zum Ausgleich für die weitgehende Durchbrechung des das Strafverfahren beherrschenden Mündlichkeitsprinzips alle wesentlichen Erklärungen, die der Betroffene in irgendeinem Stadium des Bußgeldverfahrens zu der gegen ihn erhobenen Beschuldigung abgegeben hat, bei der Entscheidung berücksichtigt werden (vgl. BayObLG, Beschluss vom 03.01.1996, Az. 2 ObOWi 911/95; OLG Celle, Beschluss vom 28.06.2016, 2 Ss (OWi) 125/16; jeweils bei juris). Die Verlesung bzw. Bekanntgabe gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung im Sinne des § 274 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG, deren Beobachtung nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (BayObLG, a.a.O., m.w.N.). Zu den früheren Vernehmungen des Betroffenen und seinen protokollierten und sonstigen Einlassungen gemäß § 74 Abs. 1 S. 2 OWiG gehören auch Sacheinlassungen des Verteidigers, jedenfalls dann, wenn dieser gemäß § 73 Abs. 3 OWG bevollmächtigt war (OLG Hamburg Beschl. v. 25.5.2023 — 6 ORbs 19/23, BeckRS 2023, 34942, beck-online)

Dass das als Beweisanregung zu verstehende Vorbringen des Betroffenen hinsichtlich des Ergebnisses des von ihm eingebrachten privaten Sachverständigengutachtens sowie der im Schriftsatz enthaltene weitere Vortrag des fehlerhaft um 1 km/h zu gering erfolgten Toleranzabzuges der Geschwindigkeitsmessung nicht in die Hauptverhandlung eingebracht wurde, ergibt sich aus dem Schweigen des Protokolls hierüber. Das Amtsgericht hätte sich jedenfalls in den Urteilsgründen mit dem Vorbringen auseinandersetzen und in einer für das Rechtsbeschwerdegericht nachprüfbaren Weise begründen müssen, weshalb es eine weitere Aufklärung nicht für erforderlich erachtet hat und wie der Vortrag zum fehlerhaften Toleranzabzug bewertet wird. Hierzu wird im angefochtenen Urteil jedoch nichts ausgeführt. So wird der Einwand, es könnte zu einem Übertragungsfehler gekommen sein, nicht angesprochen. Vielmehr geht das Amtsgericht im Urteil trotz der dem Rügevorbringen zu entnehmenden klaren Sachlage hinsichtlich des fehlerhaften Toleranzabzuges und auch der vom Gericht erfolgten Nachermittlungen weiterhin von Geschwindigkeitsüberschreitung von 36 km/h aus, die aus einem fehlerhaftem Toleranzabzug von nur 4 km/h resultiert.

Durch diese Verfahrensweise dürfte dem Betroffenen rechtliches Gehör versagt worden sein.

Das Gebot des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die erlassene Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet daher das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BayObLG, a.a.O., m.w.N.). Der Umstand, dass das Amtsgericht ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung die Beweisanregungen und Einwendungen des Betroffenen weder in die Hauptverhandlung eingeführt noch in den Urteilsgründen sich mit ihm auseinandergesetzt hat, insbesondere im Urteil von einem fehlerhaften Toleranzabzug ausgeht, lässt besorgen, dass es bei seiner Entscheidung die Ausführungen des Verteidigers insoweit nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen hat. Damit dürfte der Tatrichter das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verkürzt haben.“

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Einzelrichter des Senats nach eigener Prüfung an.

Das Urteil beruht auch auf der Verletzung rechtlichen Gehörs. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Bußgeldrichter unter Berücksichtigung des Vortrags des Betroffenen zu einer anderen Entscheidung gelangt, insbesondere etwa weitere Beweiserhebungen durchgeführt hätte (vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 25.05.2023 – 6 ORbs 19/23, juris). Das angefochtene Urteil ist daher mit den getroffenen Feststellungen aufzuheben und die Sache gemäß § 79 Abs. 6 OWiG zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Simmern/Hunsrück zurückzuverweisen.“

OWi II: Berufung auf die sog. Medikamentenklausel, oder: „Zoom-Rezept“/“Cannabis-Ausweis“ reichen nicht

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Im zweiten Posting berichte ich über AG Hamburg-Wandsbek, Urt. v. 24.09.2025 – 726b OWi 58/25.

Das AG hat festgestellt, dass der Betroffene am 08.04.2025 um 02:40 ein Fahrzeug mit einer Konzentration von mindestens 12 ng/ml Tetrahydrocannabinol im Blut geführt hat. Der Betroffene hatte eingeräumt, am Abend vor dem Tatzeitpunkt gegen 23:00 Uhr Cannabis in Form eines Joints konsumiert zu haben. Der Betroffene hat sich weiter darauf berufen, über eine ärztliche Erlaubnis zum medizinischen Konsum von Cannabis zu verfügen. Hierzu hat er den Ausdruck eines Privatrezepts der Ärztin B. aus L. vom 09.04.2025 sowie Fotos eines „Cannabis-Ausweises“ des Arztes M. aus B. vor, die in Augenschein genommen wurden, vorgelegt. Im „Cannabis-Ausweis“ heißt es: „Der/Die Ausweisinhaber/in erhält wegen seiner/ihrer Erkrankung eine ärztlich verordnete Behandlung mit einem Cannabis-basierten Medikament […]; Bakerstreet: 0,25-0,3g pro Mal abends; Bedrocan: bis 0,5g 2 Mal täglich tagsüber“. Der Betroffene hat angegeben, keinen persönlichen Kontakt zum verschreibenden Arzt gehabt zu haben. Er habe lediglich Kontakt mittels Internet-Chat und via Videotelefonat (Zoom) gehabt.

Das AG ist der Berufung auf die sog. Medikamentenklausel des § 24a Abs. 4 StVG nicht gefolgt:

„2. Die „Medikamentenklausel“ des § 24a Abs. 4 StVG, die auch die fahrlässige Begehungsweise der Tat ausschließt (OLG Zweibrücken, NStZ 2024, 371, Ls.), steht der Verurteilung des Betroffenen nicht entgegen.

a) Gemäß § 24a Abs. 4 StVG ist Abs. 1a nicht anzuwenden, wenn die betreffende Substanz aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt. Wegen des mit dem Ausnahmetatbestand einhergehenden Missbrauchspotenzials (vgl. OLG Oldenburg DAR 2023 584, 585; König, NJW-Sonderbeil. 2025, 77, 81; ders., DAR 2019, 362, 369; Maatz, BA 2018, Sup I – 30 ff.; Hentschel/König/König, § 24a StVG Rn. 22) sind seine Voraussetzungen im Einzelfall restriktiv auszulegen und sorgfältig zu prüfen.

Zunächst erfordert § 24a Abs. 4 StVG die bestimmungsgemäße Einnahme der betreffenden Substanz. Bestimmungsgemäß ist die Einnahme, wenn sie sich im Rahmen der verschriebenen Dosieranleitung hält und die Grenze zum Missbrauch nicht überschreitet (OLG Bamberg DAR 2019, 390, 391; KG BeckRS 2016, 2821 Rn. 8; Hentschel/König/König, § 24a StVG Rn. 22c). Der Inhalt des hierfür maßgeblichen Cannabinoidausweises des Betroffenen ist – sofern keine zulässige Bezugnahme erfolgt – im Wortlaut in den Urteilsgründen wiederzugeben (OLG Koblenz BeckRS 2022, 8932 Ls. 1).

Weiter erfordert § 24a Abs. 4 StVG das Vorliegen einer Verschreibung. Der Begriff in § 24a Abs. 4 StVG nimmt erkennbaren Bezug auf § 3 MedCanG, nach dessen Abs. 1 Satz 3 sich der notwendige Inhalt einer Verschreibung nach den §§ 2 und 4 der Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) richtet (vgl. Patzak/Fabricius/Patzak, BtMG, § 3 MedCanG Rn. 2). Der notwendige Inhalt einer Verschreibung gemäß § 2 Abs. 1 AMVV umfasst neben Angaben zur Person des Verschreibenden (Nr. 1) und der Person, für die das Arzneimittel bestimmt ist (Nr. 3) das Datum der Ausfertigung (Nr. 2), ihre Gültigkeitsdauer (Nr. 8) sowie die abzugebende Menge des verschriebenen Arzneimittels (Nr. 6). Keiner weiteren Begründung bedarf der Umstand, dass das Datum der Verschreibung zeitlich vor der potenziell nach § 24a Abs. 1a StVG ordnungswidrigen Tat liegen und die Verschreibung zu diesem Zeitpunkt noch gültig sein muss.

Die Verschreibung muss zur Behandlung eines konkreten Krankheitsfalls erfolgt sein, § 24a Abs. 4 StVG (Hentschel/König/König, § 24a StVG Rn. 22b). Das Tatbestandsmerkmal verdeutlicht, dass eine Verschreibung im Sinne der Vorschrift keinesfalls pauschal oder generalklauselartig erfolgen darf. Vorausgesetzt wird vielmehr eine sorgfältige Anamnese, die in der Regel das persönliche Erscheinen des Betroffenen vor dem verschreibenden Arzt erfordert (siehe auch OLG Oldenburg DAR 2023, 584, 585 mit Verweis auf BGHSt 6, 90). Für eine solche Auslegung spricht auch die am 08.10.2025 von der Bundesregierung beschlossene Klarstellung in § 3 MedCanG-E, wonach die Verschreibung von medizinischem Cannabis den persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patienten erfordert und dieser persönliche Kontakt zur Fortdauer der Verschreibung wenigstens jährlich erfolgen muss (vgl. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/C/MedCanG_Kabinett.pdf, S. 3)

b) Die Verschreibung der Ärztin B. vermag unabhängig davon, ob sie den Anforderungen der §§ 24a Abs. 4 StVG, § 3 Abs. 1 Satz 3 MedCanG, § 2 Abs. 1 AMVV genügt, bereits deshalb den Ausnahmetatbestand des § 24a Abs. 4 StVG nicht zu erfüllen, da sie auf den 09.04.2025 – einen Tag nach der hier in Frage stehenden Tat – datiert.

c) Geht man davon aus, dass ein Joint etwa 0,2-0,4g Cannabis enthält, hielt sich der Betroffene durch den Konsum eines Joints um 23:00 Uhr im Rahmen der im „Cannabis-Ausweis“ vorgeschriebenen Dosieranleitung („0,25-0,3g abends“), sodass eine bestimmungsgemäße Einnahme im Sinne von § 24a Abs. 4 StVG vorliegt.

Allerdings handelt es sich beim in Augenschein genommenen „Cannabis-Ausweis“ schon nicht um eine Verschreibung im Sinne des § 24a Abs. 4 StVG i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 3 MedCanG i.V.m. § 2 Abs. 1 AMVV. Das Dokument lässt weder ein Ausfertigungsdatum (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 AMVV) noch eine Gültigkeitsdauer (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 AMVV) erkennen. Es enthält ferner keine Gesamtmenge verschriebenen Cannabis (§ 2 Abs. 1 Nr. 6 AMVV), die gemeinsam mit den Dosierungshinweisen Aufschluss über die notwendige Dauer der Behandlung geben könnte. Weder für die Cannabis ausgebende Stelle noch für das überprüfende Gericht sind Anhaltspunkte ersichtlich, ob der „Cannabis-Ausweis“ schon bzw. noch gültig ist, über welchen Zeitraum eine Therapie erfolgt und ob eine regelmäßige Evaluation des Therapiefortschritts und der weiteren Erforderlichkeit des medizinischen Cannabiskonsums stattfindet. Höchstens handelt es sich bei dem „Cannabis-Ausweis“ um einen sog. Patientenausweis, der für sich allein genommen den Anforderungen des § 24a Abs. 4 StVG nicht zu genügen vermag (vgl. zur begrifflichen Unterscheidung zwischen Verschreibung und Patientenausweis auch BayVGH SVR 2019, 272, 273).

Auch fehlt es bei dem „Cannabis-Ausweis“ an der gemäß § 24a Abs. 4 StVG erforderlichen Bezugnahme auf einen konkreten Krankheitsfall. Dies folgt einerseits erneut aus der fehlenden zeitlichen Eingrenzung, die die Feststellung einer Bezugnahme auf einen konkreten Krankheitsfall des Betroffenen unmöglich macht. Ferner vermag der unter III. wiedergegebene bloße Verweis auf eine „Erkrankung“, wobei dem konkreten Krankheitsbild des Betroffenen nicht einmal im Hinblick auf dessen Geschlecht, geschweige denn in sonst individualisierter Weise Rechnung getragen wird, den Anforderungen des § 24a Abs. 4 StVG an die Konkretheit des Krankheitsbilds nicht zu genügen. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass es sich beim „Cannabis-Ausweis“ des Arztes M. gerade um eine solche generalklauselartig-pauschale ärztliche Erlaubnis („Freifahrtschein“) handelt, denen der Gesetzgeber mit der Aufnahme des Tatbestandsmerkmals des konkreten Krankheitsfalls in § 24a Abs. 4 StVG vorbeugen wollte.

Zuletzt fehlt es an dem zur Diagnose eines konkreten, mittels Cannabis therapierbaren Krankheitsfalls regelmäßig erforderlichen persönlichen Kontakt des Betroffenen zum verschreibenden Arzt. Der Betroffene hatte Kontakt zum verschreibenden Arzt lediglich via Internet-Chat und Videotelefonat (Zoom). Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, warum ein möglicher konkreter Krankheitsfall des Betroffenen im Sinne von § 24a Abs. 4 StVG ausnahmsweise ohne persönliche körperliche Untersuchung durch den verschreibenden Arzt diagnostiziert werden konnte.“

OWi I: Messung mit Messgerät „LTI 20+/20 Tru Speed“, oder: (Derzeit) unverwertbar wegen „Abgleiteffekt“

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Und dann – man glaubt es kaum – heute – zur Eröffnung der Karnevalssaison 🙂 – gibt es mal wieder OWi-Entscheidungen. Ich habe tatsächlich drei Stück „gesammelt“, über die ich berichten kann.

Ich beginne mit dem AG Singen, Urt. v. 13.10.2025 – 6 OWi 51 Js 30287/24. Dem Betroffenen wurde in dem Verfahren durch den zugrunde liegenden Bußgeldbescheid zur Last gelegt, am 15.06.2024 um 16:19 Uhr eine PKW geführt und dabei überschritt die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 26 km/h überschritten zu haben. Zulässige Geschwindigkeit: 70 km/h. Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 96 km/h.

Demgegenüber hat das AG nur folgenden Sachverhalt festgestellt: Der Betroffene führte am 15.06.2024 um 16:29 Uhr zwar den im Bußgeldbescheid genannten PKW. Das Messgerät zeigte eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 26 km/h an. Dass der Betroffene die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 26 km/h tatsächlich überschritten hat, konnte das AG jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen. Es hat den Betroffenen frei gesprochen.

Gemessen worden war mit einem Messgerät „LTI 20/20 Tru Speed“. Das AG geht von derzeitiger Unverwertbarkeit des Messergebnisses aus. Ich verweise wegen der (technischen) Einzelheiten auf den Volltext. Hier stelle ich nur die Leitsätze ein, und zwar:

1. Bei dem Einsatz des Messgeräts „LTI 20/20 Tru Speed“ handelt es sich (derzeit) nicht um ein standardisiertes Messverfahren.

2. Es kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass es beim Messgerät „LTI 20/20 Tru Speed“, selbst bei Einhaltung der Vorgaben der nachgeschärften Gebrauchsanweisung (Stand 30.07.2024), zu unzulässigen Messwertverfälschungen im Zusammenhang mit dem „Abgleiteffekt“ kommen kann.

3. Die von der PTB selbst aufgestellte Anforderung hinsichtlich der Verwendung von Laserhandmessgeräten ist beim Messgerät „LTI 20/20 TruSpeed“ (derzeit) nicht erfüllt.

Mal sehen, ob das Urteil Bestand hat.

Verkehrsrecht II: Unerlaubten Entfernen vom Unfallort, oder: Versuchte Tötung durch Unterlassen übersehen

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Und als zweite Entscheidung dann das BGH-Urteil v. 28.08.2025 – 4 StR 476/24. Das LG hat den Angeklagten (nur) wegen fahrlässiger Tötung und unerlaubtem Entfernen vom Unfallort verurteilt. Dagegen die Revision der Staatsanwaltschaft, die die unterbliebene Verurteilung des Angeklagten wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts. Ich beschränke mich hier auf den zweiten festgestellten Tatkomplex.

Auszugehen ist insoweit von folgendem Sachverhalt: Bei einer vom Angeklagten verursachten  Kollision mit dem Pkw des Geschädigten lösten in dem vom Angeklagten bewegten Pkw Opel Zafira die Kopf- und Seitenairbags auf der Beifahrerseite aus. Der Angeklagte brachte das Fahrzeug dann auf einem Ausfädelungsstreifen der nächsten Anschlussstelle etwa 200 Meter hinter der Durchbruchstelle zum Stillstand. Er ging auf dem Ausfädelungsstreifen circa 50 Meter in Richtung des Kollisionsortes zurück, von wo aus er eine eschädigte Außenleitplanke nicht sehen konnte. Er erkannte allerdings, dass es zu einem Anstoß gegen das andere Fahrzeug gekommen war und auch dieses erheblich beschädigt sein musste. Um 5.36 Uhr rief der Angeklagte seinen Chef an und teilte ihm mit, dass er einen Unfall gehabt habe. Der andere sei aber wohl weg- bzw. weitergefahren; ein kleiner Peugeot sei gegen seinen Pkw gefahren. Als der Vorgesetzte des Angeklagten gegen 6.30 Uhr an der Unfallstelle eintraf, hatte der Angeklagte – ohne Melde-, Hilfs- oder Rettungsmaßnahmen vorgenommen oder eingeleitet zu haben – seine Fahrt bereits fortgesetzt und war in seine Unterkunft gefahren. Um 6.59 Uhr schrieb er seinem Vorgesetzten per WhatsApp: „Das Problem, Boss, ist, dass er mir reingefahren ist, und ich hätte jetzt tot sein können.“

„2. Der Schuldspruch im Fall II. 2. der Urteilsgründe, der keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist (§ 301 StPO), hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Landgericht hat rechtsfehlerhaft zugunsten des Angeklagten gegen die ihm obliegende allseitige Kognitionspflicht (§ 264 StPO) verstoßen.

a) Das Landgericht hat den festgestellten Sachverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft. Die gerichtliche Kognitionspflicht gebietet, dass der – durch die zugelassene Anklage abgegrenzte – Prozessstoff durch die vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 14. März 2024 – 4 StR 354/23 Rn. 26 mwN; Urteil vom 29. Oktober 2009 – 4 StR 239/09 Rn. 6). Der Unrechtsgehalt der Tat ist ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrundeliegende Bewertung auszuschöpfen (vgl. § 264 Abs. 2 StPO), soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen (vgl. BGH, Urteil vom 27. Juni 2013 – 3 StR 113/13 Rn. 4; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl., § 264 Rn. 27 ff.).

Dies hat die Strafkammer unterlassen. Die getroffenen Feststellungen hätten ihr Anlass zur Prüfung geben müssen, ob der Angeklagte tateinheitlich zum unerlaubten Entfernen vom Unfallort auch versuchter Tötungsdelikte zum Nachteil der Insassen des Pkw VW Phaeton schuldig ist.

b) Der Tatbestand eines versuchten Delikts verlangt in subjektiver Hinsicht das Vorliegen einer vorsatzgleichen Vorstellung, die sich auf alle Umstände des äußeren Tatbestands bezieht (Tatentschluss; vgl. BGH, Urteil vom 10. September 2015 ‒ 4 StR 151/15 Rn. 13). Bei einem durch Unterlassen verwirklichten Tötungsdelikt müssen daher neben der Garantenpflicht, der Untätigkeit, der physisch-realen Handlungsmöglichkeit und dem zumindest möglichen Eintritt des Todeserfolges auch diejenigen Umstände Gegenstand dieser Vorstellung sein, die die Annahme einer hypothetischen Kausalität möglicher Rettungshandlungen (und die objektive Zurechnung des Erfolges) begründen. Hinsichtlich der hypothetischen Kausalität genügt bedingter Vorsatz; er liegt vor, wenn der Täter mit der Möglichkeit rechnet, sein Eingreifen könne den tatbestandlichen Erfolg abwenden (vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 2022 – 4 StR 200/21 Rn. 10; Urteil vom 29. September 2021 ‒ 2 StR 491/20 Rn. 22; Urteil vom 4. August 2021 ‒ 2 StR 178/20 Rn. 21; Urteil vom 19. August 2020 ‒ 1 StR 474/19 Rn. 16; Urteil vom 29. Juni 2016 ‒ 2 StR 588/15 Rn. 23).

Nach diesen Maßgaben hätte die Strafkammer im zweiten Tatkomplex eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen versuchter Tötungsdelikte prüfen müssen. Die Strafkammer hat festgestellt, dass der Angeklagte den Anstoß gegen das Fahrzeug des Geschädigten bemerkte, das sich nicht mehr in seinem Sichtbereich befand. Dass das gegnerische Fahrzeug in der Vorstellung des Angeklagten die Ausfahrt genommen haben könnte, hat das Landgericht bei der Würdigung seiner Einlassung angesichts seines Sichtfeldes selbst verneint. Im nicht aufgelösten Widerspruch hierzu nimmt die Strafkammer nunmehr an, der Angeklagte sei nicht notwendig davon ausgegangen, der Unfallgegner müsse sich noch am Unfallort befinden. Angesichts der zuvor genannten Umstände hätte sich das Landgericht vielmehr gedrängt sehen müssen zu erörtern, welche Vorstellungen des Angeklagten im Hinblick auf etwaige eingetretene Verletzungsfolgen für den Fahrzeugführer und mögliche weitere Insassen mit dem „Verschwinden“ des gegnerischen Fahrzeugs von der Autobahn nach einer Kollision bei einer Geschwindigkeit von immerhin mindestens 110 km/h verbunden waren. Dies wird hier zudem dadurch nahegelegt, dass der Angeklagte 50 Meter in Richtung des Kollisionsortes zurückging und eine WhatsApp-Nachricht an seinen Vorgesetzten über den möglichen eigenen Tod verfasste.

Eine solche Erörterung war nicht deshalb entbehrlich, weil die Strafkammer den Tötungsvorsatz des Angeklagten bei dessen Fahrmanöver selbst rechtsfehlerfrei verneint hat. Denn nach der stattgehabten Kollision und seinem Anhalten bot sich ihm eine neue Situation, die Anlass für ein gewandeltes Vorstellungsbild gewesen sein könnte. Hätte der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt ein Versterben der Geschädigten sowie ihre Rettung bei einem von ihm abgesetzten Notruf mit seinem Mobiltelefon (ggf. unter Einschaltung seines der deutschen Sprache mächtigen Chefs) auch nur für möglich gehalten, kommt aufgrund des pflichtwidrigen Vorverhaltens und der damit verbundenen Garantenstellung aus Ingerenz die Verwirklichung (untauglicher) versuchter Tötungsdelikte in Betracht.“