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OWI II: Verletzung des rechtlichen Gehörs bei „OWis“, oder: Hilfsbeweis, (rechtzeitiger) Entbindungsantrag

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Im zweiten Posting habe ich hier dann vier Entscheidungen zur Verletzung des rechtlichen Gehörs, darunter (natürlich) auch drei, die sich mit „Entbindungsfragen“ (§§ 73, 74 OWiG) befassen. Ich stelle hier dann aber nur die Leitsätze vor, und zwar.

Von einer Versagung des rechtlichen Gehörs kann regelmäßig nur ausgegangen werden, wenn der Betroffene erfolglos alle ihm nach der konkreten Verfahrenslage zu Gebote stehenden prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, sich Gehör zu verschaffen. Hierzu gehört namentlich auch die Stellung von (Hilfs-)Beweisanträgen.

Bleibt der Betroffene trotz ordnungsgemäßer Ladung der Hauptverhandlung fern und wird daraufhin sein Einspruch durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, kann die Einspruchsverwerfung das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzen, wenn rechtzeitig vorgebrachte und hinreichende Entschuldigungsgründe von dem erkennenden Gericht nicht berücksichtigt worden sind. Dabei kommt es nicht darauf an, dass sich der Betroffene genügend entschuldigt hat. Vielmehr genügt es, dass eine beim Vorhandensein von Anhaltspunkten von Amts wegen vorzunehmende Prüfung ergibt, dass das Fernbleiben des Betroffenen genügend entschuldigt ist.

    1. Zur Fortgeltung eines noch nicht beschiedenen Entbindungsantrages bei Verlegung der Hauptverhandlung (Fortführung von BGH StraFo 2024, 110)
    2. Zu rechtsmissbräuchlichem Verteidigerhandeln im Zusammenhang mit dem (Nicht-)Stellen eines Entbindungsantrages.
    3. Der Senat geht davon aus, dass die Entscheidung des BGH StraFo 2024, 110 so zu verstehen ist, dass auch ein nicht beschiedener Entbindungsantrag bei einer Terminverlegung fortwirkt.

Befindet sich der drei Tage vor einem Hauptverhandlungstermin per beA übermittelten Entbindungsantrag zwar erst am Ende eines mehrseitigen Schriftsatzes, wird aber auf der ersten Seite des Schriftsatzes auf den Gerichtstermin mit dem Zusatz „EILT SEHR !“ hingewiesen, kann der Betroffene von der Berücksichtigung seines Antrags ausgehen.

Und zu den Fragen steht dann eine ganze Menge in <<Werbemodus an>> Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 7. Aufl. 2024, das jetzt gerade neu erschienen ist und hier bestellt werden kann. <<Werbemodus aus>>.

StPO II: Unentschuldigtes Ausbleiben in Berufungs-HV, oder: Das 1 x 1 der Revisionsbegründung

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Und dann stelle ich als zweite Entscheidung den BayObLG, Beschl. v. 05.04.2023 – 203 StRR 95/23 – vor. Es geht um die ausreichende Begründung der Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) in den Fällen der Berufungsverwerfung des Angeklagten (§ 329 Abs. 1 StPO) wegen unentschuldigten Ausbleibens im HV-Termin.

Hier hatte der Angeklagte als Entschuldigungwohl eine Erkrankung geltend gemacht. Aber nicht ausreichend, denn seine Revision hatte keinen Erfolg:

„I. Die Verfahrensrüge der Verletzung von § 329 StPO erweist sich als unzulässig.

1. Die Verwerfung der Berufung nach § 329 StPO in der Berufungsinstanz setzt voraus, dass das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt ist. Dabei kommt es nicht darauf an, dass sich der Angeklagte selbst entschuldigt hat. Es genügt vielmehr, dass eine beim Vorhandensein von Anhaltspunkten von Amts wegen vorzunehmende Prüfung ergibt, dass das Fernbleiben des Angeklagten genügend entschuldigt ist (BGHSt 17, 391 zitiert nach juris Rn. 15; KK-Paul, 9. Aufl., § 329 Rn. 7 ff., 14 m.w.N.). Liegen in der Berufungshauptverhandlung Anhaltspunkte für einen Entschuldigungsgrund vor, hat das Gericht im Freibeweis zu prüfen, ob er zutrifft (BGHSt 17, 391; BayObLG, Beschluss vom 31. März 2020 – 202 StRR 29/20 –, juris Rn. 9; BayObLG, Beschluss vom 12. September 2000 – 5 StRR 259/00 –, juris Rn. 9) und das Ergebnis der Abklärung im Urteil darzulegen. Etwa vorgebrachte Entschuldigungsgründe und sonstige als Entschuldigung in Betracht kommende Tatsachen müssen in den Urteilsgründen wiedergegeben und gewürdigt werden (OLG Dresden, Beschluss vom 31. Januar 2019 – 2 OLG 22 Ss 699/18 –, juris Rn. 7; OLG Hamm, Beschluss vom 26. Februar 1999 – 2 Ss 121/99 –, juris Rn. 15 m.w.N.). Das folgt schon daraus, dass das Revisionsgericht bei der Prüfung der Frage, ob das Berufungsgericht die in § 329 StPO enthaltenen Rechtsbegriffe verkannt hat, an die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Verwerfungsurteil gebunden ist. Es darf sie weder in Frage stellen noch im Freibeweisverfahren ergänzen (BGHSt 28, 384).

Eine Erkrankung entschuldigt das Ausbleiben des Angeklagten bereits dann, wenn ihm nach der Art und den Auswirkungen seiner Krankheit die Fahrt zum Verhandlungsort und die Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht zumutbar sind; des Nachweises einer Verhandlungsunfähigkeit bedarf es nicht (BayObLG, Beschluss vom 31. März 2020 – 202 StRR 29/20 –, juris Rn. 8; BayObLG, Beschluss vom 6. November 2002 – 5 StRR 279/02 –, juris Rn. 5; OLG München, Beschluss vom 27. Juni 2017 – 5 OLG 15 Ss 173/17 –, juris Rn. 13 m.w.N.; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 10. Januar 2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 586/21 –, juris Rn. 17 m.w.N. zu § 74 Abs. 2 OWiG; KK-Paul a.a.O. Rn. 10 m.w.N.).

Ein ärztliches Attest, das ohne Diagnose lediglich eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, wäre in der Berufungshauptverhandlung nicht ungeeignet, einen Anhalt für eine Entschuldigung zu erbringen (OLG München, Beschluss vom 27. Juni 2017 – 5 OLG 15 Ss 173/17 –, juris Rn. 16; OLG Bamberg, Beschluss vom 6. März 2013 – 3 Ss 20/13 –, juris Rn. 10; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 30. Januar 2007 – 1 Ss 372/06 –, juris Rn. 12 zu § 74 Abs. 2 OWiG; KK-Paul a.a.O. Rn. 9). Auch könnte bereits die bloße Mitteilung der Erkrankung im Einzelfall die gerichtliche Aufklärungspflicht auslösen (OLG Dresden, Beschluss vom 31. Januar 2019 – 2 OLG 22 Ss 699/18 –, juris Rn. 10; OLG Bamberg, Beschluss vom 6. März 2013 – 3 Ss 20/13 –, juris Rn. 9).

2. In der Revision hingegen ist die Frage, ob der Angeklagte unentschuldigt im Sinne von § 329 StPO gefehlt hat, so dass das Gericht seine Berufung ohne weiteres verwerfen durfte, also ob der Tatrichter den Begriff der Entschuldigung zutreffend angewandt oder verkannt hat und ob er der Art und den Auswirkungen der Erkrankung weiter nachgehen musste, nicht von Amts wegen zu prüfen, sondern nur auf eine zulässig erhobene Verfahrensrüge (BayObLG, Urteil vom 25. Oktober 2022 – 206 StRR 286/22 –, juris, Rn. 8 m.w.N.; BGHSt 17, 391 zitiert nach juris Rn. 15; KK-Paul, a.a.O. Rn. 7 ff., 14 m.w.N.). Da dem Revisionsgericht eigene Feststellungen verwehrt sind, ist grundsätzlich erforderlich, alle den Verfahrensverstoß begründenden Tatsachen gemäß § 344 Abs. 2 StPO so vollständig und genau mitzuteilen, dass das Revisionsgericht allein aufgrund der Rechtfertigungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen werden (st. Rspr. vgl. Nachweise bei KK-Gericke a.a.O. § 344 Rn. 39; Gössel in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 329 Rn. 95; Quentin in MüKoStPO, 1. Aufl. 2016, § 329 Rn. 100 ff.). Danach gilt:

Will die Revision im Falle einer Erkrankung des Angeklagten eine unrichtige Beurteilung der Entschuldigung geltend machen, hat sie den Entschuldigungsgrund der Erkrankung so hinreichend darzulegen, dass dem Revisionsgericht allein aufgrund des Vorbringens die Bewertung einer Krankheit als Entschuldigungsgrund ermöglicht wird. Dazu ist die Art der Erkrankung unter Angabe der Symptomatik in der Rechtfertigungsschrift detailliert darzustellen (BayObLG, Urteil vom 25. Oktober 2022 – 206 StRR 286/22 –, juris Rn. 11; OLG Hamm, Beschluss vom 23. August 2012 – III-3 RBs 170/12 –, juris Rn. 13 zu § 74 Abs. 2 OWiG; im Erg. auch KG Berlin, Beschluss vom 20. Februar 2002 – (4) 1 Ss 31/02 (15/02) –, juris Rn. 3). Ein Vortrag zur Erkrankung in einer gesonderten Begründung eines Wiedereinsetzungsantrags genügt, wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausführt, diesen Vorgaben nicht. Der Inhalt der erst nach dem Erlass des landgerichtlichen Verwerfungsurteils im weiteren Verlauf des Verfahrens im Rahmen des Begründungsschriftsatzes zum Wiedereinsetzungsantrag vorgelegten ärztlichen Bescheinigung vom 12. Dezember 2022 hat daher in der Revision außer Betracht zu bleiben (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 14. Januar 2009 – 2 Ss OWi 1623/08 –, juris Rn. 17 zur Rechtsbeschwerde).

Will die Revision die Verletzung der Aufklärungspflicht rügen und beanstanden, dass das Berufungsgericht trotz vorliegender Anhaltspunkte für einen bestimmten Entschuldigungssachverhalt diesem nicht in dem gebotenen Maße nachgegangen ist und die Aufklärung das Vorliegen eines genügenden Entschuldigungsgrundes ergeben hätte, ist  darzulegen, welcher konkrete Umstand aufgeklärt werden sollte, welches Beweismittel benutzt werden sollte, warum sich diese Aufklärung aufdrängte und was sie zugunsten des Beschwerdeführers ergeben hätte (Schlothauer/Weider/Wollschläger, Verteidigung im Revisionsverfahren, 3. Aufl. 2018, 3. Rn. 2377; Gössel a.a.O. § 329 Rn. 95).

3. Die Verfahrensrüge, die sich hier darauf beschränkt, das Landgericht hätte die Berufung des Angeklagten trotz seines Ausbleibens im Termin zur Berufungshauptverhandlung nicht nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verwerfen dürfen, genügt diesen Anforderungen nicht. Denn der Angeklagte behauptet zwar eine Verhandlungsunfähigkeit, legt zur Begründung seines Rechtsmittels jedoch lediglich eine nachträglich beigebrachte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit der Diagnose G 43.9 vor. Der Revisionsschrift lässt sich weder das genaue Ausmaß der körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung entnehmen noch behauptet der Beschwerdeführer, dass dem Tatrichter am Tage der Hauptverhandlung eine Anknüpfungstatsache für eine Klärung des Zustands des Angeklagten zur Verfügung gestanden hätte (vgl. KK-Paul a.a.O. Rn. 9; KG Berlin, Beschluss vom 20. Februar 2002 – (4) 1 Ss 31/02 (15/02) –, juris). Auf welcher Grundlage der Tatrichter den Begriff der Entschuldigung verkannt haben könnte, erschließt sich aus dem Vortrag daher nicht. Dem Senat ist damit die Prüfung, ob die Fahrt zum Verhandlungsort und die Teilnahme an der Hauptverhandlung nach der Art und den Auswirkungen der Krankheit nicht zumutbar waren, nicht eröffnet.“

Ziemlich viel, was das BayObLG da schreibt. Aber: Es fasst damit noch einmal schon zusammen, auf was es ankommt. Das ist/war allerdings nichts Neues. So dass mich – mal wieder – wundert, dass der Verteidiger diese Vorgaben nicht präsent hatte. Das ist nun wirklich das 1 x 1 bei der Verfahrensrüge.

OWi II: Nach Wiedereinsetzung startet Verjährung neu, oder: Ausreichende Entschuldigungsgründe dargetan?

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Und dann als zweite Entscheidung der BayObLG, Beschl. v. 28.03.2023 – 202 ObOWi 314/23. Ergangen ist erin einem Verfahren, in dem dem Betroffenen ein Abstandsvertsoß zur Last gelegt worden ist. Das AG hat dann Hauptverhandlung anberaumt, nachdem der Betroffene Einspruch gegen den Bußgeldberscheid eingelegt hatte. Als der Betroffene in der Hauptverhandlung nicht erschienen ist, hat es den Einspruch gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die Erfolg hatte. Erfolg allerdings nicht wegen Eintritts der Verfolgsverjärung, was auch die GStA München angenommen hatte, sondern wegen nicht ausreichender Urteilsgründe:

„1. Eine Einstellung des Verfahrens kommt nicht in Betracht, weil das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung nicht eingetreten ist.

a) Die Verjährungsfrist betrug zunächst 3 Monate (§ 26 Abs. 3 Satz 1 StVG) und begann mit Beendigung der Handlung (§ 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG), hier also am 18.06.2020. Die Verjährung wurde jedenfalls durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020, der dem Betroffenen am 17.09.2020 zugestellt wurde, unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG), sodass ab diesem Zeitpunkt die Verjährungsfrist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG 6 Monate betrug.

b) Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft wurde die 6-monatige Verjährungsfrist durch den Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 rechtzeitig unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

aa) Zwar lagen zwischen der vorhergehenden Unterbrechungshandlung durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020 und dem Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 mehr als 6 Monate.

bb) Gleichwohl war die Verjährungsfrist zum letztgenannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen. Denn die durch die Zentrale Bußgeldstelle am 24.11.2020 bewilligte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist hatte zur Folge, dass die Verjährungsfrist neu zu laufen begann (vgl. BayObLG, Beschl. v. 16.03.2004 – 2 ObOWi 7/2004 = BayObLGSt 2004, 33 = DAR 2004, 281 = VRS 106, 452 [2004]; Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 = BayObLGSt 1953, 179; OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.01.1978 – 1 Ws (B) 36/78 OWiG = BeckRS 2014, 21126; KG, Beschl. v. 04.04.2017 – 3 Ws (B) 43/17 = StraFo 2017, 460; OLG Naumburg, Beschl. v. 04.01.1995 – 1 Ss (B) 254/94 = VRS 88, 456 [1995]; BeckOK OWiG/Gertler OWiG § 31 Rn. 18; KK-OWiG/Ellbogen 5. Aufl. § 31 OWiG Rn. 37; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg StPO 27. Aufl. 2016 § 46 Rn. 13; Gürtler/Thoma in Göhler OWiG 18. Aufl. Vor § 31 Rn. 2b; Schmidt in: Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar 12. Aufl. 2007 § 78 Rn. 10). Mit der Rechtskraft des Bußgeldbescheids, die (zunächst) aufgrund des Ablaufs der Einspruchsfrist eingetreten war, bestand für eine Verfolgungsverjährung nach § 31 OWiG kein Raum mehr; vielmehr lief stattdessen die Frist für die Vollstreckungsverjährung nach § 34 OWiG (OLG Hamm, Beschl. v. 23.05.1972 – 5 Ss OWi 363/72 = NJW 1972, 2097 = MDR 72, 885). Eine neue Verfolgungsverjährung kann in Fällen, in denen das Verfahrensrecht einen Eingriff in die Rechtskraft zulässt, erst zu dem Zeit-punkt beginnen, in dem das rechtskräftige verurteilende Erkenntnis beseitigt wird (BayObLG, Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 a.a.O.). Dies hat zur Folge, dass mit der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die zur Beseitigung der bis dahin eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids führte, die bei Eintritt der Rechtskraft des Bußgeldbescheids noch nicht abgelaufene Frist für die Verfolgungsverjährung neu zu laufen begann. Mit der Gewährung von Wieder-einsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist durch die Entscheidung der Verwaltungsbehörde vom 24.11.2020 wurde die Rechtskraft des Bußgeldbescheids nachträglich beseitigt. Dies hatte aber nicht etwa zur Folge, dass die ursprüngliche Frist für die Verfolgungs-verjährung gleichsam rückwirkend wieder lief. Andernfalls würden für den säumigen Betroffenen Vorteile geschaffen, die er ohne seine Säumnis nicht gehabt hätte, was mit dem Zweck der Wiedereinsetzung nicht vereinbar wäre (OLG Hamm a.a.O.). Durch das Recht der Wiedereinsetzung sollen zwar dem Betroffenen, der unverschuldet eine Frist versäumt hat, keine Nachteile entstehen, eine Besserstellung seiner Rechtsposition ist durch die Vorschriften über die Wiedereinsetzung aber nicht intendiert.

2. In der Folgezeit wurden jeweils weitere Unterbrechungshandlungen vor Ablauf der 6-monatigen Verjährungsfrist nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 3 und 11 OWiG rechtzeitig vorgenommen bis zu dem ersten in dem Verfahren nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangenen Verwerfungsurteil des Amtsgerichts vom 27.01.2022. Seit diesem Zeitpunkt ist der Verjährungsablauf gemäß § 32 Abs. 2 OWiG gehemmt. Der Umstand, dass auf Antrag des Betroffenen in der Folgezeit wegen Versäumung dieser Hauptverhandlung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 74 Abs. 4 OWiG durch die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 30.09.2022 bewilligt wurde, beseitigte die Ablaufhemmung nicht (OLG Hamm, Beschl. v. 15.07.2008 – 3 Ss OWi 180/08 = BeckRS 2008, 18098; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.01.2018 – 1 OWi 2 Ss Bs 84/17 OLGSt OWiG § 74 Nr 24; 09.07.2002 – 1 Ss 74/02 = BeckRS 2002, 31129484; KG, Beschl. v. 15.12.2021 – 3 Ws (B) 304/21 = BeckRS 2021, 45818).

3. Die Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil das Amtsgericht hinreichendes Entschuldigungsvorbringen vor der Hauptverhandlung rechtsfehlerhaft übergangen hat.

Dabei kommt es nicht darauf an, dass das Amtsgericht in unzulässiger Weise die Gründe des Urteils, die bereits vollständig im Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen waren, in einer weiteren Urteilsurkunde ergänzt hat. Die Urteilsgründe rechtfertigen die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nicht, weil der Betroffene hinreichend entschuldigt im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG war. Denn hierfür ist es ausreichend, dass er schlüssig Umstände vorträgt, die ihm die Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar machen; eine Nachweispflicht trifft den Betroffenen nicht (vgl. nur BayObLG, Beschl. v. 06.09.2019 – 202 ObOWi 1581/19 = OLGSt OWiG § 74 Nr 26 m.w.N.). Die mit Schriftsatz der Verteidigerin vom 13.12.2022 vor der Hauptverhandlung dem Amtsgericht mitgeteilten Gründe stellten bei vernünftiger Betrachtung ohne weiteres einen Entschuldigungsgrund in diesem Sinne dar, weil dort – neben dem Hinweis auf einen positiven Covid-19-Test – explizit vom „hohem Fieber, Erbrechen, Durchfall und schweren Erkältungssymptomen“ gesprochen wurde, was eine Unzumutbarkeit der Anreise und der Teilnahme des Betroffenen an der Hauptverhandlung bei verständiger Würdigung zweifelsfrei begründete. Über diesen Vortrag hat sich das Amtsgericht mit neben der Sache liegenden Erwägungen, nämlich unter Rekurs auf den fehlenden Nachweis der geltend gemachten Erkrankungssymptome und auf die nicht mehr bestehende Isolationspflicht in Bayern bei einer Infektion mit dem Coro-na-Virus, hinweggesetzt. Es hat dabei dem Vortrag des Betroffenen, dem es nicht darum ging, sich zu isolieren, sondern der geltend machen wollte, aufgrund krankheitsbedingter Beschwerden nicht zur Hauptverhandlung anreisen und an ihr teilnehmen zu können, kein Gehör geschenkt und zudem verkannt, dass den Betroffenen keine Nachweispflicht trifft.“

Corona I: Fernbleiben in der HV wegen Corona, oder: Muss der Betroffene schlauer als der Verteidiger sein?

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In die 44. KW., starte ich dann mit zwei „Corona-Entscheidungen“.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 378/22. Er behandelt das (unentschuldigte) Fernbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung wegen einer vermuteten Corona-Infektion nach Auskunft des Verteidigers zur Nicht-Erscheinenspflicht.

Dem Betroffenen wurde eine Geschwindigkeitsüberschreitung vorgeworfen. Nach Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid, der u.a. auch ein Fahrverbot enthielt, bestimmte das AG Termin zur Hauptverhandlung auf den 28.04.2022, 11:15 Uhr. Mit Schriftsatz seines Verteidigers, der per beA am Terminstag um 09:53 Uhr beim AG einging, beantragte der Betroffene die Aufhebung des Termins, weil sich bei ihm am Vortag typische Symptome einer Corona-Erkrankung (Halsbeschwerden, Schnupfen, Fieber) eingestellt hätten. Der Verteidiger fügte seinem Schriftsatz den Ausdruck eines E-Mail-Schriftwechsels mit dem Betroffenen vom selben Tag bei, in dem er ihm u.a. mitgeteilt hatte, dass er nicht an dem Termin teilnehmen könne und dies auch nicht müsse. Das AG führte gleichwohl den Hauptverhandlungstermin durch und hat den Einspruch des Betroffene gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Der Betroffene sei dem Hauptverhandlungstermin ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben. Die behauptete Covid-19-Erkrankung sei nicht durch geeignete Nachweise glaubhaft gemacht worden. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte keinen Erfolg.

„1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 1 Ziff. 2 OWiG statthaft und entsprechend den Bestimmungen der §§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht bei Gericht angebracht worden.

2. In der Sache hat sie keinen Erfolg, sie ist unbegründet.

a) Gegen ein Verwerfungsurteil im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG kann mit der Rechtsbeschwerde nur vorgebracht werden, dass das Amtsgericht den Einspruch zu Unrecht wegen unentschuldigten Ausbleibens des Betroffenen verworfen habe, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorlagen (Göhler, OWiG, 18. Auflage, zu § 74, Rz. 48a m. w. N.). Der Verstoß gegen § 74 Abs. 2 OWiG ist als Unterfall der Rüge einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör mit der nach §§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 344 Abs. 2 S. 2 StPO auszuführenden Verfahrensrüge geltend zu machen (OLG Koblenz NStZ-RR 2004, 373; OLG Köln NZV 2002, 241; OLG Brandenburg NStZ-RR 1997, 275).

Der Betroffene hat seine diesbezügliche Verfahrensrüge nicht in den Erfordernissen der §§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügender Form ausgeführt. So fehlt es bereits an einer vollständigen Mitteilung der Urteilsgründe.

Ungeachtet dessen hätte die Verfahrensrüge im Fall ihrer zulässigen Erhebung in der Sache keinen Erfolg.

Hierzu hat die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg in ihrer Stellungnahme vom 08. August 2022 ausgeführt:

„Das Gericht darf den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG nur verwerfen, wenn der Betroffene ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben ist. Die Entschuldigung eines Ausbleibens im Termin ist dann als genügend anzusehen, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Betroffenen einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen. Maßgebend dafür ist nicht, ob sich der Betroffene entschuldigt hat, sondern, ob er entschuldigt ist, weswegen der Tatrichter von Amts wegen prüfen muss, ob Umstände ersichtlich sind, die das Ausbleiben des Betroffenen genügend entschuldigen (vgl. zu § 329 StPO BGHSt 17, 391). Die ihn insoweit treffende Nachforschungspflicht setzt jedoch erst ein, wenn überhaupt ein hinreichend konkreter und schlüssiger Sachvortrag vorliegt, der die Unzumutbarkeit oder die Unmöglichkeit des Erscheinens indizierende Tatsachenbehauptungen enthält (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 06. März 2013 – 3 Ss 20/13 – m. w. N.) und dem Gericht somit hinreichende Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung zur Kenntnis gebracht sind, die einer Überprüfung durch das Gericht zugänglich sind (vgl. BayObLG, Beschluss vom 31. März 2020 – 202 StRR 29/20).

So liegt es hier nicht, denn in seiner Mitteilung an seinen Rechtsbeistand (Bl. 9 d. A.) erklärt der Betroffene lediglich, er leide an Symptomen, die er mit einer COVID-19-Erkrankung in Zusammenhang bringt. Er teilt jedoch nicht mit, dass er sich – was angesichts der zum relevanten Zeitpunkt jedermann problemlos zur Verfügung stehenden und anzuwendenden Testsysteme zu erwarten gewesen wäre – einen Selbsttest mit einem Positivergebnis unterzogen hat. Auch wäre es ihm trotz seiner Symptome offensichtlich möglich gewesen, eine Arztpraxis zum Zwecke der Ausstellung eines seine Infizierung bestätigenden Attestes aufzusuchen. Von dieser Möglichkeit hat er nach seiner Mitteilung nur deshalb keinen Gebrauch gemacht, weil er nicht in einer Arztpraxis „rumsitzen“ wollte. Auf die – letztlich nicht verifizierbare – bloße Behauptung des Betroffenen, er sei erkrankt, musste und durfte sich das Amtsgericht bei seiner Entscheidung über die Verwerfung des Einspruchs mithin nicht verlassen, sodass die Verwerfung des Einspruchs nicht zu beanstanden ist.“

Diese Ausführungen entsprechen der Sach- und Rechtslage, der Senat schließt sich ihnen an.

Die Ausführungen des Betroffenen in seiner Gegenerklärung vom 06. September 2022 geben keinen Anlass zu abweichender Bewertung. Soweit darin die Auffassung vertreten wird, nicht der sichere und attestierte Nachweis einer Corona-Erkrankung habe Priorität, sondern die besondere Selbstverantwortung jedes Einzelnen bei selbst festgestellten Symptomen, vermag sich der Senat dem für die Teilnahme des Betroffenen an einem innerhalb eines gegen ihn gerichteten justiziellen Verfahrens angesetzten Termin nicht anzuschließen. Insoweit sind die Belange der öffentlichen Gesundheitsvorsorge und der Justiz gegeneinander abzuwägen und in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu setzen. Diese Abwägung führt nicht dazu, dass ein gerichtlich angesetzter Termin im Bußgeldverfahren allein auf den Vortrag des Betroffenen zu einer persönlich für möglich gehaltenen Infektion ohne objektiven Nachweis aufzuheben wäre.

Dass der Verteidiger in Verkennung der Rechtslage den Betroffenen ausdrücklich angewiesen hat, der Hauptverhandlung fernzubleiben, vermag ebenfalls nicht zu einer Entschuldigung dessen Nichterscheinens zu führen. Der Betroffene hatte keinerlei Veranlassung, auf die Richtigkeit dieser Anweisung zu vertrauen – die Entscheidung dieser Frage lag offensichtlich nicht in der Entscheidungskompetenz des Verteidigers (vgl. OLG Frankfurt DAR 2017, 595; BayObLG NZV 2003, 293).“

Die Entscheidung führt bei mir zu mehr als leichtem Kopfschütteln. Denn: Man kann sicherlich über das Vorgehen und das Verhalten des Betroffenen streiten. Man kann sicherlich auch darüber streiten, ob es eine Verpflichtung gibt, im privaten Bereich Corona-Tests einzusetzen. Jedenfalls hätte das OLG aber darlegen können, wenn nicht müssen, woraus sich die Verpflichtung, wenn es eine solche denn gibt, ergeben soll. Worüber man m.E. aber nicht streiten kann, ist der Umstand, dass der Betroffene der Auskunft seines Verteidigers vertraut hat und u.a. auch deshalb dem Hauptverhandlungstermin fern geblieben ist. Dabei spielt dann auch die knappe Zeit – Mitteilung am Hauptverhandlungstag – eine Rolle. Was soll der Verteidiger denn dann anderes tun, als dem Betroffenen zu raten, dem Hauptverhandlungstermin fern zu bleiben, zumal in Pandemiezeiten. Und was soll der Betroffene anderes tun, als auf diese Auskunft zu vertrauen?. Das ist m.E. „offensichtlich“ und nicht die vom OLG verneinte Entscheidungskompetenz des Verteidigers. Alles in allem: Nicht nachvollziehbar, wobei auch der Hinweis auf OLG Frankfurt am Main und BayObLg mich nicht überzeugen.

Nicht nachvollziehbar ist m.E. auch der Hinweis des OLG auf den fehlenden Vortrag der Urteilsgründe. Denn der Betroffene hatte auch die Sachrüge erhoben, die dem OLG den Zugriff auf die Urteilsgründe doch ermöglicht.

Berufung II: Berufungsverwerfung wegen Ausbleibens des Angeklagten, oder: Ärztliches Attest

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Und als zweites Posting dann zwei Entscheidungen zu § 329 Abs. 1 StPO, also Verwerfung der Berufung wegen unentschuldigen Ausbleibens des Angeklagten. In dem Zusammenhang spielt ja die Frage der ausreichenden Entschuldigung eines große Rolle, vor allem wenn es um das Ausbleiben infolge einer (plötzlichen) Erkrankung und deren Nachweis geht. Stichwort: Ärztliches Attest. Von beiden Entscheidungen gibt es aber nur die Leitsätze.

Zunächst der BayObLG, Beschl. v. 31.03.2020 – 202 StRR 29/20. Der hat folgende (amtliche Leitsätze):

1. Ärztliche Bescheinigungen und Atteste haben so lange als genügende Entschuldigung zu gelten, als nicht deren Unglaubwürdigkeit oder Unbrauchbarkeit feststeht; dies gilt auch dann, wenn sie dem Gericht lediglich als Kopie oder in digitaler Form per E-Mail übermittelt werden (Anschluss u.a. von BayObLG, Beschl. v. 12.02.2001 – 2 StRR 17/01 = BayObLGSt 2001, 14/16; Beschl. v. 11.05.1998 – 1 ObOWi 169/98 = BayObLGSt 1998, 79/82 = StraFo 1999, 26 = NJW 1999, 879).

2. Etwas anderes kann nur gelten, wenn feststeht, dass die ärztliche Bescheinigung als unglaubwürdig oder unbrauchbar anzusehen oder das Entschuldigungsvorbringen aus der Luft gegriffen oder sonst ganz offensichtlich als ungeeignet anzusehen ist, das Ausbleiben zu entschuldigen. Hierfür ist nicht ausreichend, dass dem Angeklagten aufgrund von unbestätigten Feststellungen einer Anklage in einem anderen Verfahren in anderem Zusammenhang und zu anderen Zeiträumen u.a. Verfälschungen ärztlicher Bescheinigungen zur Last liegen (u.a. Anschluss an und Fortführung von BayObLG, Beschl. v. 12.02.2001 – 2 StRR 17/01 = BayObLGSt 2001, 14/16).

Und dann der KG, Beschl. v. 18.11.2019 – 3 Ws 352/19  – 161 AR 250/19, ergangen in einem Wiedereinsetzungsverfahren (§ 329 Abs. 7 StPO):

1. Ein ärztliches Attest, das Art und Schwere der Erkrankung mitteilt, rechtfertigt in der Regel den Schluss, dass dem Angeklagten die Teilnahme in der Hauptverhandlung nicht zumutbar war.

2. Etwas anderes kann jedoch bei Erkrankungen gelten, deren Symptome typischerweise zeitlich eng begrenzt, häufig auch akut „von der einen auf die andere Minute“ auftreten. In so gelagerten Fällen bedarf es in der Regel des zusätzlichen Vortrags, zu welcher Uhrzeit der Angeklagte den behandelnden Arzt aufgesucht hat.