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StPO II: Bei Urteilsverkündung Maßregel vergessen, oder: (kein) Verkündungs-/Fassungsversehen?

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Und dann die zweite Entscheidung. Die kommt aus Bayern. Es handelt sich um den BayObLG, Beschl. v. 06.09.2023 – 203 StRR 342/23. Der behandelt eine Frage, die sich sicherlich gar nicht so selten stellen dürfte, nämlich: Wie geht man damit um, wenn im erstinstanzlichen Urteil eine Maßregel „vergessen“ worden ist. Zumindest im verkündeten Urteil?

Hier war der Angeklagte durch Urteil des AG wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren trotz Fahrverbots verurteilt worden. Nach der laut Hauptverhandlungsprotokoll in der Hauptverhandlung verkündeten und inhaltsgleich in der schriftlichen Urteilsurkunde wiedergegebenen Urteilsformel hat das AG den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt und ein Fahrverbot von 5 Monaten, jedoch keine Sperrfrist ausgesprochen. In den schriftlichen Gründen der Urteilsurkunde hat es allerdings eine isolierte Sperre nach § 69 a Abs. 1 Satz 3 StGB von einem Jahr begründet. Eine Protokollberichtigung ist nicht erfolgt.

In der Berufung hat das LG eine wirksame Anordnung einer Sperrfrist von einem Jahr angenommen und die Berufung des Angeklagten mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die verhängte Sperrfrist noch 9 Monate beträgt. Das Fahrverbot von 5 Monaten hat es aufrechterhalten.

Das geht so nicht, sagt das BayObLG:

„Die zulässige Revision ist teilweise begründet. Mit der – erstmaligen – Anordnung einer isolierten Sperrfrist hat das Landgericht gegen das in der Revision von Amts wegen zu prüfende (BGH, Beschluss vom 23. August 2000 – 2 StR 171/00 –, juris; Franke in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 358 Rn. 23 m.w.N.) Verbot der Schlechterstellung (§ 331 Abs. 1 StPO) verstoßen und den Umfang der von Amts wegen zu beachtenden Teilrechtskraft (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 4 m.w.N.; BGH, Beschluss vom 23. August 2000 – 2 StR 171/00 –, juris Rn. 7; Gericke in KK-StPO, 9. Aufl., § 358 Rn. 22) nicht berücksichtigt. Für die Bestimmung des Umfangs der Bestrafungsgrenze ist die verkündete Urteilsformel maßgeblich (BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 4 m.w.N.). Das Amtsgericht hat bei der Verkündung des Urteils am 1. März 2023 wie auch im Tenor der schriftlichen Urteilsurkunde keine isolierte Sperrfrist für die Erteilung der Fahrerlaubnis ausgesprochen. Auf die Streitfrage, ob in der Revision das Übereinstimmen von verkündeter und im schriftlichen Urteil niedergelegter Urteilsformel von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 3), kommt es hier nicht an.

Im einzelnen:

1. Um die Auswirkung der Rechtskraft bestimmen zu können, hat das Berufungsgericht den Verkündungsinhalt von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen (BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 4). Das Erfordernis einer Verfahrensrüge gibt es im Berufungsverfahren nicht.

2. Nach § 268 Abs. 2 S. 1 StPO wird das Urteil durch Verlesung der Urteilsformel und Eröffnung der Urteilsgründe verkündet. Nach § 260 Abs. 2 und 4 StPO sind alle Rechtsfolgen in die Urteilsformel mit aufzunehmen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 260 Rn. 38). Mit der Verkündung ist der Urteilsspruch grundsätzlich nicht mehr änderbar und nicht mehr ergänzbar. Die Urteilsformel als Grundlage für die Vollstreckung und die Eintragung der Verurteilung in die Register muss aus sich selbst heraus verständlich sein (vgl. Stuckenberg in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 260 Rn. 30, 31). Rechtsfolgen, die notwendig in die Formel aufzunehmen sind, gelten als nicht verhängt oder als abgelehnt, wenn die verkündete Urteilsformel über sie schweigt (Stuckenberg a.a.O. Rn. 34). Eine nachträgliche Ergänzung der Formel im Wege der Berichtigung ist nur zur Korrektur offensichtlicher Verkündungsversehen in Ausnahmefällen möglich (Stuckenberg a.a.O.).

3. Die verkündete Urteilsformel ist als wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung gemäß § 274 StPO zu protokollieren (vgl. Bartel in KK-StPO, a.a.O. § 268 Rn. 3). Der authentische Wortlaut der Urteilsformel ergibt sich demgemäß aus der Sitzungsniederschrift (BGH, Beschluss vom 13. September 1991 – 3 StR 315/91 –, juris; BGH, Beschlüsse vom 9. Mai 2001 – 2 StR 42/01- und vom 6. Februar 2013 – 1 StR 529/12 Rn. 3 m.w.N., zitiert nach juris; BGH, Urteil vom 10. Oktober 2019 – 1 StR 632/18-, juris). Allein das Protokoll beweist nach § 274 Satz 1 StPO, welche Urteilsformel der Vorsitzende tatsächlich verkündet hat (BGH, Urteil vom 10. Oktober 2019 – 1 StR 632/18 –, juris Rn. 15), während es auf den Wortlaut der niedergelegten Urteilsformel nicht ankommt (Bartel in KK-StPO, a.a.O., § 268 Rn. 3; Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 268 Rn. 29). Die bloße schriftliche Niederlegung der Anordnung einer Sperrfrist könnte demnach eine unterbliebene Verkündung nicht ersetzen.

4. Nach dem Hauptverhandlungsprotokoll hat das Amtsgericht hier keine Anordnung einer Maßregel nach § 69a StGB verkündet.

a) Die Sitzungsniederschrift ist insoweit eindeutig, der Urteilstenor leidet für sich betrachtet nicht an offensichtlichen Mängeln, ist weder unklar, erkennbar lückenhaft oder widersprüchlich. Die vom Tatgericht niedergeschriebene Urteilsformel haben die beiden Urkundspersonen weder in das Protokoll eingefügt noch als Anlage zum Protokoll genommen (vgl. dazu OLG Köln, Urteil vom 7. November 2006 – 83 Ss 70/06 –, juris Rn. 27; Stuckenberg, a.a.O., Rn. 28, 29), so dass insoweit keine Widersprüchlichkeit innerhalb des Protokolls, die die Beweiskraft des Protokolls erschüttern könnte, vorliegt. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Aufnahme der §§ 69, 69a StGB in die angewandten Strafvorschriften. Denn die Liste der angewandten Vorschriften ist kein Bestandteil des Urteilstenors (BGH, Beschluss vom 18. Juli 2007 – 2 StR 280/07 –, juris; Tiemann in KK-StPO, a.a.O. § 260 Rn. 52). Sie ist weder zu verlesen noch sonst bekannt zu geben (BGH, Urteil vom 25. September 1996 – 3 StR 245/96 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 260 Rn. 51; Tiemann a.a.O.).

b) Eine förmliche Berichtigung des Protokolls (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 23. April 2007 – GSSt 1/06 –, BGHSt 51, 298-317 juris) ist nicht erfolgt. Keine der Urkundspersonen ist von der protokollierten Fassung abgerückt (vgl. dazu OLG Hamm, Urteil vom 14. August 1980 – 2 Ss 367/80 –, juris).

c) Der Senat hat daher die Beweiskraft des Protokolls zu beachten. Danach ist die Urteilsformel wie protokolliert verkündet worden. Das Amtsgericht hat in der Urteilsformel keine Anordnung einer Sperrfrist ausgesprochen.

5. Entgegen der Rechtsauffassung der Generalstaatsanwaltschaft liegt hier kein offensichtliches Verkündungs- oder Fassungsversehen vor.

a) Das Verschlechterungsverbot steht der Nachholung unterlassener Entscheidungen nicht in jedem Fall entgegen (vgl. Gericke a.a.O. § 358 Rn. 19).

b) Das Rechtsmittelgericht kann offensichtliche Versehen im Ausspruch des angefochtenen Urteils berichtigen. Nach der gefestigten Rechtsprechung sind „offensichtlich“ jedoch lediglich solche Fehler, die sich ohne weiteres aus der Urkunde selbst oder aus solchen Tatsachen ergeben, die für alle Verfahrensbeteiligten klar zu Tage treten und auch nur den entfernten Verdacht einer späteren sachlichen Änderung ausschließen. Es muss – auch ohne Berichtigung – eindeutig erkennbar sein, was das Gericht – zum Zeitpunkt der Verkündung – tatsächlich gewollt und entschieden hat (vgl. zur Berichtigung in der Revision BGH, Beschluss vom 5. Juni 2013 – 4 StR 77/13 –, juris Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 354 Rn. 33; Franke a.a.O. § 354 Rn. 47 ff.; Gericke a.a.O. § 354 Rn. 20 f.). Bei dieser Prüfung ist ein strenger Maßstab anzulegen, um zu verhindern, dass mit einer Berichtigung eine unzulässige nachträgliche Abänderung des Urteils einhergeht (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2017 – 2 StR 345/16 –, juris Rn. 17; BGH, Beschluss vom 20. Juni 2017 – 1 StR 113/17 –, juris Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 268 Rn. 10). Hinsichtlich der Frage einer möglichen Berichtigung der mündlich verkündeten Urteilsformel könnte auch die mündliche Urteilsbegründung Berücksichtigung finden (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. Rn. 10 m.w.N.). Grundsätzlich ist jedoch in Ansehung der überragenden Bedeutung der Urteilsformel, die – anders als die schriftlichen Urteilsgründe – bei Verkündung schriftlich vorliegen muss, bei einer Berichtigung der Urteilsformel Zurückhaltung geboten (BGH, Urteil vom 23. Oktober 1952 – 5 StR 480/52, BGHSt 3, 245, 247, juris; BGH, Urteil vom 8. November 2017 – 2 StR 542/16 –, juris Rn. 18).

c) Gemessen daran kann im vorliegenden Fall in der unterlassenen Verkündung einer Entscheidung über die Anordnung einer Sperre keine Unrichtigkeit erblickt werden, deren Offensichtlichkeit sich zwanglos aus Tatsachen ergeben würde, die für alle Verfahrensbeteiligten klar zu Tage liegen und die jeden Verdacht einer unzulässigen nachträglichen Änderung ausschließen. Die verkündete Urteilsformel selbst war in sich widerspruchsfrei und eindeutig. Für weitere aus dem Ablauf der Urteilsverkündung ergebende und für die Verfahrensbeteiligten klar zu Tage liegenden Tatsachen, die ein reines Versehen bei der Fassung des Tenors offenkundig machen könnten, ist hier nichts ersichtlich, insbesondere fehlen Anhaltspunkte, dass die mündliche Mitteilung der Entscheidungsgründe, die gemäß § 268 Abs. 2 StPO mit der Verlesung der Urteilsformel eine Einheit bildet, den Verfahrensbeteiligten ohne weiteres die Gewissheit über die Anordnung einer Sperre – etwa im Wege der mündlichen Erörterung der Sperrfrist – vermittelt hätte. Die spätere schriftliche Urteilsbegründung, die für die Verfahrensbeteiligten erkennbar Ausführungen zu einer Sperre enthält, reicht für sich allein nicht aus, um nachträglich die wahre Entscheidung des Amtsgerichts zum allein maßgeblichen Zeitpunkt der Urteilsverkündung aufzuzeigen (vgl. Stuckenberg a.a.O. Rn. 54; Franke a.a.O. § 354 Rn. 49). Wird eine bestimmte Rechtsfolge als Teil des Urteilsspruchs nicht verkündet, liegt kein offensichtliches Verkündungs- oder Fassungsversehen vor, das vom Revisionsgericht nachträglich richtig gestellt werden könnte (so auch BGH, Beschluss vom 10. Mai 1988 – 5 StR 47/88 –, juris ebenfalls zu einer versehentlich unterbliebenen Verkündung der Anordnung einer Sperre; vgl. auch BGH, Beschluss vom 28. Mai 1974 – 4 StR 633/73 –, BGHSt 25, 333-338 juris; im Ergebnis auch Franke a.a.O).

d) Der Umstand, dass die nach der Urteilsverkündung gefertigten schriftlichen Urteilsgründe des Amtsgerichts für sich genommen rechtlich einwandfreie Erwägungen enthalten, die die Festsetzung der nicht verkündeten Anordnung einer Sperrfrist rechtfertigen würden, vermag aufgrund des Widerspruchs von Tenor und Gründen an dem Ergebnis somit nichts mehr zu ändern.

6. Mangels Anordnung einer Maßregel in der ersten Instanz durfte das Landgericht auf die Berufung des Angeklagten hin nach § 331 Abs. 1 StPO keine Entscheidung zur isolierten Sperre treffen. Das in der Revision angefochtene Urteil ist somit entsprechend zu korrigieren…..“

OWi II: Nach Wiedereinsetzung startet Verjährung neu, oder: Ausreichende Entschuldigungsgründe dargetan?

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Und dann als zweite Entscheidung der BayObLG, Beschl. v. 28.03.2023 – 202 ObOWi 314/23. Ergangen ist erin einem Verfahren, in dem dem Betroffenen ein Abstandsvertsoß zur Last gelegt worden ist. Das AG hat dann Hauptverhandlung anberaumt, nachdem der Betroffene Einspruch gegen den Bußgeldberscheid eingelegt hatte. Als der Betroffene in der Hauptverhandlung nicht erschienen ist, hat es den Einspruch gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die Erfolg hatte. Erfolg allerdings nicht wegen Eintritts der Verfolgsverjärung, was auch die GStA München angenommen hatte, sondern wegen nicht ausreichender Urteilsgründe:

„1. Eine Einstellung des Verfahrens kommt nicht in Betracht, weil das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung nicht eingetreten ist.

a) Die Verjährungsfrist betrug zunächst 3 Monate (§ 26 Abs. 3 Satz 1 StVG) und begann mit Beendigung der Handlung (§ 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG), hier also am 18.06.2020. Die Verjährung wurde jedenfalls durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020, der dem Betroffenen am 17.09.2020 zugestellt wurde, unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG), sodass ab diesem Zeitpunkt die Verjährungsfrist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG 6 Monate betrug.

b) Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft wurde die 6-monatige Verjährungsfrist durch den Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 rechtzeitig unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

aa) Zwar lagen zwischen der vorhergehenden Unterbrechungshandlung durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020 und dem Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 mehr als 6 Monate.

bb) Gleichwohl war die Verjährungsfrist zum letztgenannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen. Denn die durch die Zentrale Bußgeldstelle am 24.11.2020 bewilligte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist hatte zur Folge, dass die Verjährungsfrist neu zu laufen begann (vgl. BayObLG, Beschl. v. 16.03.2004 – 2 ObOWi 7/2004 = BayObLGSt 2004, 33 = DAR 2004, 281 = VRS 106, 452 [2004]; Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 = BayObLGSt 1953, 179; OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.01.1978 – 1 Ws (B) 36/78 OWiG = BeckRS 2014, 21126; KG, Beschl. v. 04.04.2017 – 3 Ws (B) 43/17 = StraFo 2017, 460; OLG Naumburg, Beschl. v. 04.01.1995 – 1 Ss (B) 254/94 = VRS 88, 456 [1995]; BeckOK OWiG/Gertler OWiG § 31 Rn. 18; KK-OWiG/Ellbogen 5. Aufl. § 31 OWiG Rn. 37; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg StPO 27. Aufl. 2016 § 46 Rn. 13; Gürtler/Thoma in Göhler OWiG 18. Aufl. Vor § 31 Rn. 2b; Schmidt in: Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar 12. Aufl. 2007 § 78 Rn. 10). Mit der Rechtskraft des Bußgeldbescheids, die (zunächst) aufgrund des Ablaufs der Einspruchsfrist eingetreten war, bestand für eine Verfolgungsverjährung nach § 31 OWiG kein Raum mehr; vielmehr lief stattdessen die Frist für die Vollstreckungsverjährung nach § 34 OWiG (OLG Hamm, Beschl. v. 23.05.1972 – 5 Ss OWi 363/72 = NJW 1972, 2097 = MDR 72, 885). Eine neue Verfolgungsverjährung kann in Fällen, in denen das Verfahrensrecht einen Eingriff in die Rechtskraft zulässt, erst zu dem Zeit-punkt beginnen, in dem das rechtskräftige verurteilende Erkenntnis beseitigt wird (BayObLG, Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 a.a.O.). Dies hat zur Folge, dass mit der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die zur Beseitigung der bis dahin eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids führte, die bei Eintritt der Rechtskraft des Bußgeldbescheids noch nicht abgelaufene Frist für die Verfolgungsverjährung neu zu laufen begann. Mit der Gewährung von Wieder-einsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist durch die Entscheidung der Verwaltungsbehörde vom 24.11.2020 wurde die Rechtskraft des Bußgeldbescheids nachträglich beseitigt. Dies hatte aber nicht etwa zur Folge, dass die ursprüngliche Frist für die Verfolgungs-verjährung gleichsam rückwirkend wieder lief. Andernfalls würden für den säumigen Betroffenen Vorteile geschaffen, die er ohne seine Säumnis nicht gehabt hätte, was mit dem Zweck der Wiedereinsetzung nicht vereinbar wäre (OLG Hamm a.a.O.). Durch das Recht der Wiedereinsetzung sollen zwar dem Betroffenen, der unverschuldet eine Frist versäumt hat, keine Nachteile entstehen, eine Besserstellung seiner Rechtsposition ist durch die Vorschriften über die Wiedereinsetzung aber nicht intendiert.

2. In der Folgezeit wurden jeweils weitere Unterbrechungshandlungen vor Ablauf der 6-monatigen Verjährungsfrist nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 3 und 11 OWiG rechtzeitig vorgenommen bis zu dem ersten in dem Verfahren nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangenen Verwerfungsurteil des Amtsgerichts vom 27.01.2022. Seit diesem Zeitpunkt ist der Verjährungsablauf gemäß § 32 Abs. 2 OWiG gehemmt. Der Umstand, dass auf Antrag des Betroffenen in der Folgezeit wegen Versäumung dieser Hauptverhandlung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 74 Abs. 4 OWiG durch die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 30.09.2022 bewilligt wurde, beseitigte die Ablaufhemmung nicht (OLG Hamm, Beschl. v. 15.07.2008 – 3 Ss OWi 180/08 = BeckRS 2008, 18098; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.01.2018 – 1 OWi 2 Ss Bs 84/17 OLGSt OWiG § 74 Nr 24; 09.07.2002 – 1 Ss 74/02 = BeckRS 2002, 31129484; KG, Beschl. v. 15.12.2021 – 3 Ws (B) 304/21 = BeckRS 2021, 45818).

3. Die Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil das Amtsgericht hinreichendes Entschuldigungsvorbringen vor der Hauptverhandlung rechtsfehlerhaft übergangen hat.

Dabei kommt es nicht darauf an, dass das Amtsgericht in unzulässiger Weise die Gründe des Urteils, die bereits vollständig im Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen waren, in einer weiteren Urteilsurkunde ergänzt hat. Die Urteilsgründe rechtfertigen die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nicht, weil der Betroffene hinreichend entschuldigt im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG war. Denn hierfür ist es ausreichend, dass er schlüssig Umstände vorträgt, die ihm die Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar machen; eine Nachweispflicht trifft den Betroffenen nicht (vgl. nur BayObLG, Beschl. v. 06.09.2019 – 202 ObOWi 1581/19 = OLGSt OWiG § 74 Nr 26 m.w.N.). Die mit Schriftsatz der Verteidigerin vom 13.12.2022 vor der Hauptverhandlung dem Amtsgericht mitgeteilten Gründe stellten bei vernünftiger Betrachtung ohne weiteres einen Entschuldigungsgrund in diesem Sinne dar, weil dort – neben dem Hinweis auf einen positiven Covid-19-Test – explizit vom „hohem Fieber, Erbrechen, Durchfall und schweren Erkältungssymptomen“ gesprochen wurde, was eine Unzumutbarkeit der Anreise und der Teilnahme des Betroffenen an der Hauptverhandlung bei verständiger Würdigung zweifelsfrei begründete. Über diesen Vortrag hat sich das Amtsgericht mit neben der Sache liegenden Erwägungen, nämlich unter Rekurs auf den fehlenden Nachweis der geltend gemachten Erkrankungssymptome und auf die nicht mehr bestehende Isolationspflicht in Bayern bei einer Infektion mit dem Coro-na-Virus, hinweggesetzt. Es hat dabei dem Vortrag des Betroffenen, dem es nicht darum ging, sich zu isolieren, sondern der geltend machen wollte, aufgrund krankheitsbedingter Beschwerden nicht zur Hauptverhandlung anreisen und an ihr teilnehmen zu können, kein Gehör geschenkt und zudem verkannt, dass den Betroffenen keine Nachweispflicht trifft.“

StPO III: Urteilsbegründung im Berufungsverfahren, oder: Wenn dieselbe Strafe wie vom AG verhängt wird

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Und als dritte Entscheidung dann ein Dauerbrenner aus dem Rechtsmittelbereich, nämlich der OLG Brandenburg, Beschl. v. 22.11.2021 – 1 OLG 53 Ss 97/21 – zur Frage der Anforderungen an die Urteilsgründe, wenn in der Berufungsinstanz dieselbe Strafe verhängt wird wie beim AG, obwohl weitere Milderungsgründe vorliegen.

Hier hatte das AG den Angeklagten wegen Beleidigung in 3 Fällen und wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete, auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung hat die Strafkammer des Landgerichts Neuruppin als unbegründet verworfen. Das OLG hebt auf die Revision im Strafausspruch auf:

„2. Der Rechtsfolgenausspruch hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

Die Strafzumessung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Die Strafkammer hat – insoweit rechtsfehlerfrei – zu Gunsten des Angeklagten ausgeführt, dass er sich – anders als im erstinstanzlichen Verfahren – nunmehr geständig eingelassen und auch reuig gezeigt habe. Diesem Umstand hat die Kammer jedoch mit Blick auf die erdrückende Beweislage und die Feststellungen erster Instanz nur ein geringes Gewicht beigemessen. Zu seinen Gunsten hat die Kammer aber in erheblicherem Umfang gewertet, dass der Angeklagte sich in eine psychotherapeutische Verhaltenstherapie begeben habe und diese nunmehr seit mehreren Monaten regelmäßig wahrnehme, um eine bessere Kontrolle über seine Impulsivität zu erlangen.

Gleichwohl hat die Strafkammer dieselben Einzelstrafen und dieselbe Gesamtfreiheitsstrafe festgesetzt, wie das Amtsgericht.

Dies ist in der vorliegenden Fallkonstellation erklärungsbedürftig. Die Bewertung der Tat und die Strafzumessung in der ersten Instanz sind zwar kein Maßstab für die Strafzumessung im Berufungsverfahren, weshalb eine Herabsetzung der Strafe im Fall der Verringerung des Schuldumfangs bzw. des Hinzutretens neuer Milderungsgründe nicht zwingend ist. Erforderlich ist aber eine Begründung. Der Angeklagte hat einen Anspruch darauf zu erfahren, warum er trotz Hinzukommens erheblicher Strafmilderungsgründe gleich hoch bestraft wird wie in der Vorinstanz (vgl. BGH NJW 1983, 54 und NStZ-RR 2013, 113; KG Berlin, Beschluss vom 7. Juli 1997 – [3] 1 Ss 124/97 [52/97] – m.w.N.; OLG München NJW 2009, 160; OLG Bamberg NStZ-RR 2012, 138 m.w.N.; KG Berlin, Beschluss vom 14. Juli 2020 – (4) 161 Ss 33/20 (43/20) –). Die besondere Begründung einer solchen Strafzumessung ist auch deshalb erforderlich, weil anderenfalls die spezialpräventive Wirkung der Verurteilung von vornherein in Frage gestellt sein kann. Wird in verschiedenen Abschnitten ein und desselben Verfahrens die Tat eines Angeklagten trotz unterschiedlicher für die Strafzumessung bedeutsamer Umstände ohne ausreichende Begründung mit der gleich hohen Strafe belegt, so kann auch bei einem verständigen Angeklagten der Eindruck entstehen, dass die Strafe nicht nach vom Gesetz vorgesehenen oder sonst allgemein gültigen objektiven Wertmaßstäben bestimmt wurde (vgl. BGH aaO; OLG München aaO). Eine Begründung der Verhängung einer identischen Strafe trotz wesentlicher Veränderung der für die Strafzumessung relevanten Gesichtspunkte ist allenfalls in Ausnahmefällen entbehrlich, in denen eine Gefährdung der spezialpräventiven Wirkung ausgeschlossen erscheint, weil etwa die durch den Vorderrichter verhängte Strafe offensichtlich im unteren Bereich des Vertretbaren gelegen hatte (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 7. April 2016 2 [6] Ss 110/16 – AK 41/16 [juris] m.w.N.; OLG Bamberg aaO m.w.N.). Eine solche Konstellation liegt hier aber gerade nicht vor.

Da das angefochtene Urteil eine entsprechende Begründung vermissen lässt, unterlag es der Aufhebung im Rechtsfolgenausspruch.“

OWi II: Anforderungen an die Urteilsgründe, oder: Kleiner Grundkurs für den Amtsrichter

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Der Kollege T. Scheffler aus Bad Kreuznach hat mir den OLG Koblenz, Beschl. v. 11.0.2018 – 1 OWi 6 SsBs 129/18 – geschickt. Ergangen ist er in einem Verfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Er enthält einen kleinen Grundkurs für den Amtsrichter, wie manein Urteil schreibt.

Das angefochtene Urteil weist durchgreifende sachlich-rechtliche Mängel auf. Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu in ihrer Antragsschrift vom 14. September 2018 zutreffend ausgeführt:

„Die Urteilsgründe sind hinsichtlich des Schuldspruchs und des Rechtsfolgenausspruchs unvollständig und ermöglichen dem Rechtsbeschwerdegericht daher nicht die Feststellung, dass es rechtsfehlerfrei ergangen ist.

1. Ist bereits weder dem Tenor noch den Urteilsgründen zu entnehmen, ob der Betroffene wegen einer vorsätzlichen oder einer fahrlässig begangenen Ordnungswidrigkeit verurteilt wurde, müssen die Urteilsgründe bei Verwendung eines standardisierten Messverfahren über die Feststellungen zum angewandten Messverfahren und die Angabe des berücksichtigten Toleranzwertes hinaus insbesondere die Mitteilung enthalten, dass die Bedienungsvorschriften beachtet worden sind und das Gerät geeicht war (OLG Koblenz, Beschl. v. 07.05 2014 — 2 SsBs 22/14 — zitiert nach juris). Daran fehlt es hier.

2. Ferner sind in das schriftliche Urteil auch die Beweismittel und deren Würdigung aufzunehmen (OLG Koblenz, Beschl. v. 26.11.2013 — 2 Ss Bs 64// 13; OLG Branden-burg, Beschl. v. 24.02.2010 — (1) 53 Ss 9/10 — Rdnr. 13 — zitiert nach juris). Auf welche Beweismittel der Tatrichter seine Feststellungen gestützt hat, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Soweit der Tatrichter lediglich hinsichtlich der Fahrereigenschaften ein Beweismittel dahin angegeben hat, dass ein Vergleich des hinterlegten Passbildes und sein Vergleich in der Hauptverhandlung ergeben habe, dass der Betroffene die auf dem Lichtbild abgebildete Person sei, wird ein Beweismittel bereits nicht benannt, da nicht ersichtlich ist, um welches Lichtbild es sich handelt.

Darüber hinaus müssen die Urteilsgründe bei der Identifikation des Fahrers durch ein Lichtbild so gefasst sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht prüfen kann, ob das Belegfoto überhaupt geeignet ist, die Identifizierung einer Person zu ermöglichen (grundlegend BGHSt 41, S. 376 ff.).

Hierzu kann es ausreichend sein, dass in den Urteilsgründen auf das in der Akte befindliche Foto gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG Bezug genommen wird, wodurch das Foto zum Bestandteil der Urteilsgründe wird und vom Rechtsbeschwerdegericht dann zur Prüfung der Frage, ob es als Grundlage einer Identifizierung tauglich ist, selbst in Au-genschein genommen werden kann. Macht der Tatrichter von dieser Möglichkeit Gebrauch und ist das Foto zur Identifizierung uneingeschränkt geeignet, so sind darüber hinausgehende Ausführungen zur Beschreibung des abgebildeten Fahrzeugführers entbehrlich (Brandenburgisches Ober-landesgericht, Beschl. vom 24.06.2010 — 1 Ss (OWi) 124 B/10 — Rdnr. 10 — zitiert nach juris).

Sieht der Tatrichter von der Verweisung gemäß § 267 StPO ab, so muss er dem Rechtsmittelgericht, dem das Foto dann nicht als Anschauungsobjekt zur Verfügung steht, durch eine entsprechend ausführliche Beschreibung die Prüfung ermöglichen zu entscheiden, ob es für eine Identifizierung geeignet ist. In diesem Fall muss das Urteil Ausführungen zur Bild-qualität, dabei insbesondere zur Bildschärfe, enthalten und die abgebildete Person oder jedenfalls-mehrere Identifikationsmerkmale in ihren charakteristischen Eigenschaften so präzise beschreiben, dass dem Rechtsbeschwerdegericht anhand der Beschreibung in gleicher Weise wie bei Betrachtung des Fotos die Prüfung der Ergiebigkeit des Fotos ermöglicht wird (vgl. ,grundlegend BGHSt 41, S. 376 ff.; vgl. auch OLG Köln, NJW 2004, S. 3274; OLG Koblenz, NStZ-RR 2001, S. 110; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. vom 24.06.2010 — 1 Ss (OWi) 124 B/10 — Rdnr. 11-12 — zitiert nach juris ). Die Urteilsgründe, aus denen sich weder eine Bezugnahme noch eine Beschreibung des Fotos ergibt, genügen diesen Anforderungen nicht.

3. Das amtsgerichtliche Urteil lässt zudem nicht erkennen, ob der Tatrichter sich der Möglichkeit bewusst gewesen ist, von der Verhängung des an sich verwirkten Regelfahrverbots bei gleichzeitiger Erhöhung der Regel-geldbuße absehen zu können. Dazu muss das Urteil nach ständiger Rechtsprechung aber Ausführungen enthalten (OLG Hamm, Beschl. v. 03.06.1998 — 2 Ss OWi 541/98 — Rdnr. 12 — zitiert nach juris).“

Und dann – man kann alles toppen:

2. Eines näheren Eingehens auf die durch den Betroffenen erhobenen Verfahrensrügen einer Verletzung von § 261 StPO bedarf es daher nicht. Ihre Zulässigkeit unterstellt, wären allerdings auch diese nicht ohne Erfolgsaussicht geblieben. Das Sitzungsprotokoll enthält außer dem Vermerk, dass das Fahreignungsregister des Betroffenen „zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht“ (richtig: verlesen, vgl. BGHSt 11, 29) wurde, keine Angaben zu weiteren Beweiserhebungen, insbesondere nicht zu der Vernehmung von Zeugen, einer Inaugenscheinnahme der in den Akten befindlichen Lichtbilder oder einer Verlesung von Urkunden. Da derartige Verfahrenshandlungen zu den wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung zählen (vgl. Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 273 Rdn. 7), wäre durch die dem Protokoll insoweit zukommende negative Beweiskraft nach § 274 StPO, § 71 Abs. 1 OWiG formell bewiesen, dass es zu ihnen nicht gekommen ist. Da das Protokoll außerdem vermerkt, dass der Betroffene von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat, ließe sich ausschließen, dass die im Urteil getroffenen Feststellungen und ihre Beweisgrundlagen, insbesondere die Identifizierung des Betroffenen durch Lichtbildervergleich, die Tatsachen der Geschwindigkeitsbeschränkung und der Geschwindigkeitsmessung, auf die Hauptverhandlung zurückgehen.

3. Der Senat weist zur Tenorierung des Bußgeldurteils darauf hin, dass dieses den gesetzlichen Tatbestand der begangenen Ordnungswidrigkeit und die Schuldform wieder-zugeben hat, vorliegend mithin den Umstand, dass der Betroffene fahrlässig oder vorsätzlich eine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen hat. Im Hinblick auf die daran anknüpfenden Rechtsfolgen sind in den Tenor zusätzlich die Höhe der Überschreitung und die Tatbegehung inner- oder außerorts aufzunehmen. Einer Angabe der angewendeten Vorschriften bedarf es demgegenüber nicht.

Ich hatte das neulich schon mal geschrieben: Für mich grenzt das an Arbeitsverweigerung. So, und jetzt dürfen die Amtsrichter, die mitlesen, wieder schäumen….

Die Anforderungen sind übrigens auchg sehr schön in unserem OWi-Handbuch dargestellt, das man hier bestellen kann.