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OWi II: Fahreridentifizierung anhand eines Lichtbildes, oder: Noch einmal ein Ordnungsruf an das AG

Im zweiten Posting dann der OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.10.2023 – 2 ORBs 168/23 – mit einer Problematik, die früher ein Dauerbrenner war, heute allerdings in der Rechtsprechung keine große Rolle mehr spielt. Nämlich Fahreridentifizierung anhand eines Lichtbildes und Anforderungen an die Urteilsgründe.

Hier musste das OLG – trotz der Klärung dieser Frage in der Rechtsprechung – doch noch einmal eine AG „zur Ordnung rufen“. Das führt dann dazu, dass das OLG die Grundsätze der Rechtsprechung sehr schön zusammengefasst hat:

„Die Rechtsbeschwerde ist vom rechtsunterzeichnenden Einzelrichter zur Sicherung der einheitlichen Rechtsprechung zugelassen worden, da die Urteilsgründe im Hinblick auf die Identifizierung des Betroffenen als Fahrzeugführer der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht gerecht werden.

Insoweit wird verwiesen auf die grundlegende Entscheidung BGHSt 41, 376 ff:

„Daraus folgt für die Anforderungen an die Urteilsgründe: Diese müssen so gefasst sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht prüfen kann, ob das Belegfoto überhaupt geeignet ist, die Identifizierung einer Person zu ermöglichen.

aa) Diese Forderung kann der Tatrichter dadurch erfüllen, dass er in den Urteilsgründen auf das in der Akte befindliche Foto gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG Bezug nimmt. Aufgrund der Bezugnahme, die deutlich und zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht sein muß (Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 42. Aufl. § 267 Rdn. 8; vgl. auch BayObLG NZV 1995, 163, 164), wird das Lichtbild zum Bestandteil der Urteilsgründe. Das Rechtsmittelgericht kann die Abbildung aus eigener Anschauung würdigen (Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 267 Rdn. 10) und ist daher auch in der Lage zu beurteilen, ob es als Grundlage einer Identifizierung tauglich ist (vgl. OLG Celle VM 1985, 53; OLG Stuttgart VRS 77, 365; OLG Karlsruhe DAR 1995, 337).

Macht der Tatrichter von der Möglichkeit des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO Gebrauch, so sind darüber hinausgehende Ausführungen zur Beschreibung des abgebildeten Fahrzeugführers entbehrlich, wenn das Foto – wie etwa ein (Front-) Radarfoto, das die einzelnen Gesichtszüge erkennen lässt – zur Identifizierung uneingeschränkt geeignet ist. Es bedarf weder einer Auflistung der charakteristischen Merkmale, auf die sich die Überzeugung von der Identität mit dem Betroffenen stützt, noch brauchen diese Merkmale und das Maß der Übereinstimmung beschrieben zu werden. Solche Ausführungen wären auch überflüssig und ohne Wert: Die Überprüfung, ob der Betroffene mit dem abgebildeten Fahrer identisch ist, steht dem Rechtsmittelgericht ohnehin nicht zu und wäre ihm zudem unmöglich. Als Grundlage für die Überprüfung der generellen Ergiebigkeit des Fotos könnten Beschreibungen der Abbildung dem Rechtsmittelgericht keine besseren Erkenntnisse vermitteln, als sie ihm aufgrund der – durch die Bezugnahme ermöglichten – eigenen Anschauung zur Verfügung stehen.

Daraus, dass § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO eine Verweisung nur „wegen der Einzelheiten“ erlaubt, folgt nicht, dass der Tatrichter auch im Falle der Bezugnahme die abgebildete Person (nach Geschlecht, geschätztem Alter, Gesichtsform und weiteren, näher konkretisierten Körpermerkmalen) zu beschreiben habe. Mit der Beschränkung der Verweisungsbefugnis auf „die Einzelheiten“ will das Gesetz sicherstellen, dass die Schilderung des „Aussagegehalts“ der in Bezug genommenen Abbildung nicht ganz entfällt; die Urteilsgründe müssen aus sich selbst heraus verständlich bleiben (LR-Gollwitzer StPO 24. Aufl. § 267 Rdn. 11). In den hier zu beurteilenden Fallgestaltungen – Foto aus einer Verkehrsüberwachung – reicht es dazu aber aus, wenn das Urteil mitteilt, dass es sich bei dem in Bezug genommenen Lichtbild um ein – nach Aufnahmeort und -zeit näher bezeichnetes – Radarfoto (Foto einer Rotlichtüberwachungsanlage usw.) handelt, das das Gesicht einer männlichen oder weiblichen Person zeigt. Weitere Angaben sind, um den Verständniszusammenhang zu wahren, nicht erforderlich (OLG Stuttgart VRS 77, 365). Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ergibt sich nichts Gegenteiliges. Die vom vorlegenden Oberlandesgericht angeführte Entscheidung vom 4. September 1979 – 5 StR 445/79 (bei Pfeiffer NStZ 1981, 296) – betrifft nicht den Fall einer Bezugnahme auf Lichtbilder gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO. Auch das Urteil vom 20. November 1990 – 1 StR 588/90 (BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 3 Verweisung 1) – verhält sich nicht dazu, wie der Begriff „Einzelheiten“ im Sinne dieser Vorschrift zu verstehen ist.

Ist das Foto – etwa aufgrund schlechterer Bildqualität (z.B. erhebliche Unschärfe) oder aufgrund seines Inhalts – zur Identifizierung eines Betroffenen nur eingeschränkt geeignet, so hat der Tatrichter zu erörtern, warum ihm die Identifizierung gleichwohl möglich erscheint. Dabei sind um so höhere Anforderungen an die Begründung zu stellen, je schlechter die Qualität des Fotos ist. Die – auf dem Foto erkennbaren – charakteristischen Merkmale, die für die richterliche Überzeugungsbildung bestimmend waren, sind zu benennen und zu beschreiben.

bb) Sieht der Tatrichter hingegen von der die Abfassung der Urteilsgründe erleichternden Verweisung auf das Beweisfoto ab, so genügt es weder, wenn er das Ergebnis seiner Überzeugungsbildung mitteilt, noch, wenn er die von ihm zur Identifizierung herangezogenen Merkmale auflistet. Vielmehr muß er dem Rechtsmittelgericht, dem das Foto dann nicht als Anschauungsobjekt zur Verfügung steht, durch eine entsprechend ausführliche Beschreibung die Prüfung ermöglichen, ob es für eine Identifizierung geeignet ist. In diesem Fall muß das Urteil Ausführungen zur Bildqualität (insbesondere zur Bildschärfe) enthalten und die abgebildete Person oder jedenfalls mehrere Identifizierungsmerkmale (in ihren charakteristischen Eigenarten) so präzise beschreiben, dass dem Rechtsmittelgericht anhand der Beschreibung in gleicher Weise wie bei Betrachtung des Fotos die Prüfung der Ergiebigkeit des Fotos ermöglicht wird. Die Zahl der zu beschreibenden Merkmale kann dabei um so kleiner sein, je individueller sie sind und je mehr sie in ihrer Zusammensetzung geeignet erscheinen, eine bestimmte Person sicher zu erkennen. Dagegen muß die Beschreibung um so mehr Merkmale umfassen, wenn die geschilderten auf eine Vielzahl von Personen zutreffen und daher weniger aussagekräftig sind. Umstände, die eine Identifizierung erschweren können, sind ebenfalls zu schildern.“

(BGH, Beschluss vom 19. Dezember 1995 – 4 StR 170/95 –, BGHSt 41, 376-385, Rn. 21 – 26)

Das Amtsgericht hat betreffend die Identifizierung aber weder auf das Messfoto verwiesen, so dass es dem Senat nicht zugänglich ist, noch hat es das Foto in einer Art und Weise beschrieben, dass dem Senat allein anhand der Beschreibung in gleicher Weise wie bei der Betrachtung des Fotos die Prüfung ermöglicht worden wäre, ob das Foto generell zur Identifizierung geeignet ist. Weder die Qualität des Messfotos, noch die Feststellung des Amtsgerichtes, auf dem Messfoto sei keine x-jährige Person zu erkennen, ist für den Senat damit überprüfbar. Der Hinweis auf das Messfoto auf Seite 4 Abs. 3 der Urteilsgründe ist im Zusammenhang mit den Feststellungen zur Geschwindigkeitsüberschreitung erfolgt und angesichts der auch im Übrigen verwendeten Klammerzusätze „(Bl. …d.A.)“, die auch Urkunden betreffen, als Verweis ungeeignet.“

Die GStA hatte gemeint, es reiche ein Hinweis an das AG auf die ständige Rechtsprechung des OLG. Das sieht das OLG aber im Hinblick auf den BVerfG, Beschl. v. 27.10.2015 – 2 BvR 3071/14 – anders. Daher Zulassung der Rechtsbeschwerde und (Teil)Aufhebung.

Divers III: Reicht das für eine richterliche Unterschrift?, oder: Anforderungen an die Verfassungsbeschwerde

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Und als dritte Entscheidung des Tages der schon etwas ältere VerfG Brandenburg, Beschl. v. 16.12.2022 – VfGBbg 57/20.

In dem Verfahren richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des OLG Brandenburg. Das hatte die Revision gegen ein landgerichtliches Berufungsurteil als unbegründet verworfen. Der Angeklagate hatte mit seiner Verfahrensrüge geltend gemacht, dass die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils nicht innerhalb des nach § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgeschriebenen Zeitraums zu den Akten gebracht worden seien. Die sich bei den Akten befindlichen Urteilsgründe enthielten eine unzureichende, den Anforderungen des § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht genügende Unterschrift und seien daher lediglich als Urteilsentwurf anzusehen. Auf der letzten Seite der Begründung befinde sich außer der Seitenzahl und dem Aktenzeichen lediglich die gedruckte Unterschriftenzeile „Xyz“. Darüber befinde sich ein nahezu senkrecht verlaufender, L-förmiger Abstrich, der nach circa 1,5 cm in einem kurzen Bogen 90 Grad nach rechts abknicke und sich circa 0,5 cm horizontal fortsetze. Die horizontale Linie setze sich nach einer Unterbrechung leicht ansteigend über circa 4 cm weiter nach rechts fort, sie werde dabei aber an drei weiteren Stellen für jeweils zwischen 1 und 4 Millimetern unterbrochen. Klare Auf- und Abstriche seien nicht zu erkennen. Damit sei das Urteil entgegen § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht von dem Berufsrichter, der an der Entscheidung mitgewirkt habe, unterschrieben.

Das OLG hatte gemeint, dass die Unterzeichnung des angefochtenen Urteils durch den Vorsitzenden der Berufungskammer noch den Anforderungen gerecht werde, die von der Rechtsprechung an eine ordnungsgemäße Unterschrift gestellt würden. Insoweit hatte es sich auf den KG, Beschl. v. 23.03.2020 – 3 Ws [B] 53/20162 Ss 18/20 – bezogen.

Der VerfGH Brandenburg hat leider zur Sache nicht Stellung genommen, sondern die Verfassungsbeschwerde als unzulässig verworfen:

„….3. Im Hinblick auf den gerügten Verstoß gegen Art. 52 Abs. 3 LV genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung.

Notwendig ist nach § 20 Abs. 1 Satz 2, § 46 VerfGGBbg eine Begründung, welche schlüssig die mögliche Verletzung des geltend gemachten Grundrechts des Beschwerdeführers aufzeigt. Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, bedarf es in der Regel einer argumentativen Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung und ihrer konkreten Begründung. Dabei ist auch darzulegen, inwieweit das bezeichnete Grundrecht durch die angegriffene Entscheidung verletzt sein soll und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen sie kollidiert. Dazu bedarf es einer umfassenden einfachrechtlichen und verfassungsrechtlichen Aufarbeitung der Rechtslage. Demnach muss der Beschwerdeführer ausgehend vom Entscheidungsinhalt aufzeigen, worin der Grundrechtsverstoß aus seiner Sicht im Einzelnen liegt (st. Rspr., vgl. Beschlüsse vom 19. Juni 2020 – VfGBbg 10/19, Rn. 7, vom 19. Februar 2021 – VfGBbg 28/20, Rn. 9, vom 20. August 2021 – VfGBbg 68/20, Rn. 20, und vom 21. Januar 2022 – VfGBbg 57/21, Rn. 35, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Diesen Anforderungen wird das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht gerecht.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass es nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts ist, Gerichtsentscheidungen nach Art eines Rechtsmittelgerichts zu überprüfen. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestands, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind vielmehr Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Verfassungsgericht grundsätzlich entzogen. Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt nur in Ausnahmefällen, vornehmlich bei der Verletzung des Gleichheitssatzes in seiner Ausprägung als Willkürverbot, in Betracht. Eine gerichtliche Entscheidung verstößt jedoch nicht bereits bei jeder fehlerhaften Anwendung einfachen Rechts gegen das Willkürverbot, sondern erst, wenn sie unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar und damit schlechthin unhaltbar ist. Sie muss Ausdruck einer objektiv falschen Rechtsanwendung sein, die jeden Auslegungs- und Beurteilungsspielraum außer Acht lässt und ganz und gar unverständlich erscheint. Diese Voraussetzungen liegen u. a. dann vor, wenn sich ein Gericht mit seiner rechtlichen Beurteilung ohne nachvollziehbare Begründung in Widerspruch zu einer durch Rechtsprechung und Schrifttum geklärten Rechtslage setzt oder das Gericht den Inhalt einer Norm krass missdeutet, so dass sich der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht (st. Rspr., vgl. Beschlüsse vom 20. Oktober 2017 – VfGBbg 20/16, vom 16. August 2019 – VfGBbg 67/18, und vom 22. Januar 2021 – VfGBbg 62/18, Rn. 11, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Gemessen daran hat der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Willkürverbot nicht substantiiert aufgezeigt. Die Beschwerde benennt zwar zutreffend die Maßstäbe, nach denen ein Willkürverstoß angenommen werden kann, lässt aber insbesondere die notwenige Auseinandersetzung mit der zur Unterschriftsleistung ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) vermissen. Der Beschwerdeführer legt vielmehr allein die seiner Auffassung nach erfolgte Abweichung des Oberlandesgerichts von den vom Kammergericht Berlin in seiner Entscheidung vom 23. März 2020 (3 Ws [B] 53/20, 162 Ss 18/20) aufgestellten Maßstäben dar. Dies genügt aber zur Begründung der Willkürlichkeit der Entscheidung nicht. Darauf, ob die hier angegriffene Entscheidung von der Rechtsprechung des Kammergerichts Berlin abweicht, kommt es für ihre Vertretbarkeit nicht an, zumal das Brandenburgische Oberlandesgericht an dessen Rechtsprechung nicht gebunden ist. Zu einer Auseinandersetzung mit der vom BGH – auch im zivilrechtlichen Bereich – ergangenen Rechtsprechung hätte zudem auch deshalb Anlass bestanden, weil das Oberlandesgericht in seiner Entscheidung vom 30. April 2020 auf das in NJW 1997, 3380 veröffentlichte Urteil des BGH (vom 10. Juli 1997 – IX ZR 24/97  ) ausdrücklich Bezug genommen hat.

Nach der vom Oberlandesgericht in Bezug genommenen Entscheidung des BGH ergebe sich aus dem Sprachgebrauch und dem Zweck der Formvorschrift, was unter einer Unterschrift zu verstehen sei. Eine Unterschrift setze danach einen individuellen Schriftzug voraus, der sich – ohne lesbar sein zu müssen – als Wiedergabe eines Namens darstelle und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen lasse. Ein Schriftzug, der als bewusste und gewollte Namensabkürzung erscheine (Handzeichen, Paraphe), stelle demgegenüber keine formgültige Unterschrift dar. Es sei zudem ein großzügiger Maßstab anzulegen, wenn die Autorenschaft gesichert sei. Diese Entscheidung spiegelt die gefestigte Rechtsprechung der Zivilsenate wider, wonach die Anforderungen an eine Unterschrift schon dann erfüllt sind, wenn ein die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnender Schriftzug vorliegt, der individuelle und entsprechende charakteristische Merkmale aufweist, die die Nachahmung erschweren, sich als Wiedergabe eines Namens darstellt und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen lässt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Februar 1997 – XII ZB 17/97, Rn. 3, vom 27. September 2005 – VIII ZB 105/04, Rn. 8, und vom 9. Februar 2010 – VIII ZB 67/09, Rn. 10, und Urteil vom 22. Oktober 1993 – V ZR 112/92, Rn. 5) . Eine dem Schriftzug beigefügte vollständige Namenswiedergabe in Maschinen- oder Stempelschrift kann zur Deutung vergleichend herangezogen werden. Der Namenszug kann flüchtig geschrieben sein und braucht weder die einzelnen Buchstaben klar erkennen zu lassen noch im Ganzen lesbar zu sein (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 1991 – XI ZB 6/91, Rn. 11, juris). Auch ein vereinfachter, von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichneter und nicht lesbarer Namenszug kann danach als Unterschrift anzuerkennen sein, wobei insbesondere von Bedeutung ist, ob der Unterzeichner auch sonst in gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Februar 1997 – XII ZB 17/97, Rn. 3, vom 27. September 2005 – VIII ZB 105/04, Rn. 8, und vom 9. Februar 2010 – VIII ZB 67/09, Rn. 10, juris). Auch in Strafsachen hat der BGH ausgeführt, dass in nicht unbedenklicher Weise abstrahierte Unterschriften noch den Anforderungen genügen können (BGH, Beschluss vom 30. August 1988 – 1 StR 377/88, Rn. 3, juris).

Vor dem Hintergrund dieser großzügigen Rechtsprechung hätte es zur Begründung der Willkürlichkeit der angegriffenen Entscheidung einer weitergehenden Auseinandersetzung mit den an eine Unterschrift zu stellenden Maßstäben bedurft, zumal der Beschwerdeführer die – nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für die Bewertung als Unterschrift bedeutsame – Beurteilung des Senats, dass es sich ersichtlich nicht lediglich um eine Paraphe handelt, ebenso wenig in Zweifel gezogen hat wie die tatsächliche Urheberschaft des Vizepräsidenten des Landgerichts an dem in Rede stehenden Schriftzug und den Umstand, dass der Vizepräsident auch sonst in gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt. Letzteres stellt auch nicht ein etwaiges Sonderwissen der Richter des Oberlandesgerichts dar, sondern ergibt sich auch aus den zum Strafverfahren geführten Akten. Bereits auf der der Verfassungsbeschwerde ebenfalls in Kopie beigefügten Abschlussverfügung befindet sich eine vergleichbare Unterschriftsleistung.

Die Möglichkeit eines Verstoßes gegen das Willkürverbot hat der Beschwerdeführer schließlich auch nicht insoweit aufgezeigt, als er die Annahme der Generalstaatsanwaltschaft in Frage gestellt hat, wonach eine fehlende Unterschrift unter dem landgerichtlichen Urteil den Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO von vornherein nicht zu begründen vermöge. Auf die Vertretbarkeit dieser Auffassung kommt es nicht an, weil es insoweit jedenfalls an der Darlegung der Kausalität eines etwaigen Verfassungsverstoßes fehlt. Der Beschwerdeführer hat selbst darauf hingewiesen, dass das Brandenburgische Oberlandesgericht die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft zwar zunächst in Bezug genommen, den Schriftzug des Vorsitzenden aber sodann dennoch einer eigenständigen Prüfung unterzogen hat, bei der es zu dem Schluss gekommen ist, dass die von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen erfüllt sind. Auf der Annahme, eine fehlende Unterschrift könne den Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO nicht begründen, beruht die angegriffene Entscheidung danach jedenfalls nicht.“

Na ja, schade…. Ich hätte schon gerne erfahren, ob die Striche eine „Unterschrift“ sind. Ich habe da so meine Zweifel, auch wenn Vizepräsidenten von LG vielleicht so „unterschreiben“ ?

Revision II: Zum Verstoß gegen Hinweispflicht, oder: Welche Bedeutung hatte die geänderte Tatzeit?

Und als zweite Entscheidung hier der KG, Beschl. v. 05.04.2023 – 4 ORs 17/23 – 161 Ss 30/23 – zu den Anforderungen an eine Verfahrensrüge bei Verstoß gegen Hinweispflicht.

„1. Die Verfahrensrüge des Angeklagten, das Landgericht habe ihn entgegen § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO nicht auf die gegenüber der Anklageschrift veränderte Tatzeit hingewiesen, ist unzulässig.

a) Es kann dahinstehen, ob die Verfahrensrüge – wie die Generalstaatsanwaltschaft meint – unzulässig ist, weil nicht ausgeführt worden sei, ob der Angeklagte durch den Gang der Hauptverhandlung über die Veränderung der Sachlage hinreichend unterrichtet wurde und daher ein ausdrücklicher gerichtlicher Hinweis entbehrlich war (vgl. in diesem Sinne der 5. Strafsenat des BGH, NStZ 2019, 239; offengelassen vom 1. Strafsenat in NStZ 2020, 97, 99), oder ob nach der Neufassung des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO durch das „Gesetz zur effektiven und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17. August 2017 (BGBl. I Seite 3202) ein solcher Vortrag nicht erforderlich ist, weil stets ein förmlicher Hinweis auf die Änderung der Sachlage erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2021 – 4 StR 272/21 – [juris]; NStZ 2019, 236 [3. Strafsenat]).

b) Denn die Verfahrensrüge ist unzulässig, weil der Angeklagte nicht entsprechend den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ausgeführt hat, inwieweit die geänderte Tatzeit für sein Verteidigungsverhalten bedeutsam war.

Gemäß § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO besteht eine besondere Hinweispflicht auf eine veränderte Sachlage nur, wenn ein Hinweis zur genügenden Verteidigung des Angeklagten erforderlich ist. Der Gesetzgeber hat mit der Vorschrift an die ständige Rechtsprechung angeknüpft, wonach eine Veränderung der Sachlage eine Hinweispflicht auslöst, wenn sie in ihrem Gewicht einer Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts gleichsteht (vgl. BT-Drucks. 18/11277, Seite 37 unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 20. November 2014 – 4 StR 234/14 – [juris-Rdn. 13]). Die durch den Bundesgerichtshof hierzu entwickelten Grundsätze (vgl. BGH NStZ 2015, 233, 234; NStZ-RR 1997, 72; Norouzi in MüKo/StPO, § 265 Rdn. 48 ff. mwN) wollte der Gesetzgeber kodifizieren, weitergehende Hinweispflichten hingegen nicht einführen (vgl. BGH NStZ 2020, 97; 2019, 239; Bartel in KK, StPO 9. Auflage, § 265 Rdn. 26). Nach der Gesetzesbegründung lösen „nur solche Veränderungen die Hinweispflicht aus […], die für das Verteidigungsverhalten des Angeklagten bedeutsam sind“ (BT-Dr. 18/11277, Seite 36). Danach können Hinweispflichten auf eine geänderte Sachlage bei einer wesentlichen Veränderung des Tatbildes beispielsweise betreffend die Tatzeit, den Tatort, das Tatobjekt, das Tatopfer, die Tatrichtung oder eine Person des Beteiligten bestehen (vgl. BGH NStZ-RR 2022, 383; NStZ 2019, 239; 2015, 233, 234; BGHSt 56, 121, 123 ff.; 28, 196, 197 f.). Bezugspunkt der Prüfung ist die Frage, ob die Veränderung der Sachlage nach den Umständen des Einzelfalls einen für die Verteidigung wesentlichen Punkt betrifft (vgl. Arnoldi NStZ 2020, 99, 101; Bartel aaO). Ein Hinweis auf eine Veränderung der Tatzeit ist demnach insbesondere erforderlich, wenn der Angeklagte für die angeklagte Zeit ein Alibi vorbringt (vgl. BGH StV 2019, 818; NStZ-RR 2006, 213; NStZ 1994, 502).

Um dem Revisionsgericht die Prüfung eines Verstoßes gegen § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO zu ermöglichen, muss der Revisionsführer gemäß § 344 Absatz 2 Satz 2 StPO die den Mangel begründenden Tatsachen so vollständig und genau angeben, dass das Revisionsgericht allein aufgrund der Begründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen zutreffen (vgl. BVerfG NJW 2005, 1999, 2001; BGH NStZ-RR 2013, 222; NJW 2007, 3010, 3011; 1995, 2047; BGHSt 29, 203; 21, 334, 340). Dazu zählt auch der Vortrag, inwieweit der Hinweis für die genügende Verteidigung des Angeklagten erforderlich war, wenn sich dies nicht von selbst versteht. Denn nur unter dieser Voraussetzung besteht – wie dargelegt – für das Gericht überhaupt die Rechtspflicht, einen Hinweis zu erteilen (vgl. BGH NStZ 2019, 239 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 13. Januar 2022 – 5 RVs 4/22 – [juris-Rdn. 10]). Deshalb ist in ausreichender Weise vorzutragen, warum der Angeklagte durch das Unterlassen des Hinweises in seiner Verteidigung beschränkt war und wie er sein Verteidigungsverhalten nach erfolgtem Hinweis anders hätte einrichten können (vgl. BGH aaO; Urteil vom 25. März 1992 – 3 StR 519/91 – [juris Rdn. 15 ff.]).

Daran fehlt es hier. Der Angeklagte hätte als Revisionskläger vortragen müssen, wie er sich im Verfahren verteidigt hat, insbesondere ob und wie er sich eingelassen hat, und wie sich ein Hinweis auf die geänderte Tatzeit daher auf sein Verteidigungs- und/oder Einlassungsverhalten ausgewirkt hätte. Insbesondere hat er nicht vorgetragen, für die in der Anklageschrift genannte Tatzeit („gegen 18:15 Uhr“) in der Hauptverhandlung ein Alibi vorgetragen oder etwa dahingehende (Beweis-)Anträge gestellt zu haben. Er hat auch nicht ausgeführt, für die im Urteil festgestellte Tatzeit („gegen 16:45 Uhr“) ein Alibi gehabt zu haben. Bei dieser Sachlage genügt das Revisionsvorbringen, der Angeklagte hätte sich bei Kenntnis der genauen Tatzeit um weitere Entlastungszeugen kümmern können und auf der Plattform „Youtube“ nach entlastenden Videoaufnahmen suchen können, nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Der Senat kann auf Grundlage der Begründungsschrift nicht beurteilen, ob ein Hinweis auf die geänderte Tatzeit – was sich auch nicht von selbst versteht – für das Verteidigungsverhalten des Angeklagten bedeutsam war und daher der unterbliebene förmliche Hinweis einen Verfahrensfehler begründet.“

BVerfG II: Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. oder: Anforderungen an Gegenbeweis nach § 418 ZPO

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Die zweite Entscheidung des BVerfG, der BVerfG, Beschl. v. 09.01.2023 – 2 BvR 2697/18 -, befasst sich noch einmal mit der Erforderlichkeit der Erhebung einer Anhörungsrüge vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde und dem Gegenbeweis nach § 418 ZPO.

Das BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde verworfen und dabei zu den beiden Punkten wie folgt Stellung genommen:

„Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie mangels erhobener Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO dem Grundsatz der Subsidiarität nicht gerecht wird.

I.

Der in § 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt, dass Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>). Das kann auch bedeuten, dass Beschwerdeführer zur Wahrung des Subsidiaritätsgebots gehalten sind, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit den gegebenen Rechtsbehelfen, insbesondere mit einer Anhörungsrüge, anzugreifen. Dies gilt selbst dann, wenn sie im Rahmen der ihnen insoweit zustehenden Dispositionsfreiheit mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen wollen (vgl. BVerfGE 126, 1 <17 f.>), durch den fachgerichtlichen Rechtsbehelf aber die Möglichkeit wahren, dass bei Erfolg der Anhörungsrüge in den vor den Fachgerichten gegebenenfalls erneut durchzuführenden Verfahrensschritten auch andere Grundrechtsverletzungen, durch die sie sich beschwert fühlen, beseitigt werden (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 27>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. April 2005 – 1 BvR 644/05 -, Rn. 10).

Die Verweisung auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde steht allerdings unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit einer anderweitigen prozessualen Möglichkeit zur Abhilfe (vgl. BVerfGE 132, 99 <117 Rn. 45>). Zur Vermeidung der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, in der sich der Beschwerdeführer nicht auf eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruft, muss er eine Anhörungsrüge oder den sonst gegen eine Gehörsverletzung gegebenen Rechtsbehelf nur dann ergreifen, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten ist, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 f. Rn. 28>).

II.

So liegt der Fall hier. Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Landgericht habe unzulässig im Rahmen der – vorgelagerten – Prüfung der ordnungsgemäßen Zustellung die Anforderungen an die Erschütterung der Beweiskraft der Postzustellungsurkunde nach § 418 Abs. 2 ZPO mit dem – die nachgelagerte Frage der Wiedereinsetzung betreffenden – Glaubhaftmachungsmaßstab des § 45 Abs. 2 StPO vermengt und in der Folge seine Beweisangebote unzulässigerweise abgelehnt, hätte es für einen vernünftigen Verfahrensbeteiligten nahegelegen, eine Anhörungsrüge zum Landgericht zu erheben.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt die Nichtberücksichtigung eines als sachdienlich und erheblich angesehenen Beweisangebots dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfGE 69, 141 <144>; 105, 279 <311>). Auch in Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, darf die Nichtberücksichtigung eines Beweisantrags nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen, sondern muss eine Stütze im Prozessrecht finden (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. September 2009 – 1 BvR 3501/08 -, juris, Rn. 13). Bei einem Einspruch gegen den Strafbefehl ist vom Gericht zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob die Einspruchsfrist des § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO gewahrt ist. Dabei ist es von Verfassungs wegen geboten, dass das Gericht sich mit besonderer Sorgfalt die erforderliche Überzeugung vom Beginn der Einspruchsfrist verschafft (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Oktober 2020 – 2 BvR 554/20 -, juris, Rn. 31, 34 m.w.N.).

2. Hiernach liegt eine Gehörsverletzung durch das Landgericht jedenfalls nahe.

Der Beschwerdeführer beruft sich darauf, dass seine Beweisangebote betreffend den Beginn der Einspruchsfrist unter dem Gesichtspunkt der Glaubhaftmachung durch das Landgericht als unstatthaft erachtet worden seien, während tatsächlich gemäß § 418 Abs. 2 ZPO Beweis über den Zustellungszeitpunkt hätte erhoben werden müssen; daher sei das Landgericht unter Verkennung des fachprozessualen Maßstabs davon ausgegangen, dass die Einspruchsfrist am 17. April 2018 in Gang gesetzt worden und der Einspruch vom 9. Mai 2018 somit verfristet gewesen sei. In der Sache macht der Beschwerdeführer also die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots unter eklatantem Verstoß gegen das Prozessrecht geltend. Diese Rüge dürfte zutreffen.

a) Wird ein Strafbefehl nicht ordnungsgemäß zugestellt, wird die Einspruchsfrist nicht in Gang gesetzt. Die Frage des Zustellungszeitpunktes ist daher der Frage einer möglichen Verfristung und anschließenden Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist vorgelagert. Bei der Prüfung, ob einem Beschuldigten ein Strafbefehl wirksam zugestellt wurde, sind die Fachgerichte gehalten, den Grundsatz rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung zu beachten. Sie dürfen bei der Anwendung und Auslegung der prozessrechtlichen Vorschriften, die die Gewährung rechtlichen Gehörs sichern sollen, keine überspannten Anforderungen stellen. Dies gilt insbesondere, wenn – wie hier – der erste Zugang zu Gericht infrage steht (vgl. BVerfGE 37, 100 <101 f.>; vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 19).

Gemäß § 418 Abs. 1 ZPO begründen öffentliche Urkunden wie die Postzustellungsurkunde zwar vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, also insbesondere den Umstand der Zustellung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Allerdings lässt § 418 Abs. 2 ZPO den Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen zu. Dieser Gegenbeweis lässt sich aber nicht durch die bloße Behauptung führen, das betreffende Schriftstück nicht erhalten zu haben, weil es für die Wirksamkeit der Zustellung nicht darauf ankommt, ob und wann der Adressat das Schriftstück seinem Briefkasten entnommen und ob er es tatsächlich zur Kenntnis genommen hat. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen erfordert vielmehr den Beweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufs, der damit ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt. Hierfür bedarf es einer substantiierten Darlegung der Umstände, die gegen die Richtigkeit des Inhalts der öffentlichen Urkunde sprechen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Februar 2002 – 2 BvR 2017/01 -, Rn. 4; Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 23 m.w.N.). Hinreichend substantiierte Darlegungen können – selbst wenn sie die Beweiskraft der Zustellungsurkunde nicht beseitigen – den Gerichten Anlass bieten, weitere Nachforschungen anzustellen (vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 25; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Februar 2002 – 2 BvR 2017/01 -, Rn. 7). Kommt ein Gericht zu dem Ergebnis, dass der volle Beweis für den Zugang eines Schriftstücks mit den vorgelegten Mitteln der Glaubhaftmachung nicht erbracht ist, muss es darauf hinweisen und den Betroffenen Gelegenheit geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen; sodann hat es – auf Antrag oder von Amts wegen – über die behaupteten Umstände Beweis zu erheben (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZB 39/19 -, juris, Rn. 18 zur fristgerechten Einreichung eines Berufungsschriftsatzes).

b) Dies zugrunde gelegt, liegt es nahe, dass die Rechtsanwendung des Landgerichts keine Stütze im Prozessrecht mehr findet.

Zwar begegnet es keinen Bedenken, dass das Landgericht im Ausgangspunkt angenommen hat, dass mit der Postzustellungsurkunde zunächst der volle Beweis über die Zustellung des Strafbefehls am 17. April 2018 erbracht gewesen sei. Der Beschwerdeführer hatte hierzu jedoch vorgetragen, dass durch eine Vernehmung seines Bruders sowie des Postzustellers die Unrichtigkeit der in der Postzustellungsurkunde bezeugten Tatsachen bewiesen werden könne, und eine entsprechende Beweiserhebung beantragt. Mit seinem Tatsachenvortrag zum Ablauf der Zustellung und seinem diesbezüglichen Beweisangebot hat der Beschwerdeführer die Frage nach der Erschütterung der Postzustellungsurkunde und dem darin bezeugten Zustellzeitpunkt aufgeworfen. Nach den unter a) ausgeführten Maßstäben wäre diesem Tatsachenvortrag gemäß § 418 Abs. 2 ZPO im Rahmen der Frage, wann dem Beschwerdeführer der Strafbefehl zugegangen ist, weiter nachzugehen beziehungsweise hierüber Beweis zu erheben gewesen, sofern dieser Vortrag hinreichend substantiiert und das angebotene Beweismittel erheblich war; insbesondere gilt insoweit keine Beschränkung auf präsente Beweismittel.

Der Umstand, dass das Landgericht als Zeitpunkt für die Zustellung des Strafbefehls und damit für den Fristbeginn ohne gesonderte Begründung den 17. April 2018 feststellt, legt nahe, dass das Landgericht den dargestellten Prüfungsmaßstab verkannt hat. Stattdessen prüft es das Vorbringen des Beschwerdeführers ausschließlich als Wiedereinsetzungsantrag am Maßstab des § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO; lediglich im Rahmen dieser Prüfung kommt es auf § 418 Abs. 2 ZPO zu sprechen. Nach seiner Auffassung habe der Beschwerdeführer den vollen Gegenbeweis nicht erbracht, da es an einem geeigneten Mittel der Glaubhaftmachung fehle. Es sei nicht Sache des Gerichts, von sich aus Zeugen zu vernehmen oder vernehmen zu lassen. Wie ausgeführt, ist der Beschwerdeführer hinsichtlich des Gegenbeweises zum in der Postzustellungsurkunde genannten Zustellzeitpunkt jedoch nicht auf präsente Beweismittel beschränkt. Sofern der Tatsachenvortrag hinreichend substantiiert und erheblich ist, hat das Gericht dem Beweisangebot nachzugehen.

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf der naheliegenden Verletzung des Prozessgrundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfGE 86, 133 <147>; 89, 381 <392>; 92, 158 <184 f.>). Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht, sofern es den zutreffenden prozessrechtlichen Maßstab zugrunde gelegt hätte, das Vorbringen des Beschwerdeführers als hinreichend substantiiert und erheblich berücksichtigt und eine Vernehmung seines Bruders durchgeführt hätte.“

Nebenklage I: Begründung der Nebenklägerrevision, oder: Wieder mal eine unzulässige Revision…..

Und dann

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heute Entscheidungen zur StPO, mit der „Unterkategorie“ Nebenklage.

Den Opener zum Warmwerden mache ich mit dem BGH, Beschl. v. 01.12.2022 – 3 StR 471/21. 

Das ist der Klassiker aus dem Bereich, nämlich die Frage nach den Anforderungen an die Revisionsbegründung des Nebenklägers. Man fragt sich, wie oft der BGh dazu eigentlich noch Stellung nehemn muss; offenbar wird das, was er dazu schreibt, von denjenigen, die es angeht, nicht gelesen. So auch hier.

Das LG hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung und Körperverletzung verurteilt. Dagegen die auf die Sachrüge gestützte Revision des Nebenklägers, die (mal wieder) unzulässig ist. Denn:

„Gemäß § 400 Abs. 1 StPO kann der Nebenkläger ein Urteil nicht mit dem Ziel anfechten, dass eine andere Rechtsfolge der Tat verhängt oder dass ein Angeklagter wegen einer Gesetzesverletzung verurteilt wird, die nicht zum Anschluss als Nebenkläger berechtigt. Die Begründung der Revision des Nebenklägers muss daher erkennen lassen, dass er mit seinem Rechtsmittel ein zulässiges Ziel verfolgt, also einen bisher unterbliebenen Schuldspruch des Angeklagten (auch) wegen einer Straftat, die die Berechtigung des Nebenklägers zum Anschluss an das Verfahren begründet; wird eine derartige Präzisierung bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist nicht vorgenommen, ist das Rechtsmittel unzulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2012 – 3 StR 360/12, juris Rn. 2 f.; Urteil vom 26. Juli 2007 – 3 StR 221/07, NStZ 2007, 700, 701). So liegt es hier. Der Nebenkläger hat lediglich die allgemeine Sachrüge erhoben. Weitere Ausführungen, aus denen sich das konkrete Ziel seines Rechtsmittels entnehmen ließe, sind bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist nicht eingegangen. Ein Ausnahmefall, in dem auf eine derartige Klarstellung verzichtet werden könnte (vgl. BGH, Urteil vom 27. Oktober 1989 – 3 StR 148/89, BGHR StPO § 400 Abs. 1 Zulässigkeit 3), liegt nicht vor.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO. Der Nebenkläger hat danach auch die durch seine Revision entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen. Zwar hat auch die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt, so dass der Nebenkläger sein Rechtsmittel nicht „allein“ im Sinne des § 473 Abs. 1 Satz 3 StPO durchgeführt hat. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist jedoch nicht nach § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO erfolglos geblieben; auf ihr Rechtsmittel hat der Senat mit Urteil vom heutigen Tag das Urteil des Landgerichts teilweise aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung zurückverwiesen. In einer solchen Konstellation findet § 473 Abs. 1 Satz 3 StPO keine Anwendung.“

Wie gesagt: Wie oft den noch?