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Divers III: Reicht das für eine richterliche Unterschrift?, oder: Anforderungen an die Verfassungsbeschwerde

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Und als dritte Entscheidung des Tages der schon etwas ältere VerfG Brandenburg, Beschl. v. 16.12.2022 – VfGBbg 57/20.

In dem Verfahren richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des OLG Brandenburg. Das hatte die Revision gegen ein landgerichtliches Berufungsurteil als unbegründet verworfen. Der Angeklagate hatte mit seiner Verfahrensrüge geltend gemacht, dass die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils nicht innerhalb des nach § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgeschriebenen Zeitraums zu den Akten gebracht worden seien. Die sich bei den Akten befindlichen Urteilsgründe enthielten eine unzureichende, den Anforderungen des § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht genügende Unterschrift und seien daher lediglich als Urteilsentwurf anzusehen. Auf der letzten Seite der Begründung befinde sich außer der Seitenzahl und dem Aktenzeichen lediglich die gedruckte Unterschriftenzeile „Xyz“. Darüber befinde sich ein nahezu senkrecht verlaufender, L-förmiger Abstrich, der nach circa 1,5 cm in einem kurzen Bogen 90 Grad nach rechts abknicke und sich circa 0,5 cm horizontal fortsetze. Die horizontale Linie setze sich nach einer Unterbrechung leicht ansteigend über circa 4 cm weiter nach rechts fort, sie werde dabei aber an drei weiteren Stellen für jeweils zwischen 1 und 4 Millimetern unterbrochen. Klare Auf- und Abstriche seien nicht zu erkennen. Damit sei das Urteil entgegen § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht von dem Berufsrichter, der an der Entscheidung mitgewirkt habe, unterschrieben.

Das OLG hatte gemeint, dass die Unterzeichnung des angefochtenen Urteils durch den Vorsitzenden der Berufungskammer noch den Anforderungen gerecht werde, die von der Rechtsprechung an eine ordnungsgemäße Unterschrift gestellt würden. Insoweit hatte es sich auf den KG, Beschl. v. 23.03.2020 – 3 Ws [B] 53/20162 Ss 18/20 – bezogen.

Der VerfGH Brandenburg hat leider zur Sache nicht Stellung genommen, sondern die Verfassungsbeschwerde als unzulässig verworfen:

„….3. Im Hinblick auf den gerügten Verstoß gegen Art. 52 Abs. 3 LV genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung.

Notwendig ist nach § 20 Abs. 1 Satz 2, § 46 VerfGGBbg eine Begründung, welche schlüssig die mögliche Verletzung des geltend gemachten Grundrechts des Beschwerdeführers aufzeigt. Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, bedarf es in der Regel einer argumentativen Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung und ihrer konkreten Begründung. Dabei ist auch darzulegen, inwieweit das bezeichnete Grundrecht durch die angegriffene Entscheidung verletzt sein soll und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen sie kollidiert. Dazu bedarf es einer umfassenden einfachrechtlichen und verfassungsrechtlichen Aufarbeitung der Rechtslage. Demnach muss der Beschwerdeführer ausgehend vom Entscheidungsinhalt aufzeigen, worin der Grundrechtsverstoß aus seiner Sicht im Einzelnen liegt (st. Rspr., vgl. Beschlüsse vom 19. Juni 2020 – VfGBbg 10/19, Rn. 7, vom 19. Februar 2021 – VfGBbg 28/20, Rn. 9, vom 20. August 2021 – VfGBbg 68/20, Rn. 20, und vom 21. Januar 2022 – VfGBbg 57/21, Rn. 35, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Diesen Anforderungen wird das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht gerecht.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass es nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts ist, Gerichtsentscheidungen nach Art eines Rechtsmittelgerichts zu überprüfen. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestands, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind vielmehr Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Verfassungsgericht grundsätzlich entzogen. Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt nur in Ausnahmefällen, vornehmlich bei der Verletzung des Gleichheitssatzes in seiner Ausprägung als Willkürverbot, in Betracht. Eine gerichtliche Entscheidung verstößt jedoch nicht bereits bei jeder fehlerhaften Anwendung einfachen Rechts gegen das Willkürverbot, sondern erst, wenn sie unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar und damit schlechthin unhaltbar ist. Sie muss Ausdruck einer objektiv falschen Rechtsanwendung sein, die jeden Auslegungs- und Beurteilungsspielraum außer Acht lässt und ganz und gar unverständlich erscheint. Diese Voraussetzungen liegen u. a. dann vor, wenn sich ein Gericht mit seiner rechtlichen Beurteilung ohne nachvollziehbare Begründung in Widerspruch zu einer durch Rechtsprechung und Schrifttum geklärten Rechtslage setzt oder das Gericht den Inhalt einer Norm krass missdeutet, so dass sich der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht (st. Rspr., vgl. Beschlüsse vom 20. Oktober 2017 – VfGBbg 20/16, vom 16. August 2019 – VfGBbg 67/18, und vom 22. Januar 2021 – VfGBbg 62/18, Rn. 11, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Gemessen daran hat der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Willkürverbot nicht substantiiert aufgezeigt. Die Beschwerde benennt zwar zutreffend die Maßstäbe, nach denen ein Willkürverstoß angenommen werden kann, lässt aber insbesondere die notwenige Auseinandersetzung mit der zur Unterschriftsleistung ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) vermissen. Der Beschwerdeführer legt vielmehr allein die seiner Auffassung nach erfolgte Abweichung des Oberlandesgerichts von den vom Kammergericht Berlin in seiner Entscheidung vom 23. März 2020 (3 Ws [B] 53/20, 162 Ss 18/20) aufgestellten Maßstäben dar. Dies genügt aber zur Begründung der Willkürlichkeit der Entscheidung nicht. Darauf, ob die hier angegriffene Entscheidung von der Rechtsprechung des Kammergerichts Berlin abweicht, kommt es für ihre Vertretbarkeit nicht an, zumal das Brandenburgische Oberlandesgericht an dessen Rechtsprechung nicht gebunden ist. Zu einer Auseinandersetzung mit der vom BGH – auch im zivilrechtlichen Bereich – ergangenen Rechtsprechung hätte zudem auch deshalb Anlass bestanden, weil das Oberlandesgericht in seiner Entscheidung vom 30. April 2020 auf das in NJW 1997, 3380 veröffentlichte Urteil des BGH (vom 10. Juli 1997 – IX ZR 24/97  ) ausdrücklich Bezug genommen hat.

Nach der vom Oberlandesgericht in Bezug genommenen Entscheidung des BGH ergebe sich aus dem Sprachgebrauch und dem Zweck der Formvorschrift, was unter einer Unterschrift zu verstehen sei. Eine Unterschrift setze danach einen individuellen Schriftzug voraus, der sich – ohne lesbar sein zu müssen – als Wiedergabe eines Namens darstelle und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen lasse. Ein Schriftzug, der als bewusste und gewollte Namensabkürzung erscheine (Handzeichen, Paraphe), stelle demgegenüber keine formgültige Unterschrift dar. Es sei zudem ein großzügiger Maßstab anzulegen, wenn die Autorenschaft gesichert sei. Diese Entscheidung spiegelt die gefestigte Rechtsprechung der Zivilsenate wider, wonach die Anforderungen an eine Unterschrift schon dann erfüllt sind, wenn ein die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnender Schriftzug vorliegt, der individuelle und entsprechende charakteristische Merkmale aufweist, die die Nachahmung erschweren, sich als Wiedergabe eines Namens darstellt und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen lässt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Februar 1997 – XII ZB 17/97, Rn. 3, vom 27. September 2005 – VIII ZB 105/04, Rn. 8, und vom 9. Februar 2010 – VIII ZB 67/09, Rn. 10, und Urteil vom 22. Oktober 1993 – V ZR 112/92, Rn. 5) . Eine dem Schriftzug beigefügte vollständige Namenswiedergabe in Maschinen- oder Stempelschrift kann zur Deutung vergleichend herangezogen werden. Der Namenszug kann flüchtig geschrieben sein und braucht weder die einzelnen Buchstaben klar erkennen zu lassen noch im Ganzen lesbar zu sein (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 1991 – XI ZB 6/91, Rn. 11, juris). Auch ein vereinfachter, von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichneter und nicht lesbarer Namenszug kann danach als Unterschrift anzuerkennen sein, wobei insbesondere von Bedeutung ist, ob der Unterzeichner auch sonst in gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Februar 1997 – XII ZB 17/97, Rn. 3, vom 27. September 2005 – VIII ZB 105/04, Rn. 8, und vom 9. Februar 2010 – VIII ZB 67/09, Rn. 10, juris). Auch in Strafsachen hat der BGH ausgeführt, dass in nicht unbedenklicher Weise abstrahierte Unterschriften noch den Anforderungen genügen können (BGH, Beschluss vom 30. August 1988 – 1 StR 377/88, Rn. 3, juris).

Vor dem Hintergrund dieser großzügigen Rechtsprechung hätte es zur Begründung der Willkürlichkeit der angegriffenen Entscheidung einer weitergehenden Auseinandersetzung mit den an eine Unterschrift zu stellenden Maßstäben bedurft, zumal der Beschwerdeführer die – nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für die Bewertung als Unterschrift bedeutsame – Beurteilung des Senats, dass es sich ersichtlich nicht lediglich um eine Paraphe handelt, ebenso wenig in Zweifel gezogen hat wie die tatsächliche Urheberschaft des Vizepräsidenten des Landgerichts an dem in Rede stehenden Schriftzug und den Umstand, dass der Vizepräsident auch sonst in gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt. Letzteres stellt auch nicht ein etwaiges Sonderwissen der Richter des Oberlandesgerichts dar, sondern ergibt sich auch aus den zum Strafverfahren geführten Akten. Bereits auf der der Verfassungsbeschwerde ebenfalls in Kopie beigefügten Abschlussverfügung befindet sich eine vergleichbare Unterschriftsleistung.

Die Möglichkeit eines Verstoßes gegen das Willkürverbot hat der Beschwerdeführer schließlich auch nicht insoweit aufgezeigt, als er die Annahme der Generalstaatsanwaltschaft in Frage gestellt hat, wonach eine fehlende Unterschrift unter dem landgerichtlichen Urteil den Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO von vornherein nicht zu begründen vermöge. Auf die Vertretbarkeit dieser Auffassung kommt es nicht an, weil es insoweit jedenfalls an der Darlegung der Kausalität eines etwaigen Verfassungsverstoßes fehlt. Der Beschwerdeführer hat selbst darauf hingewiesen, dass das Brandenburgische Oberlandesgericht die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft zwar zunächst in Bezug genommen, den Schriftzug des Vorsitzenden aber sodann dennoch einer eigenständigen Prüfung unterzogen hat, bei der es zu dem Schluss gekommen ist, dass die von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen erfüllt sind. Auf der Annahme, eine fehlende Unterschrift könne den Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO nicht begründen, beruht die angegriffene Entscheidung danach jedenfalls nicht.“

Na ja, schade…. Ich hätte schon gerne erfahren, ob die Striche eine „Unterschrift“ sind. Ich habe da so meine Zweifel, auch wenn Vizepräsidenten von LG vielleicht so „unterschreiben“ ?

Bewährung I: Widerruf bei erneuter Straffälligkeit, oder: Bindung an zeitnahe Prognose des Tatgerichts?

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Heute stelle ich dann drei Entscheidungen vor, die sich zu Bewährungsfragen verhalten.

Ich beginne mit dem VerfG Brandenburg, Beschl. v. 18.11.2022 – 13/22 EA. Folgender Sachverhalt: Die Antragstellerin begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung, und zwar soll die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bis zur Entscheidung über der Verfassungsbeschwerde, mit der sie sich gegen den Widerruf der ihr bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung wendet, ausgesetzt werden.

Die mehrfach u. a. wegen Betrugsdelikten vorbestrafte Antragstellerin ist durch Urteil des AG Rathenow vom 25.06.2019 u.a. wegen Betrugs in Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Amtsgericht ordnete zudem ein Berufsverbot an. Der Antragstellerin wurde für die Dauer von drei Jahren verboten, den Beruf der Altenpflegerin oder einen Beruf, der die Alten- oder Seniorenpflege zum Gegenstand hat, auszuüben.

Die Antragstellerin hat dann zum 01.01.2020, etwa zweieinhalb Monate nach Rechtskraft der Anordnung des Berufsverbots durch das AG, eine Beschäftigung als Altenpflegerin aufgenommen. Wegen Verstoßes gegen das Berufsverbot wurde die Antragstellerin durch Urteil des AG Potdsam u einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auf die dagegen eingelegte Berufung der Antragstellerin änderte das LG Potsdam das Urteil hingehend ab, dass die Vollstreckung der darin verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Das AG Rathenow („Vollstreckungsgericht“) widerrief dann durch Beschluss vom 18.08.2022 die durch Urteil des AG Rathenow vom 25.06.2019 gewährte Strafaussetzung zur Bewährung. Dagegen die sofortige Beschwerde begründete die Antragstellerin, die beim LG Potsdam keinen Erfolg hatte. Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das VerfG hat den Antrag zurückgewiesen:

„2. Eine einstweilige Anordnung kann danach nicht ergehen. Es ist schon jetzt absehbar, dass die Verfassungsbeschwerde unbegründet ist.

Der Beschluss des Landgerichts Potsdam verletzt die Antragstellerin erkennbar nicht in ihrem Freiheitsgrundrecht aus Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV.

Die Beschwerdekammer hat bei der Auslegung und Anwendung des § 56f StGB weder den Inhalt und die Tragweite des Freiheitsgrundrechts aus Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV verkannt, noch ist sie objektiv unvertretbar oder willkürlich.

a) Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) bzw. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV und der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens verlangen im Strafvollstreckungsverfahren ein Mindestmaß an zuverlässiger Wahrheitserforschung (Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 3/21 -, Rn. 24 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Zudem ist der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe gerichtlicher Entscheidungen Rechnung zu tragen. Eine tragfähig begründete Entscheidung über einen Bewährungswiderruf setzt daher eine auf zureichender Sachaufklärung beruhende, in sich schlüssige und nachvollziehbare Feststellung der Widerrufsvoraussetzungen voraus; die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts genügt insoweit nicht (Beschluss vom 29. September 2021 – VfGBbg 19/21 EA -, Rn. 19, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

b) Gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB widerruft das Gericht die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts obliegen bei der nach § 56f StGB zu treffenden Entscheidung den Strafgerichten, denen hierbei eine Einschätzungsprärogative zusteht (vgl. Beschlüsse vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 3/21 -, Rn. 24 m. w. N., und vom 17. Dezember 2009 – VfGBbg 51/09 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Die verfassungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich lediglich darauf, ob die gerichtliche Entscheidung objektiv unvertretbar ist oder die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite des durch Art. 2 Abs. 2 GG bzw. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV verbürgten Freiheitsrechts verkennt (Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 3/21 -, Rn. 24 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Die rechtskräftige Verurteilung wegen einer neuen Straftat ist ein zur Überzeugungs-bildung des für § 56f StGB zuständigen Gerichts ausreichendes, aber nicht bindendes Indiz für das entsprechende Bewährungsversagen (Groß/Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 40).

Bei neuen Straftaten des Probanden ist die Reaktion anderer Gerichte hierauf, soweit es um Strafaussetzung geht, für das Vollstreckungsgericht nicht präjudiziell. Dieses ist also nicht daran gehindert, die Strafaussetzung zu widerrufen, obwohl das Gericht, das über die neue Straftat zu urteilen hat, von einer unbedingten Freiheitsstrafe abgesehen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357; Groß/Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 40).

Das Vollstreckungsgericht ist zwar grundsätzlich gehalten, sich bei seiner Prognoseentscheidung der sach- und zeitnäheren Prognose eines Tatgerichts anzuschließen, das über die letzte, während der Bewährungszeit begangene Straftat geurteilt hat (Groß/ Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 30). Durchbrechungen dieses Grundsatzes sind allerdings möglich und jedenfalls nicht von Verfassungs wegen ausgeschlossen (BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357).

Die befassten Vollstreckungsgerichte können auf der Grundlage der ihnen vorliegenden Urteile und Bewährungshefte auf ausreichender Tatsachenbasis eine eigene Sachentscheidung treffen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, Rn. 4, juris). Ein Vollstreckungsgericht kann insbesondere von der Entscheidung eines Tatgerichts dann abweichen, wenn diese Entscheidung selbst an Mängeln leidet, wenn etwa das Tatgericht hinsichtlich seiner Prognose selbst erhebliche Bedenken geäußert, diese aber zurückgestellt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, Rn. 4, juris) oder wesentliche Gesichtspunkte nicht oder unzureichend bewertet hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn das Gericht sich mit den Vorstrafen und den der älteren Aussetzungsentscheidung zugrundeliegenden Erwägungen nicht auseinandergesetzt hat (vgl. Beschluss vom 25. Mai 2012 – VfGBbg 20/12 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Gleiches gilt auch, wenn das Tatgericht offensichtlich unzutreffende oder nicht nachvollziehbare Erwägungen zugrunde gelegt hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, Rn. 4, juris; vgl. ThürVerfGH, Beschluss vom 3. Mai 2017 – 52/16 -, Rn. 64, juris; Groß/Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 30). Hat das Gericht mit der Aussetzung zur Bewährung besondere Erwartungen verbunden, die es später als enttäuscht ansieht, ist von Verfassungs wegen nichts dagegen zu erinnern, dass unter den Voraussetzungen des § 56f StGB der Widerruf ausgesprochen wird (BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357).

c) Daran gemessen ist die Entscheidung des Landgerichts Potsdam in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.

Die Beschwerdekammer des Landgerichts Potsdam hat sich im Beschluss vom 23. September 2022 (21 Qs 52/22) die Begründung des Widerrufsbeschlusses durch das Vollstreckungsgericht zu eigen gemacht, indem es auf dessen als zutreffend befundene Gründe Bezug genommen hat. Das Vollstreckungsgericht hat sich erkennbar auf die enttäuschte Erwartung des Amtsgerichts Rathenow gestützt, welche das Amtsgericht im Urteil vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) mit der angeordneten Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung verbunden hatte. Das Vollstreckungsgericht hat nachvollziehbar aufgezeigt, dass der amtsgerichtlichen Aussetzungsentscheidung vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) ein Gesamtkonzept (Strafzumessung, Berufsverbot, Bewährungskonzept) zugrunde lag, das auf der Beachtung des Berufsverbots durch die Antragstellerin aufbaute. Dass das Vollstreckungsgericht diese Erwartungshaltung als enttäuscht betrachtete, nachdem die Antragstellerin nur wenige Monate nach der Urteilsverkündung gegen das Berufsverbot verstieß, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Seine den Widerruf bestätigende Entscheidung hat das Landgericht zusätzlich zu den Gründen des Vollstreckungsgerichts darauf gestützt, dass die vom Berufungsgericht eingestellten Erwägungen kaum nachvollziehbar seien; sie setzten sich nicht hinlänglich mit dem Rückfall auseinander. Dabei hat die Beschwerdekammer des Landgerichts die für sie ausschlaggebenden Tatsachen angeführt – die Vielzahl an Vorstrafen, das frühere Bewährungsverhalten, die hohe progrediente Rückfallgeschwindigkeit und die berufsbezogene Straftat. Mildere Mittel als der Widerruf seien eingedenk dessen unzulänglich, zumal die Bewährungszeit bereits auf fünf Jahre festgesetzt worden und die Antragstellerin einem Bewährungshelfer unterstellt worden sei, ohne dass diese Mittel sie beeindruckt und von einer neuerlichen berufsbezogenen Straftat abgehalten hätten.

Auch diese nachvollziehbaren zusätzlichen Feststellungen tragen die der Antragstellerin vom Landgericht Potsdam attestierte negative Sozialprognose. Das Landgericht hat auch mildere Mittel in den Blick genommen und im Ergebnis verworfen, indem es festgestellt hat, dass sich die in § 56 Abs. 2 StGB vorgesehene Bewährungshilfe und verlängerte Bewährungszeit bereits als unzulänglich erwiesen hätten. Es ist gemäß dem aufgezeigten Maßstab verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden, dass die mit den Bewährungsurteilen und -unterlagen vertrauten Vollstreckungsgerichte mit einer plausiblen Begründung zu einem vom Tatgericht abweichenden Ergebnis kommen. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt darin nicht.“

Haft I: Anforderungen an Haftentscheidungen, oder: OLG Brandenburg kennt „Begründungstiefe“ nicht

Ich habe längere Zeit nicht über Haftentscheidungen berichtet. Heute stehen mal wieder drei Postings zu Haftfragen an.

Ich beginne mit einer vefassungsgerichtlichen Entscheidung, und zwar mit dem VerfG Brandenbuug, Beschl. v. 18.02.2022 – VfGBbg 63/21. Er nimmt zu zwei Fragen Stellung.

Zunächst enthält der Beschluss Ausführungen des VerfG zum sog. Fortsetzungsgfeststellungsinteresse. Die waren erfordelrich, weil der Haftbefehl gegen den Angeklagten nicht mehr vollstreckt wird und der Angeklagte sich inzwischen in Strafhaft befindet. Insoweit reicht (mein) Leitsatz:

Ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Verfassungsgericht kann im Falle eines schwerwiegenden Grundrechtseingriffs bestehen. Schwerwiegende, tatsächlich aber nicht mehr fortwirkende Grundrechtseingriffe kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die die Verfassung vorbeugend dem Richter vorbehalten hat, wie z.B. Anordnungen einer Freiheitsentziehung

Im Übrigen nimmt das VerfG dann noch einmal zu den Anforderungen an die Begründung von Haftentscheidungen Stellung. Stichwort: Begründungstiefe, und zwar wie folgt:

„a) Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 (1 Ws 100/21 [S]) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 9 Abs. 1 LV.

aa) Art. 9 Abs. 1 LV gewährleistet inhaltsgleich mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein (Beschluss vom 21. Februar 2014 – VfGBbg 35/13 -, m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 9 Abs. 1 LV gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 46 m. w. N., und vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18 -, Rn. 52, www.bverfg.de).

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1853/20 -, Rn. 26, vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18 -, Rn. 55, vom 20. Oktober 2006 – 2 BvR 1742/06 -, Rn. 1-49, www.bverfg.de, und vom 3. Mai 1966 – 1 BvR 58/66 -, BVerfGE 20, 45-51, Rn. 14, juris). Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Daraus folgt, dass die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 3. Februar 2021 – 2 BvR 2128/20 -, Rn. 36 m. w. N., und vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 -, Rn. 20 m. w. N.). Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 46 m. w. N., vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18 -, Rn. 56, www.bverfg.de, und vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 -, Rn. 37, juris).

Im Hinblick auf die besondere Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person aus Art. 9 Abs. 1 LV ist zu berücksichtigen, dass der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 9. März 2020 – 2 BvR 103/20 -, Rn. 65, vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 54 m. w. N., www.bverfg.de, und vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 -, Rn. 38, juris). An Haftfortdauerentscheidungen sind erhöhte Begründungsanforderungen zu stellen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein. Die fachgerichtlichen Ausführungen müssen hierzu die maßgeblichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls umfassend berücksichtigen und regelmäßig auch den gegen das Vorliegen eines Haftgrundes sprechenden Tatsachen Rechnung tragen, um die (Prognose-)Entscheidung des Gerichts auch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 9. März 2020 – 2 BvR 103/20 -, Rn. 65, vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 54 m. w. N., www.bverfg.de, und vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 -, Rn. 38, juris).

bb) Daran gemessen weist der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 (1 Ws 100/21 [S]) die verfassungsrechtlich geforderte Begründungstiefe nicht auf. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts lassen eine zutreffende Anschauung von Inhalt und Bedeutung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 9 Abs. 1 LV nicht erkennen.

Dies gilt zunächst im Hinblick auf die im Rahmen der Prüfung des Haftgrunds anzustellende Gesamtabwägung und die Darlegungen zur Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Haft.

Das Oberlandesgericht zeigt nicht auf, welche Kriterien und tatsächlichen Umstände es in die Gesamtabwägung eingestellt hat. Es ist nicht zu erkennen, dass die für und gegen eine Fluchtgefahr sprechenden Umstände hinreichend einbezogen worden sind. An einer erkennbaren Auseinandersetzung mit den vom Beschwerdeführer vorgetragenen, in der Person des Beschwerdeführers liegenden tatsächlichen Umständen, die gegen eine Fluchtgefahr sprechen können (u. a. Alter, Erstverbüßer, Verhalten im Strafverfahren, beanstandungsfreie Führung in der Untersuchungshaft), fehlt es insgesamt. Das Oberlandesgericht hat die Fluchtgefahr im Wesentlichen auf die sich aus dem Urteilsspruch ergebende Straferwartung und die stabilen Beziehungen des Beschwerdeführers in die Türkei gestützt.

Schließlich sind auch die Ausführungen des Oberlandesgerichts zu den Voraussetzungen des § 57 StGB unzureichend. Auch zu diesem Punkt erfolgen lediglich pauschale Ausführungen, während eine Analyse des konkreten Sachverhalts, vor allem der Umstände der Tatbegehung und der Persönlichkeit des Beschwerdeführers, unter Berücksichtigung der zu § 57 StGB entwickelten Grundsätze unterbleibt. Zu würdigen ist die für den Fall einer (rechtskräftigen) Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung und – unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrests zur Bewährung gemäß § 57 StGB – das Ende einer zu verhängenden Freiheitsstrafe (vgl. Krauß, in: BeckOK StPO, Stand: 1. Oktober 2021, StPO § 112 Rn. 29). Auch aus diesem Grund kann nicht festgestellt werden, dass das Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung den Inhalt und die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts hinreichend beachtet hat.

Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweise sich angesichts der Bedeutung der Sache und der im Falle einer rechtskräftig werdenden Verurteilung für den Beschwerdeführer zu erwartenden Freiheitsstrafe auch unter Berücksichtigung der bisherigen Verfahrensdauer seit der Inhaftierung als noch verhältnismäßig35Der formelhafte Satz zur Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer genügt nicht der verfassungsrechtlich gebotenen wertenden Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates. Die Entscheidung nimmt nicht die konkreten Nachteile und Gefahren des Freiheitsentzugs im Verhältnis zur Bedeutung der in Rede stehenden Strafsache sowie der zu erwartenden Straffolgen in den Blick.

Im Hinblick auf die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls wegen weniger einschneidender Maßnahmen (§ 116 Abs. 1 StPO) wird die durch Art. 9 Abs. 1 LV gebotene Abwägung nicht ansatzweise vorgenommen. Das Oberlandesgericht beschränkt sich auf die formelhafte und pauschale Feststellung, dass bei der gegebenen Sachlage der Zweck der Untersuchungshaft auch durch mildere Maßnahmen gemäß § 116 Abs. 1 StPO nicht zu erreichen sei.

Es kann angesichts dessen nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht bei einer den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen genügenden Sachprüfung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

b) Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 verletzt aus den genannten Gründen auch den Anspruch auf rechtliches Gehör. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Nichtberücksichtigung des wesentlichen Kerns von Tatsachenvortrag zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, lässt auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 72/19 -, Rn. 36 f. m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Ein Eingehen auf die in dem Beschwerdebegründungsschriftsatz vom 14. Juli 2021 vorgebrachten zentralen Gesichtspunkte ist nicht zu erkennen.“

Mich wundert immer, dass die OLG es nicht auf dem Schirm haben, dass diese formelhaften Sätze nichts bringen und die Verfassungsgerichte das beanstanden. Das Ergebnis sind dann solche Entscheidungen wie die des VerfG Brandenburg.

Und: Kleine Kuriosität: Eine der Richterinnen, die an den OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.09.2021 – 2 Ws 108/21 (S) – beteiligt war, durch den die Anhörungsrüge des Angeklagten zurück gewiesen worden ist, ist auch Mitglied des VerfG Brandenburg. Sie war daher natürlich an der Mitwirkung  bei der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ausgeschlossen, (vgl. hier). Aber ist dann schon ein wenig peinlich, wenn man von dem Senat, dem man beim VerfG angehört, bescheinigt bekommt, dass es – um es gelinde auszudrücken – in der Instanz nicht richtig gelaufen ist.

OWi I: Prüfpflichten bei standardisierter Messung, oder: VerfG rüffelt AG Oranienburg/OLG Brandenburg

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Heute zur Wochenmitte OWi-Entscheidungen, dazu habe ich länger nichts mehr gebracht.

Den Opener mache ich mit dem VerfG Brandenburg, Beschl. v. 18.2.2022 – VerfGBbg 54/21 – zur Prüfpflicht des Tatrichters beim standardisierten Messverfahren (hier: Poliscan Speed). Nichts weltbewegend Neues, aber: Das VerfG Brandenburg ruft noch einmal ins Gedächtnis. wie der Tatrichter mit der Einlassung des Betroffenen umzugehen hat, wenn ein standardisiertes Messverfahren vorliegt: Die dazu geltenden Grundsätze entheben ihn nicht davon, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen:

„a) Das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg vom 14. Dezember 2020 (13 b OWi 3423 Js-OWi 27348/20 [496/20]) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts gewährt Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu den für diese erheblichen Sach- und Rechtsfragen zu äußern. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und rechtzeitiges, möglicherweise erhebliches Vorbringen bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. ausführlich Beschluss vom 16. März 2018 – VfGBbg 56/16 -, m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Gericht das ihm unterbreitete Vorbringen zur Kenntnis nimmt und in Betracht zieht. Es ist nicht verpflichtet, sich mit jeglichem Vorbringen ausdrücklich zu befassen, sondern kann sich auf die Bescheidung der ihm wesentlich erscheinenden Punkte beschränken. Insbesondere verwehrt es der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht, den Vortrag eines Verfahrensbeteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts, zum Beispiel wegen sachlicher Unerheblichkeit, ganz oder teilweise außer Betracht zu lassen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nur verletzt, wenn die Nichtberücksichtigung eines Vortrags oder von Beweisanträgen im Prozessrecht keine Stütze mehr findet. Hierzu müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass tatsächliches Vorbringen eines Verfahrensbeteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 72/19 -, Rn. 36 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Solche Umstände können insbesondere dann vorliegen, wenn das Gericht das Kernvorbringen eines Beteiligten unberücksichtigt lässt. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in der Begründung der Entscheidung nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist. Daraus ergibt sich eine Pflicht der Gerichte, die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen in den Entscheidungsgründen zu verarbeiten (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 72/19 -, Rn. 36 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de; vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26. September 2012 – 2 BvR 938/12 -, Rn. 20, vom 16. September 2010 – 2 BvR 2394/08 -, Rn. 14, und vom 7. Dezember 2006 – 2 BvR 722/06 -, Rn. 23, www.bverfg.de).

bb) Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Bußgeldverfahren die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens reduzierte Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflichten der Fachgerichte begründen. Die Gerichte sind nicht dazu gehalten, der Ordnungsgemäßheit des Messverfahrens nachzugehen, solange sich keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 39 ff., juris). Ermittelt der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, hat das Gericht zu entscheiden, ob es sich dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann. Entsprechend seiner Amtsaufklärungspflicht hat das Fachgericht die Korrektheit des Messergebnisses dann individuell – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – zu überprüfen und seine Überzeugung im Urteil darzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 60, juris; so wohl auch BGH, Beschluss vom 30. Oktober 1997 – 4 StR 24/97 -, BGHSt 43, 277-284, Rn. 26, juris).

cc) Nach diesen Maßstäben verletzt das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

Das Urteil lässt nicht erkennen, dass das Gericht den Tatsachenvortrag des Beschwerdeführers, mit dem er die Zuverlässigkeit des Messverfahrens in Zweifel gezogen hat, zur Kenntnis genommen und in Betracht gezogen hat. Kern des Beschwerdevorbringens war, dass die im Beweisfoto erkennbaren hellen Lichtflächen auf eine das Messverfahren beeinflussende Reflexion der Laserstrahlen durch im Messbereich befindliche reflektierende Flächen hindeuten. Ob das Amtsgericht das Vorbringen in Erwägung gezogen hat, lässt sich weder aus dem Beschluss, mit dem die Beweisanträge abgelehnt worden sind, noch aus den Urteilsgründen erkennen. Es hat in den Urteilsfeststellungen keinen Niederschlag gefunden. Dabei ist es Sache des Fachgerichts zu beurteilen, ob es die vorgetragenen Anhaltspunkte für hinreichend konkret erachtet. Die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens entheben den Tatrichter jedoch nicht davon, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen. Als bloße allgemeine Behauptungen „ins Blaue hinein“, die insgesamt zu vernachlässigen sind, ließ sich das Vorbringen des Beschwerdeführers im Entscheidungszeitpunkt nicht ohne Weiteres qualifizieren. Dies mag inzwischen im Hinblick auf die Erkenntnisse zu feststehenden Objekten, Reflexionen und deren Einfluss auf Messungen durch die jüngste obergerichtliche Rechtsprechung anders zu betrachten sein (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 13. Januar 2022 – 1 OWi 2 SsBs 58/21 -, Rn. 15 f., juris). Diesen Kenntnisstand konnte jedoch das Amtsgericht bei Bescheidung der Beweisanträge und Urteilsfällung nicht voraussetzen.

dd. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts vom 14. Dezember 2020 beruht auf dieser Verletzung des Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV, weil nicht auszuschließen ist, dass das Amtsgericht eine andere, dem Beschwerdeführer günstige Entscheidung getroffen hätte, wenn es sein Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hätte.“

Und das OLG Brandenburg, das die Rechtsbeschwerde verworfen hatte, wird dann auch gleich mitgerüffelt:

„3. Auch der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 3. Mai 2021 (1 OLG 53 Ss-OWi 162/21) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV. Zwar bedarf vor dem Hintergrund der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Begründungsanforderungen nach § 80 Abs. 4 Satz 2 OWiG der Beschluss über die Zulassung der Rechtsbeschwerde, die eine unanfechtbare Zwischenentscheidung ist, weder im Falle der Verwerfung noch der Zurückweisung einer ausführlichen Begründung (vgl. Bär, in: BeckOK OWiG, Stand: 1. Oktober 2021, OWiG § 80 Rn. 49 m. w. N.), eine Begründung enthält der Beschluss vom 3. Mai 2021 auch nicht.

Indes hat das Brandenburgische Oberlandesgericht in dem Beschluss vom 3. Mai 2021 durch die Bezugnahme von § 349 Abs. 2 StPO sowie die hierauf verweisenden Vorschriften des OWiG zu erkennen gegeben, dass es den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde für offensichtlich unbegründet erachtet. Dabei hat das Oberlandesgericht verkannt, dass § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG die Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen der hier gegebenen Versagung des rechtlichen Gehörs durch das Amtsgericht gerade gebietet. Die Vorschrift soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein korrigierendes Eingreifen des Rechtsbeschwerdegerichts in denjenigen Fällen ermöglichen, in denen sich das Vorliegen einer Gehörsverletzung geradezu aufdrängt und es nicht zweifelhaft erscheint, dass das Urteil einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung nicht standhalten würde (BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 1992 – 2 BvR 700/91 -, Rn. 19 m. w. N., juris). Die Anwendung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG kann mithin dazu beitragen, Verstöße gegen den Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vor Erschöpfung des ordentlichen Rechtswegs zu beseitigen und die ansonsten erforderliche Anrufung des Verfassungsgerichts zu vermeiden. Deshalb hat das Rechtsbeschwerdegericht bereits im Zulassungsverfahren zu prüfen, ob eine Gehörsverletzung vorliegt (vgl. BVerfG, a. a. O.).

Dies ist hier erkennbar unterblieben. Das Oberlandesgericht hat die Regelung in § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG in seiner Entscheidung unerwähnt gelassen.“

Ich verstehe es nicht. es ist doch gar nicht so schwer, die Rechtsprechung des BVerfG aus 2 BvR 1616/18 umzusetzen, die ja nicht gänzlich neu ist, sondern letztlich doch auf der Rechtsprechung des BGH zum standardisierten Messverfahren aus 1997 (!!) aufbaut. Aber, wenn man nicht will……