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Bewährung II: 2/3-Entscheidung positiv/negativ?, oder: Genügt bloßes Bekunden von Therapiebereitschaft?

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Im zweiten Posting dann zwei OLG-Entscheidungen. Die eine verhält sich zu den Voraussetzungen einer Zwei-Drittel-Entscheidung, die andere . Ich stelle aber jeweils nur die Leitsätze vor, den Rest bitte in den verlinkten Volltexten selbst lesen:

Neue Straftaten lassen sich für die Verantwortbarkeitsprognose nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB auch dann verwerten, wenn sie noch nicht rechtskräftig abgeurteilt sind. Die Entscheidung über die bedingte Reststrafenaussetzung im Rahmen des § 57 Abs. 1 StGB hat andere Voraussetzungen als die Nachtragsentscheidung nach § 56f StGB. Deshalb muss der Gefangene wegen neuer Straftaten, die ihm im Rahmen der Prognoseentscheidung entgegengehalten werden, nicht bereits rechtskräftig verurteilt sein. Für einen Bewährungswiderruf nach § 56f StGB ist grundsätzlich die Feststellung einer neuen Straftat erforderlich. Im Gegensatz dazu ist eine bedingte Reststrafenaussetzung an das Vorliegen einer günstigen Verantwortbarkeitsprognose geknüpft. Die Strafvollstreckungskammer hat die Tat und die Persönlichkeit des Verurteilten unter Berücksichtigung aller sonstiger bekannter Umstände und Gesichtspunkte zu würdigen. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung gehen Zweifel über das Prognoseurteil zu Lasten des Verurteilten.

1. Die bloße Bekundung einer Einsicht in das begangene Unrecht stellt für sich genommen bei einem vielfach vorbestraften Angeklagten, der bislang Bewährungszeiten nicht durchgestanden und langjährigen Strafvollzug erlitten hat, regelmäßig keinen Gesichtspunkt dar, der die Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigen könnte.
2. Die Bereitschaft des Angeklagten, eine Alkoholentwöhungstherapie durchzuführen, ist grundsätzlich für die Kriminalprognose im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB nicht von entscheidender Bedeutung.
3. Die Strafaussetzung zur Bewährung stellt kein Instrument zur Belohnung für ein erwünschtes Verhalten dar.

Bewährung I: Widerruf bei erneuter Straffälligkeit, oder: Bindung an zeitnahe Prognose des Tatgerichts?

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Heute stelle ich dann drei Entscheidungen vor, die sich zu Bewährungsfragen verhalten.

Ich beginne mit dem VerfG Brandenburg, Beschl. v. 18.11.2022 – 13/22 EA. Folgender Sachverhalt: Die Antragstellerin begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung, und zwar soll die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bis zur Entscheidung über der Verfassungsbeschwerde, mit der sie sich gegen den Widerruf der ihr bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung wendet, ausgesetzt werden.

Die mehrfach u. a. wegen Betrugsdelikten vorbestrafte Antragstellerin ist durch Urteil des AG Rathenow vom 25.06.2019 u.a. wegen Betrugs in Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Amtsgericht ordnete zudem ein Berufsverbot an. Der Antragstellerin wurde für die Dauer von drei Jahren verboten, den Beruf der Altenpflegerin oder einen Beruf, der die Alten- oder Seniorenpflege zum Gegenstand hat, auszuüben.

Die Antragstellerin hat dann zum 01.01.2020, etwa zweieinhalb Monate nach Rechtskraft der Anordnung des Berufsverbots durch das AG, eine Beschäftigung als Altenpflegerin aufgenommen. Wegen Verstoßes gegen das Berufsverbot wurde die Antragstellerin durch Urteil des AG Potdsam u einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auf die dagegen eingelegte Berufung der Antragstellerin änderte das LG Potsdam das Urteil hingehend ab, dass die Vollstreckung der darin verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Das AG Rathenow („Vollstreckungsgericht“) widerrief dann durch Beschluss vom 18.08.2022 die durch Urteil des AG Rathenow vom 25.06.2019 gewährte Strafaussetzung zur Bewährung. Dagegen die sofortige Beschwerde begründete die Antragstellerin, die beim LG Potsdam keinen Erfolg hatte. Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das VerfG hat den Antrag zurückgewiesen:

„2. Eine einstweilige Anordnung kann danach nicht ergehen. Es ist schon jetzt absehbar, dass die Verfassungsbeschwerde unbegründet ist.

Der Beschluss des Landgerichts Potsdam verletzt die Antragstellerin erkennbar nicht in ihrem Freiheitsgrundrecht aus Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV.

Die Beschwerdekammer hat bei der Auslegung und Anwendung des § 56f StGB weder den Inhalt und die Tragweite des Freiheitsgrundrechts aus Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV verkannt, noch ist sie objektiv unvertretbar oder willkürlich.

a) Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) bzw. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV und der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens verlangen im Strafvollstreckungsverfahren ein Mindestmaß an zuverlässiger Wahrheitserforschung (Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 3/21 -, Rn. 24 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Zudem ist der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe gerichtlicher Entscheidungen Rechnung zu tragen. Eine tragfähig begründete Entscheidung über einen Bewährungswiderruf setzt daher eine auf zureichender Sachaufklärung beruhende, in sich schlüssige und nachvollziehbare Feststellung der Widerrufsvoraussetzungen voraus; die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts genügt insoweit nicht (Beschluss vom 29. September 2021 – VfGBbg 19/21 EA -, Rn. 19, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

b) Gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB widerruft das Gericht die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts obliegen bei der nach § 56f StGB zu treffenden Entscheidung den Strafgerichten, denen hierbei eine Einschätzungsprärogative zusteht (vgl. Beschlüsse vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 3/21 -, Rn. 24 m. w. N., und vom 17. Dezember 2009 – VfGBbg 51/09 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Die verfassungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich lediglich darauf, ob die gerichtliche Entscheidung objektiv unvertretbar ist oder die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite des durch Art. 2 Abs. 2 GG bzw. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV verbürgten Freiheitsrechts verkennt (Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 3/21 -, Rn. 24 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Die rechtskräftige Verurteilung wegen einer neuen Straftat ist ein zur Überzeugungs-bildung des für § 56f StGB zuständigen Gerichts ausreichendes, aber nicht bindendes Indiz für das entsprechende Bewährungsversagen (Groß/Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 40).

Bei neuen Straftaten des Probanden ist die Reaktion anderer Gerichte hierauf, soweit es um Strafaussetzung geht, für das Vollstreckungsgericht nicht präjudiziell. Dieses ist also nicht daran gehindert, die Strafaussetzung zu widerrufen, obwohl das Gericht, das über die neue Straftat zu urteilen hat, von einer unbedingten Freiheitsstrafe abgesehen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357; Groß/Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 40).

Das Vollstreckungsgericht ist zwar grundsätzlich gehalten, sich bei seiner Prognoseentscheidung der sach- und zeitnäheren Prognose eines Tatgerichts anzuschließen, das über die letzte, während der Bewährungszeit begangene Straftat geurteilt hat (Groß/ Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 30). Durchbrechungen dieses Grundsatzes sind allerdings möglich und jedenfalls nicht von Verfassungs wegen ausgeschlossen (BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357).

Die befassten Vollstreckungsgerichte können auf der Grundlage der ihnen vorliegenden Urteile und Bewährungshefte auf ausreichender Tatsachenbasis eine eigene Sachentscheidung treffen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, Rn. 4, juris). Ein Vollstreckungsgericht kann insbesondere von der Entscheidung eines Tatgerichts dann abweichen, wenn diese Entscheidung selbst an Mängeln leidet, wenn etwa das Tatgericht hinsichtlich seiner Prognose selbst erhebliche Bedenken geäußert, diese aber zurückgestellt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, Rn. 4, juris) oder wesentliche Gesichtspunkte nicht oder unzureichend bewertet hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn das Gericht sich mit den Vorstrafen und den der älteren Aussetzungsentscheidung zugrundeliegenden Erwägungen nicht auseinandergesetzt hat (vgl. Beschluss vom 25. Mai 2012 – VfGBbg 20/12 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Gleiches gilt auch, wenn das Tatgericht offensichtlich unzutreffende oder nicht nachvollziehbare Erwägungen zugrunde gelegt hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, Rn. 4, juris; vgl. ThürVerfGH, Beschluss vom 3. Mai 2017 – 52/16 -, Rn. 64, juris; Groß/Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 30). Hat das Gericht mit der Aussetzung zur Bewährung besondere Erwartungen verbunden, die es später als enttäuscht ansieht, ist von Verfassungs wegen nichts dagegen zu erinnern, dass unter den Voraussetzungen des § 56f StGB der Widerruf ausgesprochen wird (BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357).

c) Daran gemessen ist die Entscheidung des Landgerichts Potsdam in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.

Die Beschwerdekammer des Landgerichts Potsdam hat sich im Beschluss vom 23. September 2022 (21 Qs 52/22) die Begründung des Widerrufsbeschlusses durch das Vollstreckungsgericht zu eigen gemacht, indem es auf dessen als zutreffend befundene Gründe Bezug genommen hat. Das Vollstreckungsgericht hat sich erkennbar auf die enttäuschte Erwartung des Amtsgerichts Rathenow gestützt, welche das Amtsgericht im Urteil vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) mit der angeordneten Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung verbunden hatte. Das Vollstreckungsgericht hat nachvollziehbar aufgezeigt, dass der amtsgerichtlichen Aussetzungsentscheidung vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) ein Gesamtkonzept (Strafzumessung, Berufsverbot, Bewährungskonzept) zugrunde lag, das auf der Beachtung des Berufsverbots durch die Antragstellerin aufbaute. Dass das Vollstreckungsgericht diese Erwartungshaltung als enttäuscht betrachtete, nachdem die Antragstellerin nur wenige Monate nach der Urteilsverkündung gegen das Berufsverbot verstieß, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Seine den Widerruf bestätigende Entscheidung hat das Landgericht zusätzlich zu den Gründen des Vollstreckungsgerichts darauf gestützt, dass die vom Berufungsgericht eingestellten Erwägungen kaum nachvollziehbar seien; sie setzten sich nicht hinlänglich mit dem Rückfall auseinander. Dabei hat die Beschwerdekammer des Landgerichts die für sie ausschlaggebenden Tatsachen angeführt – die Vielzahl an Vorstrafen, das frühere Bewährungsverhalten, die hohe progrediente Rückfallgeschwindigkeit und die berufsbezogene Straftat. Mildere Mittel als der Widerruf seien eingedenk dessen unzulänglich, zumal die Bewährungszeit bereits auf fünf Jahre festgesetzt worden und die Antragstellerin einem Bewährungshelfer unterstellt worden sei, ohne dass diese Mittel sie beeindruckt und von einer neuerlichen berufsbezogenen Straftat abgehalten hätten.

Auch diese nachvollziehbaren zusätzlichen Feststellungen tragen die der Antragstellerin vom Landgericht Potsdam attestierte negative Sozialprognose. Das Landgericht hat auch mildere Mittel in den Blick genommen und im Ergebnis verworfen, indem es festgestellt hat, dass sich die in § 56 Abs. 2 StGB vorgesehene Bewährungshilfe und verlängerte Bewährungszeit bereits als unzulänglich erwiesen hätten. Es ist gemäß dem aufgezeigten Maßstab verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden, dass die mit den Bewährungsurteilen und -unterlagen vertrauten Vollstreckungsgerichte mit einer plausiblen Begründung zu einem vom Tatgericht abweichenden Ergebnis kommen. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt darin nicht.“

Bewährung II: Viele Vorstrafen, schneller Rückfall pp., oder: Anforderungen an die sog. Legalprognose

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Auch die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.08.2022 – 1 OLG 53 Ss 65/22 – war schon einmal Gegenstand der Berichterstattung, und zwar hier bei: Rechtsmittel III: Berufungsbeschränkung wirksam?, oder: Trennbarkeitsformel. Ich komme jetzt auf die Entscheidung noch einmal wegen der Bewährungsfrage zurück. Das OLG nimmt Stellung zur sog. Begründungstiefe.

Das LG hatte noch einmal Bewährung gewährt. Dagegen hatte die StA Revision eingelegt, die Erfolg hatte:

„2. Die Revision der Staatsanwaltschaft Potsdam hat auch in der Sache Erfolg.

Die Erwägungen, mit denen das Landgericht – in Übereinstimmung mit der erstinstanzlichen Entscheidung – die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung begründet hat, halten rechtlicher Überprüfung nicht stand; die Urteilsgründe erweisen sich in wesentlichen Aspekten als lückenhaft.

a) Die Frage, ob zu erwarten ist, dass sich der Angeklagte schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird (§ 56 Abs. 1 StGB), hat der Tatrichter unter Berücksichtigung aller dafür bedeutsamen Umstände im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu entscheiden. Bei dieser Prognose steht ihm ein weiter Bewertungsspielraum zu (BGH, Urteil vom 10. Juni 2010, 4 StR 474/09, Rz. 34, Juris; NStZ 2007, 303, 304; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. Januar 2008, 1 Ss 19/07, Rz. 5, Juris; NStZ-RR 2005, 200, 201; Fischer, StGB, 69. Auflage, zu § 56, Rz. 11). Die Prognoseentscheidung des Tatrichters ist vom Revisionsgericht grundsätzlich bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen (BGH a. a. O.; OLG Karlsruhe a. a. O.) und nur darauf zu überprüfen, ob sie rechtsfehlerhaft ergangen ist, der Tatrichter also Rechtsbegriffe verkannt oder seinen Bewertungsspielraum fehlerhaft ausgefüllt hat (BGHSt 6, 298, 300; 6, 391, 392, OLG Düsseldorf NStZ 1988, 325, 326; KG a. a. O.).

Um dem Revisionsgericht diese Prüfung zu ermöglichen, muss der Tatrichter seine Erwägungen im Urteil in einem die Nachprüfung ermöglichenden Umfang darlegen (OLG Düsseldorf a. a. O.; KG a. a. O. m. w. N.; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., zu § 337, Rz. 34). Seine Feststellungen müssen eine tragfähige Grundlage für die Überprüfung der Rechtsanwendung bilden (Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., zu § 337, Rz. 21).

Der Umfang der Darlegungen und deren Begründungstiefe hängt maßgeblich davon ab, ob und ggf. in welchem Umfang der Angeklagte strafrechtlich vorbelastet ist. Bei einem mehrfach und einschlägig vorbestraften Angeklagten, der ggf. schon frühere Bewährungschancen nicht bestanden hat, setzt eine günstige Legalprognose bzw. die Strafaussetzung zur Bewährung eine besonders eingehende und vertiefte Begründung voraus.

b) Im vorliegenden Fall ist hinsichtlich der erforderlichen Begründungstiefe zu berücksichtigen, dass der Angeklagte ganz erheblich vorbestraft ist. Der Auszug aus dem Bundeszentralregister weist 19 Eintragungen aus. Der Angeklagte ist elf Mal, teilweise in Tatmehrheit mit anderen Delikten, wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis einschlägig vorbestraft. In der Vergangenheit hat der Angeklagte bei sämtlichen ihm eingeräumten Bewährungschancen versagt; fünf Mal musste eine ihm gewährte Vollstreckungsaussetzung zur Bewährung widerrufen werden. Erst sechs Monate vor der ersten im hiesigen Verfahren festgestellten Straftat des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (21. April 2020) war der Angeklagte durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Brandenburg am 29. Oktober 2019 (24 Ds 22/19) ebenfalls wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung bis zum 28. Oktober 2021 ausgesetzt wurde. Selbst diese nach § 56 Abs. 1 Satz 2 StGB kürzest denkbare Bewährungszeit hat der Angeklagte nicht ohne Begehung neuer, einschlägiger Straftaten überstanden. Er ist Bewährungsversager. Zur Tatzeit stand der Angeklagte zudem infolge des Urteils des Amtsgerichts Brandenburg a.d.H. vom 25. März 2014 (21 Ls 7/14) unter Führungsaufsicht, die noch bis zum 20. November 2022 fortdauert. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte den Gründen des angefochtenen Urteils zu Folge bereits im März 2022 wegen einer am 23. Juli 2021 erneut begangenen einschlägigen Straftat des Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde (S. 3 UA). Zwar ist dieses Urteil noch nicht in Rechtskraft erwachsen, es kann aber dennoch zur Prognoseentscheidung berücksichtigt werden, da diese Verurteilung ausweislich der Urteilsgründe auf einem Geständnis des Angeklagten beruht. Der Angeklagte hat die erneute Straftat am 23. Juli 2021 begangen, obwohl die ihm im hiesigen Verfahren am 27. Oktober 2020 förmlich zugestellte Anklageschrift vom 7. November 2020 eine deutliche Appellfunktion entfaltete.

Unter Berücksichtigung der vorgenannten zahlreichen einschlägigen Verurteilungen, dem häufigen und ausschließlichen Bewährungsversagen, der hohen Rückfallgeschwindigkeit und der erneuten einschlägigen Straffälligkeit nach den im hiesigen Verfahren begangenen Straftaten sind an die Begründungstiefe für eine positive Legalprognose nach § 56 Abs. 1 StGB hohe Anforderungen zu stellen. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

Soweit das Tatgericht die positive Legalprognose damit zu begründen versucht, dass der Angeklagte bereits seit 2017 in der Gastronomie beruflich eingebunden und sich zum Schichtleiter hochgearbeitet hat (S. 10 UA), vermag dies schon deswegen nicht zu verfangen, da ihn die berufliche Einbindung vor der Begehung neuer einschlägiger Straftaten des Fahrens ohne Fahrerlaubnis – jedenfalls bis zum Juli 2021 – nicht abhalten konnte. Das Argument, dass der Angeklagte seinen Wohnsitz an den Ort seines Arbeitsplatzes, nach Berlin, verlegt hat, um den Weg zur Arbeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen zu können (S. 10 UA), überzeugt ebenfalls nicht. Dies könnte nur dann maßgeblich sein, wenn Motiv des Fahrens ohne Fahrerlaubnis die Bewältigung der Strecke zum Arbeitsplatz gewesen wäre. Dies scheint aber nach den Urteilsgründen nicht gegeben zu sein. Danach arbeite der Angeklagte regelmäßig von 16 Uhr nachmittags bis 4 Uhr nachts. In den beiden hier festgestellten Fällen wurde das Fahren ohne Fahrerlaubnis um 10:29 Uhr und um 10:06 Uhr festgestellt und dürfte gerade keinen Bezug zur beruflichen Tätigkeit des Angeklagten gehabt haben. Dass der Angeklagte in einer stabilen Beziehung lebt, ist nach den Urteilsgründen nicht hinreichend unterlegt. Zum einen wird nur die Heirat im Jahr 2020 erwähnt, ohne dass erkennbar ist, wie lange die Beziehung zu diesem Zeitpunkt bereits bestanden hat. Zum anderen hat der Angeklagte die Straftaten gerade während des Bestehens der genannten Beziehung begangen, so dass nicht nachvollziehbar ist, worin der Wechsel in der Einstellung des Angeklagten nach Tatbegehung begründet sein kann. Dass der Angeklagte im Verfahren vom Juli 2021 „auf die Herausgabe des beschlagnahmten Autos verzichtet“ hat (S. 4 UA), kann nicht entscheidend zu seinen Gunsten gewertet werden, da es ohnehin der Einziehung unterlegen hätte. Dasselbe gilt für den vom Tatgericht hervorgehobenen Umstand, dass der Angeklagte sich kein neues Auto mehr angeschafft habe (S. 9 UA), was bei Fehlen einer Fahrerlaubnis eher selbstverständlich sein dürfte.

Zu Gunsten des Angeklagten spricht, dass er eigeninitiativ eine Verhaltenstherapie aufgenommen und „fünf Probestunden“ absolviert hat. Die Urteilsgründe verhalten sich jedoch nicht zu den Inhalten und einem möglichen (Zwischen-) Ergebnis der bisherigen Therapie, so dass sie sich insoweit als lückenhaft erweisen.

Das erst zwei Wochen vor der Berufungshauptverhandlung eröffnete Insolvenzverfahren dokumentiert die Höhe der mit den Betrugsstraftaten einhergehenden Schäden. Die Hintergründe des damit zusammenhängenden Verhaltens des Angeklagten, auch die Frage, ob möglicherweise damit prozesstaktische Ziele erreicht werden sollten, erörtert das Berufungsgericht nicht.

Am Rande sei bemerkt, dass sich das Berufungsgericht – wie von der Staatsanwaltschaft zutreffend beanstandet – nicht hinreichend mit den strafrechtlichen Vorbelastungen und auch nicht mit § 56 Abs. 3 StGB auseinandergesetzt hat (vgl. BGHSt 24, 40, 46; BHG wistra 2000, 96 f.; BGH NStZ 1985, 165; BGH NStZ 2018, 29); für die Prognoseentscheidung nicht uninteressant könnte auch die Frage sein, in welchem Zusammenhang das Fahren ohne Fahrerlaubnis auf einer Autobahn festgestellt worden war.

Nach alledem werden die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil zur positiven Legalprognose sowohl jeweils für sich betrachtet als auch in einer Gesamtbetrachtung, der im vorliegenden Fall erforderlichen besonderen Begründungstiefe nicht gerecht, so dass das Urteil insoweit der Aufhebung unterliegt.“

Pflichti I: Bestellung im Strafvollstreckungsverfahren, oder: Prüfung der Prognose und Therapiemaßnahmen

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Und heute dann mal wieder ein „Pflichti“-Tag, den ich mit einer Entscheidung des LG Amberg zur Bestellung im Strafvollstreckungsverfahren beginne. Das LG hat mit dem LG Amberg, Beschl. v. 09.11.2021 – StVK 916/21 – einen Pflichtverteidiger bestellt:

„Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO entsprechend vor. Im Vollstreckungsverfahren ist ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben, wenn die Schwere der Tat oder die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage oder die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, das gebietet.

Vorliegend gebietet die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers.

Der Verurteilte beantragte mit Schreiben vom 01.06.2021 die Strafaussetzung des Strafrestes zur Bewährung.

Mit Stellungnahme vom 25.06.2021 befürwortete die Justizvollzugsanstalt Amberg eine Aussetzung unter der Voraussetzung einer stationären Spielsuchttherapie, um die Sozialprognose langfristig zu verbessern.

Die Staatsanwaltschaft Hof beantragte die Aussetzung des Strafrestes, wobei die Weisung einer Sozialtherapie beantragt wurde. Sollte eine solche nicht gesichert sein, werde einer Bewährung entgegengetreten.

Auf Nachfrage der Kammer, ob eine Sozialtherapie gesichert sei, nahm der Verteidiger mit Schriftsatz vom 28.07.2021 Stellung. Auf diesen wird Bezug genommen.

Schließlich regte die Staatsanwaltschaft die Erholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage an, ob eine Sozialtherapie oder Verhaltenstherapie sinnvoll sei und wie eine solche Therapie ausgestaltet werden solle, insbesondere ob sie ambulant oder stationär stattfinden solle.

Die Kammer kam diesem Vorschlag mit Beschluss vom 01.09.2021, auf den Bezug genommen wird, nach.

Schließlich nahmen der Verteidiger und der Verurteilte den Antrag auf Aussetzung der Reststrafe zurück. Zu einer Erstattung eines Gutachtens kam es deshalb nicht mehr.

Vorliegend war im Verfahren gemäß § 57 StGB nicht nur zu beurteilen, ob beim Verurteilten eine günstige Prognose vorliegt oder nicht, vielmehr war (vorab) die Frage zu klären, ob zur Verbesserung der Sozialprognose eine Therapiemaßnahme angezeigt ist oder nicht, welche Therapiemaßnahme – Sozialtherapie, Verhaltenstherapie oder Spielsuchttherapie – sinnvoll ist, und ob eine entsprechende Therapiemaßnahme ambulant oder stationär durchzuführen ist.

Aus Sicht der Kammer ist deshalb eine besondere Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage zu bejahen. Die Mitwirkung eines Verteidigers war im Einzelfall geboten.“

StPO III: Berufungsbeschränkung auf das Strafmaß, oder: Reichweite der Bindungswirkung

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Und als dritte und letzte Entscheidung des Tages stelle ich dann den OLG Köln, Beschl. v. 05.01.2021 – III-1 RVs 224/20 –vor.

Er behandelt eine Probelmatik aus dem Berufungsverfahren, nämlich die Frage einer Rechtsmittelbeschränkung und der sich ggf. ergebenden Bindungswirkung. Die Angeklagte hatte in der Hauptverhandlung ihr Rechtsmittel „ausschließlich auf die Bildung einer Gesamtstrafe“ beschränkt. Sie hat die Nichtanwendung einer Maßregel gemäß § 64 StGB vom Rechtsmittel ausgenommen und erklärt, sie erstrebe keine Strafaussetzung zur Bewährung. Auch insoweit werde das Rechtsmittel beschränkt.

Die Berufungsstrafkammer hat die Rechtsmittelbeschränkung insgesamt für wirksam erachtet. Dagegen die mit der allgemeinen Sachrüge geführte Revision der Angeklagten, die im Ergebnis keinen Erfolg hatte:

„b) Die Bildung der Gesamtstrafe weist keinen die Angeklagte beschwerenden Rechtsfehler auf. Das auf diesen Entscheidungsteil bezogene Rechtsmittel war daher – dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft folgend – als unbegründet zu verwerfen.

2. a) Soweit die Angeklagte auch die Bewährungsentscheidung(en) aus ihrem Rechtsmittelangriff herauszunehmen gesucht hat, erweist sich diese Beschränkung als unwirksam. Bei der Bewährungsentscheidung handelt es sich um einen der (Einzelstrafbemessung und) Gesamtstrafenbildung nachgelagerten Entscheidungsteil, der von jenem abhängig ist und daher nicht selbstständig in Bindung erwachsen kann (vgl. MüKo-StPO-Quentin, § 318 Rz. 17; LR-StPO-Gössel, 26. Auflage 2012, § 318 Rz. 45). Die Berufungsstrafkammer war daher gehalten, in eigener Verantwortung über die Aussetzungsfrage neu zu befinden.

b) Der Umstand, dass dies unterblieben ist, nötigt indessen im Ergebnis nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Tatgericht. In Anwendung des § 354 Abs. 1a StPO kann der Senat vielmehr in der Sache selbst entscheiden.

aa) Auch die Bewährungsentscheidung ist „Zumessung der Rechtsfolgen“ im Sinne von § 354 Abs. 1a StPO (Senat NStZ-RR-2016, 181 m. N.). Hierzu seht dem Senat – wie erforderlich – auch ein zutreffend ermittelter, vollständiger und aktueller Zumessungssachverhalt zur Verfügung. Zu der von ihm beabsichtigten Entscheidung hat er den Verfahrensbeteiligten rechtliches Gehör gewährt (zum Ganzen vgl. BVerfGE 118, 212).

bb) Eine andere Entscheidung als die Versagung der Aussetzung kam ersichtlich nicht in Betracht; der Angeklagten kann eine positive Sozialprognose (§ 56 Abs. 1 StGB) nicht attestiert werden. Sie hat ein unbewältigtes Drogenproblem, ist vielfach u.a. auch wegen BtM-Delikten und wegen Beschaffungskriminalität vorbelastet. Sie hat deswegen auch bereits Haft verbüßt. Ihr eingeräumte Bewährungschancen hat sie nicht zu nutzen vermocht. Die erste hier gegenständliche Tat hat sie nach Haftentlassung am 25. Juni 2019 und Abbruch der sich anschließenden Therapie bereits am 10. Oktober 2019 und damit mit erheblicher Rückfallgeschwindigkeit begangen. Anders als durch Vollstreckung der erkannten Strafe ist die Angeklagte demnach nicht mehr zu erreichen.“