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Klageerzwingung I: Unzulässige Antragsbegründung, oder: Warum war der Antrag ein „Ansinnen“?

In die neue Woche starte ich dann mit zwei Entscheidungen zum Klageerzwingungsverfahren.

Ich starte mit dem

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–, der mal wieder zur ausreichenden Begründung des sog. Klageerzwingungsantrags Stellung nimmt. Das OLG sieht die Vorgaben als nicht erfüllt an:

„Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 172 Abs. 2 StPO ist bereits als unzulässig zu verwerfen.

1. Er entspricht nicht den nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO an den Inhalt eines Klageerzwingungsantrags zu stellenden formellen Anforderungen. Nach dieser Vorschrift muss der Antrag auf gerichtliche Entscheidung den Senat in die Lage versetzen, ohne Rückgriff auf die Ermittlungsakten oder andere Schriftstücke eine Schlüssigkeitsprüfung hinsichtlich der Erfolgsaussichten des Antrags auf Erhebung der öffentlichen Klage in formeller und materieller Hinsicht vorzunehmen (OLG Celle, Beschluss vom 17. März 2008, Az. 1 Ws 105/08; hierzu und dem Folgenden: OLG Hamm, Beschluss vom 17. März 2010, Az. 2 Ws 42/10). Deshalb muss der Antrag auf gerichtliche Entscheidung eine aus sich heraus verständliche Schilderung desjenigen Sachverhaltes enthalten, der bei Unterstellung der Richtigkeit des hinreichenden Tatverdachtes die Erhebung der öffentlichen Klage sowohl in materieller als auch in formeller Hinsicht rechtfertigen würde (vgl. hierzu und dem Folgenden: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 172 Rdnr. 26 ff.). Dabei hat die Sachdarstellung zumindest in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Entscheidungen und die Gründe für deren behauptete Unrichtigkeit mitzuteilen. Diesen skizzierten Vorgaben wird der vorliegende Klageerzwingungsantrag nicht gerecht.

Die Darstellung des Sachverhalts ist lückenhaft. Zu der gebotenen Darstellung des Verfahrensganges genügt es nicht, singulär auf die Erkenntnisse einzugehen, die das Antragsbegehren stützen (OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Mai 2007, Az. 2 Ws 272/07; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 8. August 2024, Az. 2 Ws 88/24 (S)). Vielmehr ist das gesamte für die objektive und subjektive Tatseite bedeutsame Ermittlungsergebnis einschließlich der Tatsachen, die dem Antragsbegehren den Boden entziehen könnten, mitzuteilen (vgl. hierzu und dem Folgenden: OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Mai 2007, Az. 2 Ws 272/07). Denn nur auf der Grundlage einer derart vollständigen Darstellung und damit bei Kenntnis auch der Umstände, die der Darstellung des Antragstellers möglicherweise entgegenstehen, lässt sich der Erfolg des Begehrens des Antragstellers, nämlich die angestrebte Verurteilung der Beanzeigten, zutreffend beurteilen (vgl. hierzu und dem Folgenden: OLG Hamm, Beschluss vom 17. März 2010, Az. 2 Ws 42/10; OLG Hamm, Beschluss vom 21. Juni 2004, Az. 2 Ws 128/04). Eine selektive Auswahl der zugunsten des Strafantragstellers sprechenden Argumente unter Hintanstellung gegebenenfalls diese widerlegender Gesichtspunkte führt zur Unschlüssigkeit des Klageerzwingungsantrages und folglich zu seiner Unzulässigkeit (OLG Hamm, Beschluss vom 17. März 2010, Az. 2 Ws 42/10).

Hierzu führt die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 02. August 2024 wie folgt aus:

„Dem Antrag ist die aktenkundige Abschlussverfügung und Anklageschrift vom 6. Juli 2023 (BI. 57 ff. der Akte) in dem Verfahren 4123 Js 1995/23, auf die im Bescheid der Staatsanwaltschaft Potsdam Bezug genommen wird, nicht zu entnehmen. Hieraus ergibt sich, dass der Leiter der Tierauffangstation („Name 02“) im Nachgang zur behördlichen Maßnahme wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz angeklagt worden ist.“

Der Senat tritt diesen Ausführungen bei; sie entsprechen der Sachlage. Ist wegen desselben Sachverhaltes gegen den Antragssteller selbst Anklage erhoben worden, so muss er dies in seinem Antrag vortragen – verschweigt er eine solche Anklage, so ist der Klageerzwingungsantrag unzulässig (OLG Stuttgart, Beschluss vom 10. September 2001, Az. 1 Ws 184/01). Zwar richtet sich die Anklageschrift vom 06. Juli 2023 – die die vorgefundenen Begebenheiten anlässlich der Kontrolle und Inobhutnahme der Tiere am 25. Juli 2022 auf dem Grundstück („Adresse 01“) zum Gegenstand hat – nicht gegen den („Firma 01“) – was bereits dem Umstand geschuldet ist, dass das deutsche Strafrecht kein Unternehmensstrafrecht ist -, sondern gegen Herrn („Name 02“). Dieser ist indes dem Vorstand des („Firma 01“). zugehörig – damit für seine Handlungen als Unternehmensverantwortlicher persönlich strafrechtlich verantwortlich – und hat auch die Vollmacht des Verteidigers für den („Firma 01“) wie auch etliche Verwahrtier – Verfügungen und Fundtieranzeigen und Übergaben für selbigen unterzeichnet. Unerwähnt lässt der Antragsteller in diesem Zusammenhang auch, dass der Sitz des („Firma 01“). in der („Adresse 01“) zugleich die Wohnanschrift des Herrn („Name 02“) ist, und den Umstand, dass das mangelnde Vorhalten eines Bestandsbuches, mit welchem die Zuordnung als Abgabe-/ Verwahr-/ Zuchttier und privates Tier sowie zwingend die rechtliche Eigentumszugehörigkeit möglich wäre, Gegenstand der wiederholten Kontrollen und Auflagen des Veterinäramts betreffend den Tierbestand in der („Adresse 01“) war. Zudem wird mit keinem Wort erwähnt, aus welchem Grunde das Veterinäramt der Stadt („Ort 01“) den bei der Kontrolle am 25. Juli 2022 vorgefundenen Tierbestand in Obhut genommen hat, dass die Kontrolle am 25. Juli 2022 nicht die erste Begehung ihrer Art gewesen ist, und dass im Hinblick auf die dortige Tierhaltung vorab (nicht erfüllte) Auflagen erteilt wurden.

Auf dieser Grundlage ist dem Senat eine Beweiswürdigung nicht möglich. Diese Beweiswürdigung ist aber Gegenstand der Zulässigkeitsprüfung, da nur dann die Schlüssigkeit des Klageerzwingungsantrages geprüft werden kann.

Auch die Darstellungen des Antragstellers in den anwaltlichen Schriftsätzen vom 28. August 2024 und 20. September 2024 führen zu keinem anderen Ergebnis. Ungeachtet der Tatsache, dass der Senat die Anklageerhebung gegenüber dem Vorstandsmitglied („Name 02“), der unter derselben Anschrift wohnhaft wie das („Firma 01“) ortsansässig ist, – wie ausgeführt – als notwendig in ihrer Darstellung erachtet, würde auch eine Nachbegründung nach Ablauf der Monatsfrist des § 172 Abs. 2 S. 1 StPO dem Antrag nicht mehr zur Zulässigkeit verhelfen können (OLG Hamm, Beschluss vom 4. Juli 2002, Az. 2 Ws 213/02; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Dezember 1999, Az. 1 Ws 624 – 625/99 ; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 10. März 2008, Az. 1 Ws 17/08).

Der Antrag war nach alledem als unzulässig zu verwerfen.“

So weit, so gut – oder auch nicht. Jedenfalls bringt der Beschluss nichts Neues. Außer einer Formulierung, die mich stört. Denn in dem Beschluss – insoweit oben nicht zitiert – heißt es:

„Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat in ihrer Stellungnahme vom 02. August 2024 beantragt, das Ansinnen auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig zu verwerfen. Mit Anwaltsschriftsätzen vom 28. August 2024 und 20. September 2024 ist der Antragsteller dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft entgegengetreten.“

Warum „Ansinnen“ (= „oft als Zumutung empfundenes Ersuchen, Gesuch, Bitte“? Warum schreibt man nicht „Antrag“ und gut ist es?

OWi III: Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde, oder: Zusammenrechnung mehrerer Geldbußen?

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Und last but not least der OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.01.2025 – 1 ORbs 289/24 – zur Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde bei mehreren Geldbußen.

Der Betroffene ist vom AG wegen Benutzens eines elektronischen Geräts als Fahrzeugführer, wobei das Mobiltelefon in der Hand gehalten wurde, wegen des Nichtaufzeichnens auf der Fahrerkarte und wegen des Nichtbenutzens des Fahrtenschreibers zu einer Geldbuße in Höhe von 600,00 EUR (Einzelgeldbußen 100,00 EUR, 250,00 EUR, 250,00 EUR) verurteilt worden. Den Feststellungen des Amtsgerichts zufolge hatte der Betroffene am 29.11.2023 mit seinem Lkw die Bundesautobahn A 10 in Fahrtrichtung Polen befahren. Auf Höhe des Kilometers pp. hatte er sein Mobiltelefon in der rechten Hand vor sein Gesicht gehalten und seine Lippen bewegt. Bei der sodann erfolgten polizeilichen Kontrolle waren die Lenk- und Ruhezeiten ausgewertet worden, wobei festgestellt worden war, dass er im gesamten Kontrollzeitraum vom 01.11.2023 bis 29.11.2023 (01., 02., 07., 21., 22., 23., 28. und 29.11.2023) auf der Fahrerkarte nur Lenkzeiten verzeichnet hatte, nicht aber zwischenzeitliche Ruhezeiten. Auch eine Bescheinigung über die Ruhezeiten hatte der Betroffene nicht vorlegen können. Zudem hatte er als zweiter Fahrer (Beifahrer) in der Zeit vom 27.11.2023, 23:24 Uhr, bis zum 28.11.2023, 03:26 Uhr, nicht den Fahrtenschreiber genutzt, eine Fahrerkarte war nicht eingelegt gewesen, sodass eine Kontrolle nicht möglich war. Das AG hat den Betroffenen wegen tatmehrheitlich begangener Ordnungswidrigkeiten nach §§ 23 Abs. 1 a), 49 StVO, §§ 24 Abs. 1 und 3 Ziff. 5 StVG, §§ 23 Abs. 2 Ziff. 1, Ziff. 7 FPersV, § 8 Abs. 1 Ziff. 2 b) FpersG, Art. 3 Abs. 1, Art. 34 Abs. 3 VO (EU) 165/2014 schuldig gesprochen.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde. Die Generalstaatsanwaltschaft wertet das Rechtsmittel als Anträge auf Zulassung der Rechtsbeschwerde und hat beantragt, diese als unbegründet zu verwerfen. Das sieht das OLG Brandenburg anders:

„1. Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg ist die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Zossen vom 26. Juli 2024 nach Auffassung des Senats nicht als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde im Sinne von § 80 OWiG auszulegen. Die Rechtsbeschwerde ist vielmehr gemäß § 79 Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 OWiG statthaft.

Der Betroffene hat ein unbeschränktes Rechtsmittel eingelegt. Zwar wendet er sich mit seiner Beschwerdebegründung vorrangig gegen die Beweiswürdigung des Tatgerichts in Bezug auf den Handyverstoß. Gleichwohl ist die Rechtsbeschwerde nicht auf das insoweit erkannte Bußgeld, dessen Einzelhöhe das Amtsgericht ausweislich seiner Urteilsgründe zu Ziffer IV.3) auf 100,00 € festgesetzt hat, beschränkt. Das ergibt sich bereits daraus, dass der Betroffene sich auch gegen die Annahme des Tatgerichts wendet, die Verstöße stünden zueinander im Verhältnis von Tatmehrheit, § 20 OWiG.

Bei einer unbeschränkt eingelegten Rechtsbeschwerde sind für die Frage der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde die mehreren Geldbußen zusammenzurechnen, denn schon die Frage, ob im sachlich-rechtlichen Sinn Tateinheit oder Tatmehrheit vorliegt, kann von dem Rechtsmittelgericht anders beurteilt werden als von dem Tatgericht (BGHSt 24, 185; BayObLG NStZ-RR 1997, 248; KG wistra 1988, 322; OLG Koblenz VRS 75, 71; Bauer in: Göhler, OWiG, 19. Auflage, zu § 79, Rz. 23; Burhoff ZAP 2015, 549, zu Ziff. II.1; vgl. auch OLG Karlsruhe VRS 51, 76). Danach ist die Rechtsbeschwerde hier gegeben, denn die Summe der einzelnen Geldbußen übersteigt den Betrag von 250,00 €.

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 3S.1 OWiG in Verbindung mit §§ 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht bei Gericht angebracht und begründet worden, sonach zulässig.

2. In der Sache hat das Rechtsmittel mit der allein erhobenen Sachrüge keinen Erfolg.

……. “

b) Rechtsfehlerfrei hat das Amtsgericht Tatmehrheit zwischen den Verkehrsverstößen angenommen. In Abgrenzung dazu ist eine natürliche Handlungseinheit gegeben, wenn mehrere Verhaltensweisen in einem solchen unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen, dass das gesamte Tätigwerden bei natürlicher Betrachtungsweise auch für einen Dritten objektiv als ein einheitlich zusammengefasstes Tun anzusehen ist (BGHSt 4, 219; 16, 397; 26, 284; KG BeckRS 2016, 11960; OLG Köln NZV 2004, 536; Thoma in: Göhler a. a. O., vor § 19, Rz. 3). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Weder existiert ein Handlungsteil, der gleichzeitig zur Verwirklichung der mehreren Bußgeldvorschriften beiträgt, noch vermag die mangelnde Nutzung des Fahrtenschreibers oder die mangelnde manuelle Eintragung der Ruhezeiten auf dem Fahrtenschreiber die Taten zu einer Handlungseinheit zu verbinden. Das ergibt sich bereits aus den verschiedenen Tatzeitpunkten (29. November 2023; 01., 02., 07., 21., 22., 23., 28. und 29. November 2023; 27. bis 28. November 2023). Stattdessen beruhten die Verstöße auf jeweils getrennten Willensbildungen des Betroffenen.“

OWi II: Vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung, oder: Die Überschreitung musste man bemerken…..

Im zweiten Posting dann eine weitere Entscheidung zum Vorsatz bei der Geschwindigkeitsüberschreitung, und zwar der OLG Brandenburg, Beschl. v. 07.02.2025 – 1 ORbs 293/24.

Das AG hat den einschlägig vorbelasteten Betroffenen wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 57 km/h auf einer BAB verurteilt. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die nicht nur keinen Erfolg hatte, sondern auch noch zur Abänderung des Schuldspruchs führt:

„2. Die Rechtsbeschwerde hat jedoch keinen Erfolg; sie ist unbegründet, wobei jedoch der Schuldspruch entsprechend der Urteilsfeststellungen in eine vorsätzliche Begehungsweise abzuändern ist.

a) Die Rechtsbeschwerde erweist sich aus den zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg in ihrer Stellungnahme vom 5. November 2024 gemäß §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet.

b) Der Urteilstenor ist jedoch dahin abzuändern, dass der Betroffene eine vorsätzliche Ordnungswidrigkeit begangen hat.

aa) Das Tatgericht hat festgestellt, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung auf einer Bundesautobahn bei einer durch beidseitig aufgestellten Vorschriftszeichen gemäß § 41 Abs. 1 StVO iVm. Anlage 1 zur StVO vorgenommenen Geschwindigkeitsbeschränkung auf 120 km/h begangen worden war. Grund der Geschwindigkeitsbeschränkung seien Straßenschäden, die deutlich zu erkennen gewesen waren (S. 2 UA).

Die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um mindestens 57 km/h bei erkennbar vorhanden Straßenschäden, das Befahren der Bundesautobahn mit mindestens 177 km/h bei bestehender Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h, mithin das Überscheiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um knapp die Hälfte, ist rechtlich als zumindest „bedingt“ vorsätzlich zu qualifizieren. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass – wenn es auch keine genauen, durch wissenschaftliche Erhebungen gesicherten Erkenntnisse geben mag – davon ausgegangen werden darf, dass ordnungsgemäß aufgestellte Vorschriftzeichen von Verkehrsteilnehmern in aller Regel wahrgenommen werden (vgl. BGHSt 43, 241). Diesen Regelfall dürfen die Bußgeldstellen und Gerichte ihren Entscheidungen regelmäßig zugrunde legen, was insbesondere dann gilt, wenn – wie hier – die die Geschwindigkeit begrenzenden Verkehrsschilder beidseitig aufgestellt und der Grund der Geschwindigkeitsüberschreitung (Baustelle oder Straßenschäden) deutlich zu erkennen sind. Die Möglichkeit, dass der Betroffene das die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit anordnende Vorschriftzeichen übersehen hat, ist nur dann in Rechnung zu stellen, wenn er sich darauf beruft oder sich hierfür sonstige Anhaltspunkte ergeben (vgl. BGH a.a.O.; OLG Hamm ZfS 2008, 408). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor.

Hinsichtlich der voluntativen Seite des Vorsatzes mag sein, dass allein daraus, dass ein Betroffener eine Geschwindigkeitsbeschränkung kennt, noch nicht geschlossen werden kann, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit auch bewusst und gewollt überschritten hat (vgl. dazu auch OLG Celle ZfS 1996, 76; OLG Stuttgart, Beschluss vom 09. August 2010, 1 Ss 53/10 zit. n. juris). Mangels entsprechender Einlassung des Betroffenen zur voluntativen Seite ist jedoch aus objektiven Umständen, wie beispielsweise aufgrund der besonders erheblichen Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung, auf ein zumindest bedingt vorsätzliches (wenn nicht gar bewusstes und gewolltes) Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu schließen (vgl. auch KG NZV 2004, 598; KG VRS 109, 132; OLG Rostock VRS 108, 376; OLG Bamberg DAR 2006, 464; Thüringer OLG VRS 111, 52).

Dass möglicherweise dem Betroffenen der Umfang einer Geschwindigkeitsüberschreitung von mindestens 57 km/h nicht exakt bekannt war, steht der Annahme von (bedingtem) Vorsatz nicht entgegen. Denn die Differenz zwischen erlaubter und tatsächlich gefahrener Geschwindigkeit (mindestens 57 km/h, mithin eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um fast die Hälfte) war so erheblich, dass jeder Kraftfahrer merken musste, dass er nicht nur zu schnell, sondern erheblich zu schnell fuhr (vgl. OLG Düsseldorf in NZV 1995, 161, 162). Auch ohne ständigen Blick auf den Tachometer seines Fahrzeugs kann im Normalfall davon ausgegangen werden, dass ein geübter Kraftfahrer, der die erlaubten 120 km/h auf einer Bundesautobahn um 57 km/h überschreitet und mindestens mit 177 km/h fährt, dies beispielsweise anhand der Motorgeräusche, der sonstigen Fahrgeräusche, der Fahrzeugvibration und anhand der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung um ihn herum ändert, zuverlässig einschätzen und dadurch erkennen kann, dass er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit wesentlich überschreitet (vgl. BGH in NJW 1993, 3081, 3084 m.w.N.). Selbst wenn der Betroffene nicht auf den Tachometer geschaut hätte, würde dies aus den oben genannten Gründen der Annahme von bedingtem Vorsatz nicht entgegenstehen. Der Betroffene hatte auch ohne ständige Tachometerbeobachtung eine ungefähre Vorstellung von der Größenordnung der gefahrenen Geschwindigkeit. Dass einem Betroffenen der Umfang einer Geschwindigkeitsüberschreitung möglicherweise nicht exakt bekannt ist, steht der Annahme von (bedingtem) Vorsatz nicht entgegen. Vorsätzliches Handeln setzt eine solche Kenntnis nämlich nicht voraus. Vielmehr genügt das Wissen, schneller als erlaubt zu fahren (siehe bereits Senatsbeschluss vom 1. März 2012, (1 B) 53 Ss-Owi 9/12 (3/12); Senatsbeschluss vom 27. April 2020, (1 B) 53 Ss-OWi 173/20 (104/20); Brandenburgisches Oberlandesgericht, 2. Strafsenat, Beschluss vom 21. Februar 2019, (2 B) 53 Ss-OWi 1/19 (8/19); ebenso statt vieler: KG, Beschluss vom 10.12.2003 – 3 Ws (B) 500/3 – 345 OWi 401/02, zit. n. juris; BayObLG NZV 1999, 97; OLG Koblenz DAR 1999, 227; Thüringer OLG VRS 111, 52). Dem Betroffenen war damit bewusst, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit jedenfalls erheblich überschritten hat. Wenn er es im Bewusstsein dieses zumindest stark überhöhten Tempos unterließ, seine Geschwindigkeit durch den ihm jederzeit problemlos möglichen Blick auf den Tachometer zu kontrollieren und herabzumindern, brachte er dadurch hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass er eine Geschwindigkeitsüberschreitung auch in dem tatsächlich realisierten Ausmaß von mindestens 57 km/h zumindest billigend in Kauf genommen hatte (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1996, 463).

bb) Der Schuldspruchberichtigung steht der Grundsatz des Verschlechterungsverbotes (reformatio in peius) gem. § 358 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 79 Abs. 3 OWiG nicht entgegen (vgl. BGHSt 14, 5, 7; BGHSt 21, 256, 260; BGH NStZ 1986, 20; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2012, 23; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30. August 2010, 1 (8) SsRs 384/09, zit. n. jurist, dort Rdnr. 4; OLG Bamberg DAR 2008, 218; OLG Celle NJW 1990, 589, OLG Düsseldorf VRS 80, 52; siehe auch Göhler/Seitz, OWiG, 19. Aufl., § 79 Rdnr. 37; Senatsbeschluss vom 1. März 2012; (1 B) 53 Ss-Owi 9/12 (3/12); ebenso Senatsbeschluss vom 27. April 2020, (1 B) 53 Ss-OWi 173/20 (104/20)).“

Haft II: Entscheidung durch das Beschwerdegericht, oder: Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr

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Im zweiten Posting dann der OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.01.2025 – 1 Ws 1/25 (S). Entschieden hat das OLG über eine Beschwerde des Angeklagten gegen einen vom LG nach Verurteilung aufrecht erhaltenen Haftbefehl. Der Angeklagte befindet sich seit dem 27.03.2024 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Verurteilt worden ist er am 13.11.2024 u.a. wegen Nachstellung in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Zuwiderhandlung gegen gerichtliche Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt und Nachstellung in 47 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, der Angeklagte hat Revision dagegen eingelegt.

Gegen diese Haftentscheidung wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, mit der er die Aufhebung des Haftbefehls, zumindest dessen Außervollzugsetzung unter geeigneten Auflagen begehrt. Er macht geltend, in Bezug auf vier Tatvorwürfe des Haftbefehls – jeweils Vorwürfe der falschen Verdächtigung – sei das Verfahren in der Hauptverhandlung gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt worden, sodass dringender Tatverdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 S. 1 StPO nicht bestehe. Zudem fehle es an einem Haftgrund; weder könne Verdunkelungsgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Ziff. 3 StPO noch Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 StPO angenommen werden, denn er habe in der Hauptverhandlung ein umfassendes Geständnis abgegeben, eine weitere gerichtliche Tatsacheninstanz stehe nicht zur Verfügung und er lebe in einem sozial gefestigten Umfeld bei seiner neuen Lebenspartnerin und deren Kindern.

Das OLG hat die Beschwerde verworfen:

„2. In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg, es erweist sich als unbegründet.

a) Der Angeklagte ist der ihm mit dem Haftbefehl des Amtsgerichts Neuruppin vom 18. März 2024 (Az.: 89 Gs 474/24) vorgeworfenen Taten mit Ausnahme der vier Fälle falscher Verdächtigung (§ 164 StGB, Taten zu den Ziffern 7), 15), 16) und 18) des Haftbefehls), hinsichtlich derer in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht eine vorläufige Verfahrenseinstellung gemäß § 154 Abs. 2 StPO erfolgte, dringend verdächtig, § 112 Abs. 1 StPO.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Senats die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während der Hauptverhandlung vornimmt und die hier in die Haftentscheidung vom 13. November 2024 eingeflossen ist, im Haftbeschwerdeverfahren nur eingeschränkt durch das Beschwerdegericht überprüfbar ist. Allein das Tatgericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfand, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen, zu würdigen und auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand fortbesteht. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme (vgl. Senatsbeschlüsse vom 18. März 2024,1 Ws 31/24; vom 29. Mai 2020,1 Ws 70/20; vom 25. März 2019, 1 Ws 44/19; s. a. BGH StV 1991, 525; OLG Karlsruhe Justiz 2003, 475). Es kann die Bewertung des Tatgerichts deshalb nur dann durch eine eigene ersetzen, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Inhalt der angefochtenen Entscheidung grob fehlerhaft oder in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht vertretbar ist (vgl. BGHR StPO § 112 Tatverdacht 3; BGH NStZ-RR 2003, 368; OLG Koblenz StV 1994, 316).

Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Anhaltspunkte, die nach den aufgeführten Grundsätzen gegen die Aufrechterhaltung des Haftbefehls hinsichtlich der abgeurteilten Taten unter dem Blickpunkt des dringenden Tatverdachts sprechen könnten, sind weder von der Beschwerde vorgetragen noch sonst ersichtlich.

b) Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Ziff. 3 StPO kann nicht mehr angenommen werden.

Zwar ist das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 13. November 2024 aufgrund der Revision des Angeklagten nicht rechtskräftig mit der theoretischen Folge, dass eine neuerliche Beweisaufnahme nach seiner Aufhebung durch den Bundesgerichtshof erforderlich werden könnte. Verdunkelungsgefahr besteht gleichwohl nicht mehr.

Verdunkelungsgefahr liegt vor, wenn der Beschuldigte durch unlauteres Einwirken auf sachliche und persönliche Beweismittel die Feststellung des strafrechtlich relevanten Sachverhalts beeinträchtigt (OLG Frankfurt StV 2010, 583; OLG Karlsruhe StV 2001, 118; OLG Köln StV 1997, 27; Paeffgen in: SK, StPO, zu § 112 Rz. 25; Faßbender/Posthoff in: Gercke/Temming/Zöller, StPO, 7. Auflage, zu § 112 Rz. 34; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage, zu § 112, Rz. 26). Erforderlich ist, dass aufgrund bestimmter Tatsachen das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde eine der in § 112 Abs. 2 Ziff. 3 a) bis c) StPO umschriebenen, auf Beweisvereitelung zielenden Handlungen vornehmen, und wenn deshalb die konkrete Gefahr besteht, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert wird (Faßbender/Posthoff a. a. O.; Krauß in: Graf, StPO, 4. Auflage, zu § 112, Rz. 32 und 40).

An dieser konkreten Gefahr fehlt es hier. Der Angeklagte hat die den Gegenstand seiner Verurteilung bildenden Taten in der Hauptverhandlung durch Verlesung einer schriftlichen Erklärung seitens seiner Verteidiger und ergänzende persönliche Einlassung in weitem Umfang eingeräumt. Von der Richtigkeit dieser Einlassung hat sich die Strafkammer durch eine umfassende Beweisaufnahme überzeugt. So sind die Geschädigten EV, MV, NS, MK sowie die Eheleute D. und EE… zeugenschaftlich vernommen worden, ebenso die mit dem Sachverhalt befassten Polizeibeamten. In der Gesamtschau ergab sich für die Kammer der von ihr festgestellte Sachverhalt.

Ein allein auf Verdunkelungsgefahr gestützter Haftbefehl ist in der Regel mit dem Abschluss der letzten Tatsacheninstanz aufzuheben (OLG Celle NJW 1963, 1264; Senat, Beschluss vom 02. März 2020, 1 Ws 18/20, Rz. 15, juris; Lind in: Löwe-Rosenberg, StPO, 28. Auflage, zu § 112 Rz. 97, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., zu § 112, Rz. 35). Das gilt nach teils vertretener Auffassung zwar dann nicht, wenn aufgrund einer Revision eine neuerliche Hauptverhandlung in Betracht kommt (Lind a. a. O.), dieser Auffassung schließt sich der Senat indessen für den hier vorliegenden Fall eines durch die Beweisaufnahme bestätigten Geständnisses des Angeklagten nicht an. Verdunkelungsgefahr scheidet vielmehr aus, wenn der Sachverhalt durch ein umfängliches Geständnis des Beschuldigten und/oder gesicherte (Sach-)Beweise vollständig aufgeklärt ist (OLG Naumburg StV 1995, 259 Ls, juris; Faßbender/Posthoff a. a. O., Rz. 42; Paeffgen a. a. O., Rz. 39; Krauß a. a. O., Rz. 40).

So liegt der Fall hier. Sollte der Angeklagte in einer etwa erforderlich werdenden neuerlichen Hauptverhandlung sein Geständnis widerrufen oder auch nur relativieren, stehen insbesondere die an der jetzigen Urteilsfindung beteiligten Berufsrichter als Verhörspersonen zur Verfügung. Zudem könnten die bisherigen Angaben der Zeugen durch eine Vielzahl von Sachbeweismitteln, namentlich Briefe, E-Mails, Lichtbilder und andere Schriftstücke, bestätigt werden. Insgesamt besteht sonach eine gesicherte Beweislage, die durch etwaige Verdunkelungshandlungen des Angeklagten, insbesondere durch die befürchtete Einflussnahme auf Zeugen, nicht mehr beeinträchtigt werden könnte. Eine konkrete Gefahr, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert wird, besteht nicht mehr.

c) Die Voraussetzungen des subsidiären Haftgrunds der Wiederholungsgefahr, § 112a Abs. 1 Ziff. 1 StPO, liegen aber vor. Der Angeklagte ist der wiederholten Nachstellung im besonders schweren Fall im Sinne des § 238 Abs. 1 Ziff. 1, 2 und 7, Abs. 2 Ziff. 1 und 3 StGB und damit einer Katalogtat des § 112a Abs. 1 Ziff. 1 StPO schuldig gesprochen worden. Auch besteht die Gefahr, dass er im Fall seiner Freilassung vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begeht. Er hat sich weder von gerichtlichen Beschlüssen noch von Gefährderansprachen zu einer Verhaltensänderung bewegen lassen, sondern seine Annäherungen an die Zeugin EV unbeeindruckt fortgesetzt. Die Polizei in Perleberg hat eine Ordnungsverfügung gegen den Angeklagten erlassen, durch welche diesem untersagt wurde, sich in der Straße, in der die Zeugin wohnt, aufzuhalten. Auch diese Ordnungsverfügung, gegen die er im Übrigen erfolglos gerichtlich vorgegangen ist, hat den Angeklagten nicht davon abgehalten, sein strafbares Verhalten fortzusetzen. Stattdessen hat er noch im Februar 2024 die räumliche Nähe der Geschädigten EV gesucht und im März 2024, kurz vor einer Verhaftung, mit einem Fernglas ausgerüstet die Wohnhäuser der Geschädigten EV, NS und MK von einem Grundstück auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus beobachtet, um zu demonstrieren, dass er trotz bestehender Verbote über Möglichkeiten verfügt, in den Lebensraum der Geschädigten einzudringen. Bei seiner Festnahme führte er eine Strumpfmaske, einen Baseballschläger, ein Distanz-Elektroimpulsgerät, ein Fernglas und zwei Messer mit sich. Der Senat teilt nach eigener kritischer Prüfung die in der angefochtenen Entscheidung vertretene Auffassung, es bestehe Wiederholungsgefahr im Sinne des § 112a StPO.

Soweit der Angeklagte in seiner Beschwerdebegründung argumentiert, er lebe in einem sozial gefestigten Umfeld, ist dies nicht geeignet, dieser Wiederholungsgefahr zu begegnen. Bereits im verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum befand sich der Angeklagte in der von ihm in Bezug genommenen neuen Lebenspartnerschaft, diese hat ihn nicht von der Tatbegehung abhalten können.

d) Anordnung und weiterer Vollzug der Untersuchungshaft stehen zur Bedeutung der Sache und zur Höhe der erkannten Strafe nicht außer Verhältnis. Der Angeklagte ist einer Vielzahl schwerer Straftaten dringend verdächtig. Die Verhältnismäßigkeit ist nach Abwägung des Freiheitsgrundrechts des Angeklagten gegen das staatliche Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung gewahrt. Ein deutliches Übergewicht der mit dem Freiheitsentzug verbundenen Nachteile für den Angeklagten gegenüber den Belangen der Strafrechtspflege, das zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft führen würde, besteht unverändert nicht.

…“

Pflichti I: Gutachten bei der Reststrafaussetzung, oder: Bei Aussage-gegen-Aussage gibt es nicht immer Pflichti

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Heute dann „Pflichtverteidigungsentscheidung“.

Ich eröffne den Reigen mit zwei Entscheidungen zum Beiordnungsgrund, und zwar einmal BGH und einmal OLG Brandenburg.

Der BGH hat im BGH, Beschl. v. 08.01.2025 – StB 71/24 – die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren betreffennd Strafrestaussetzung zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StPO abgelehnt:

„2. Das Rechtsmittel ist jedoch unbegründet.

a) Die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Vollstreckungsverfahren, namentlich im Verfahren über eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung, kommt – in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO – nur ausnahmsweise in Betracht, wenn besondere Schwierigkeiten der Sach- oder Rechtslage im Vollstreckungsverfahren oder die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, BGHR StPO § 140 Abs. 2 Vollstreckungsverfahren 1 Rn. 9 mwN). Insofern ist eine zurückhaltende Handhabung angezeigt, weil das Strafvollstreckungsverfahren die Mitwirkung eines Verteidigers in weit geringerem Maße erfordert als das Erkenntnisverfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Mai 2002 – 2 BvR 613/02, NJW 2002, 2773, 2774).

b) Hieran gemessen hat der gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 in Verbindung mit § 462a Abs. 5 Satz 1 StPO für die Entscheidung zuständige Vorsitzende des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts zu Recht die Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt.

aa) Die Sach- und Rechtslage des Vollstreckungsverfahrens weist keine besonderen Schwierigkeiten auf; es handelt sich vielmehr um einen typischen Fall der Prüfung der Voraussetzungen für eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe, der keine Besonderheiten erkennen lässt. Die zu beantwortenden Fragen werfen sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten auf. Weder die Dauer der bislang vollstreckten Strafe noch der zu vollstreckende Strafrest lassen den Vollstreckungsfall als so schwerwiegend erscheinen, dass eine Pflichtverteidigerbestellung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO notwendig wäre. Zudem sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Verurteilte, der hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache hat, seine Rechte im Vollstreckungsverfahren selbst nicht sachgerecht wahrnehmen kann.

bb) Der Umstand, dass gegebenenfalls im weiteren Verlauf des Verfahrens über eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung ein kriminalprognostisches Gutachten gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO einzuholen sein wird, gebietet eine Pflichtverteidigerbestellung jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt gleichfalls nicht. Zwar kann die Erörterung eines solchen Gutachtens im Einzelfall eine Pflichtverteidigerbestellung erfordern, wenn hierfür besondere Kenntnisse oder Fähigkeiten erforderlich sind, über die der Verurteilte nicht verfügt (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, NStZ-RR 2022, 357, 358). Auch in den Fällen einer nach § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO gebotenen Einholung eines kriminalprognostischen Gutachtens ist aber in aller Regel keine Pflichtverteidigerbestellung veranlasst, solange das Gutachten noch nicht vorliegt oder – wie hier – noch nicht einmal eine Entscheidung darüber getroffen worden ist, ob es einer kriminalprognostischen Begutachtung des Verurteilten bedarf (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, NStZ-RR 2022, 357, 358).

cc) Schließlich ergibt sich die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigerbestellung für die anstehende Vollstreckungsentscheidung nicht schon daraus, dass hier statt einer Strafvollstreckungskammer gemäß § 462a Abs. 5 Satz 1 StPO das Oberlandesgericht zu entscheiden hat (vgl. diesbezüglich näher BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, BGHR StPO § 140 Abs. 2 Vollstreckungsverfahren 1 Rn. 17).“

Und dann habe ich hier noch den OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.1.2025 – 1 Ws 161/24 (S) -, ergangen in einem Verfahren wegen sexuellen Übergriffs. Das LG hatte im Berufungsverfahren den Beiordnungsantrag zurückgewiesen. Das hat beim OLG „gehalten“.

„a) Nicht jede Aussage-gegen-Aussage-Konstellation erfordert die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Vielmehr kommt eine Beiordnung insbesondere dann nicht in Betracht, wenn zu der Aussage des einzigen Belastungszeugen den Angeklagten belastende Indizien hinzutreten mit der Folge, dass von einer schwierigen Beweiswürdigung nicht mehr gesprochen werden kann (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 16. Oktober 2008, 1 Ws 517/08, Rz. 4, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 09. Juli 2020, 5 Ws 202/20, Rz. 8, BeckRS 2020, 21130; Krawczyk in: BeckOK StPO, 53. Edition, Stand: 01. Oktober 2024, Rz. 29). Ist dagegen aus weiteren Indizien nicht hinreichend sicher auf die Richtigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen zu schließen, sind dessen Angaben einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen mit der Folge, dass die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich ist (OLG Hamm a. a. O.).

Gemessen hieran, bestand vorliegend keine schwierige Sachlage, welche die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen ließ (§ 140 Abs. 2 StPO). Die Berufungskammer hat neben der Geschädigten deren Lebensgefährten als Zeugen vernommen, der Zeuge stützte die den Angeklagten belastenden Angaben der Geschädigten. Zudem wurden die Chatnachrichten zwischen der Geschädigten und ihrer Mutter vom Tattag in die Beweisaufnahme eingeführt, auch sie bekräftigten die Aussage der Geschädigten. Insgesamt bestand sonach eine Prozesssituation, in der zur Aussage der einzigen Belastungszeugin weitere Indizien hinzutraten, aus denen auf die Richtigkeit deren Angaben geschlossen werden konnte. Allein die zeitliche Dauer der Beweisaufnahme vermag zu keiner anderen Sichtweise zu führen.