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Verkehrsrecht III: Entziehung der FE nach 9 Monaten, oder: Verstoß gegen des Verhältnismäßigkeitsgebot

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Und dann noch der LG Hamburg, Beschl. v. 05.08.2024 – 612 Qs 67/24  – ebenfalls zur Entziehung der Fahrerlaubnis nach längerem Zeitablauf nach der Anlasstat.

Das AG hat dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis in einem Verfahren mit dem Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort vorläufig entzogen. Dagegen dann die Beschwerde, die Erfolg hatte:

„2. Die Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des Beschuldigten durch das Amtsgericht Hamburg stellt sich im vorliegenden Fall mit Blick auf die Verfahrensdauer als nicht mehr verhältnismäßig dar.

a) Es besteht indes der dringende Tatverdacht, dass der Beschuldigte eine Straftat nach § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB begangen hat.

…..

3. Der Beschuldigte ist nach vorläufiger Würdigung der Beweislage auch als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen. Dies folgt aus der vorliegend einschlägigen und nicht widerlegten Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB in Verbindung mit § 142 StGB.

…..

4. Die Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis durch das Amtsgericht Hamburg genügt jedoch mit Blick auf die Verfahrensdauer nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist aufzuheben, wenn durch schwerwiegende Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot eine erhebliche Verzögerung des Verfahrens eintritt (OLG Nürnberg, Beschluss vom 14.02.2006 – Az. 1 Ws 119/06, Rn. 21, juris). Dies gilt insbesondere für eine von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens, die den Beschuldigten sodann in seinem Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren verletzt (BVerfG, Beschluss vom 15.03.2005 – 2 BvR 364/05, NJW 2005, 1767 (1768)). Es sind mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Tatgeschehen und dem Zeitpunkt der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz der Allgemeinheit einerseits und dem Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis andererseits zu stellen. Darüber hinaus ist grundsätzlich in den Blick zu nehmen, dass wenn der Beschuldigte nach der ihm angelasteten Tat weiter im Besitz seiner Fahrerlaubnis ist und beanstandungsfrei am Straßenverkehr teilnimmt, sein Vertrauen in den Bestand der Fahrerlaubnis wächst, während die Möglichkeit ihres vorläufigen Entzuges nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO ihren Charakter als Eilmaßnahme zunehmend verliert (zum Ganzen: KG, Beschluss vom 08.02.2017 – Az. 3 Ws 39/17, BeckRS 2017, 113772).

Gemessen an diesen Maßstäben stellt sich die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis vorliegend als nicht mehr verhältnismäßig dar.

Dabei ist die erhebliche, gegen das Beschleunigungsgebot verstoßende Verfahrensdauer zwischen der hochwahrscheinlich begangenen Tat und den ersten Maßnahmen der Strafermittlungsbehörden in den Blick zu nehmen. Die Tat wurde seitens der Zeugin pp. durch eine E-Mail ihres Rechtsanwaltes pp. am 20.09.2023 dem Polizeikommissariat 43 zur Kenntnis gebracht (Bl. 5 ff. d.A.). Als nächstes Schriftstück befindet sich ein Schreiben des Rechtsanwalts pp. vom 13.11.2023 in der Akte, in dem dieser mitteilt, dass die Akte nicht mehr benötigt werde (Bl. 11 d.A.). In der Akte folgt sodann ein Vermerk der Polizeidienststelle VD 42 vom 09.04.2024, in dem mitgeteilt wird, dass die Sachbearbeitung übernommen wurde. Demzufolge sind fast sieben Monate vergangen, ohne dass ersichtliche Ermittlungsmaßnahmen eingeleitet wurden. Der Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erging sodann am 16.06.2024 (Bl. 31 d.A.) und damit mehr als neun Monate nach der hochwahrscheinlich begangenen Tat, was bereits für sich genommen in erheblicher Spannung zum Charakter des vorläufigen Entzuges der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO als Eilmaßnahme steht.

Hinzu kommt, dass der Beschuldigte zumindest laut der in der Akte befindlichen Auskunft des Kraftfahrbundesamtes vom 07.05.2024 seit der hochwahrscheinlich begangenen Tat am 05.09.2023 beanstandungsfrei am Straßenverkehr teilgenommen hat, wodurch neben der langen Verfahrensdauer zusätzlich Vertrauen in den – zumindest vorläufigen – Bestand der Fahrerlaubnis beim Beschuldigten entstanden ist.“

Tja, vielleicht ein Phyrrussieg? Einerseits sicherlich sehr schön die Aufhebung, andererseits macht das LG aber – an sich nicht notwendige – Ausführungen zur Tat und zur Beweiswürdigung, die das AG – je nach Einlassung des Beschuldigten – wahrscheinlich mit Freuden lesen wird. Denn da kann es ggf. schän „abschreiben“.

Verkehrsrecht II: Vorläufige Entziehung der FE, oder: Nach längerem Zeitablauf erhöhte Anforderungen

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Und im zweiten Posting dann der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 23.12.2024 – 2 Ws 355/24 – zur Entziehung der Fahrerlaubnis bzw. zur Aufhebung eines entsprechenden Beschlusses, der im Berufungsverfahren ergangen war.

Der Angeklagte war durch Urteil des AG vom 25.03.2024 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs, begangen am 10.04.2023, zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Zugleich wurde ihm die Fahrerlaubnis entzogen. Zuvor hatte weder die Staatsanwaltschaft mit dem Strafbefehlsantrag vom 05.10.2023 einen Antrag auf vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gestellt, noch hatte das AGmit der Urteilsverkündung einen solchen Beschluss erlassen. Die Staatsanwaltschaft hat gegen das AG-Urteil Berufung eingelegt und der Angeklagte Revision. Der seit dem Eingang am 10.06.2024 mit dem Berufungsverfahren am LG befasste Vorsitzende der Strafkammer hat den Angeklagten, seinen Verteidiger und die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 26.07.2024 auf die in Betracht kommende vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis hingewiesen. Er hat zunächst von einer Entscheidung nach § 111a StPO abgesehen und mit Verfügung vom 04.09.2024 Termin zur Hauptverhandlung am 18.11.2024 bestimmt. Mit Verfügung vom 30.09.2024 hat die Staatsanwaltschaft dann beantragt die (schweizerische) Fahrerlaubnis für das Bundesgebiet vorläufig zu entziehen. Aufgrund einer unvorhergesehenen Operation des Vorsitzenden wurde der Hauptverhandlungstermin mit Verfügung vom 12.11.2024 auf den 27.01.2025 verlegt. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 13.11.2024 wurde die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 111a StPO angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte beim OLG Erfolg:

„Die zulässige Beschwerde erweist sich auch in der Sache als begründet.

Zwar hat das Landgericht im Hinblick auf die erstinstanzlichen Feststellungen in dem Urteil vom 25.03.2024 mit zutreffenden Ausführungen angenommen, dass weiterhin dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass dem Angeklagten gemäß §§ 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 69a Abs. 1, 69b Abs. 1, 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB auch in der Berufungsentscheidung die Fahrerlaubnis zu entziehen sein wird.

Liegt – wie hier – ein mit der Berufung angefochtenes Urteil vor, kommt den Feststellungen des Tatrichters zu den Voraussetzungen des § 69 StGB für die zu treffende Beschwerdeentscheidung zwar keine Bindungs- aber eine Indizwirkung zu, da das Tatgericht auf Grund der durchgeführten Hauptverhandlung über eine größere Sachnähe und bessere Erkenntnismöglichkeiten verfügt als das Beschwerdegericht, das sich nur auf den Akteninhalt stützen kann.

Indes hat das Landgericht im Hinblick auf die Frage des nach § 111a StPO notwendigen vorläufigen Sicherungsbedürfnisses den Zeitablauf seit dem Tatvorwurf vom 10.04.2023 bis zu der angefochtenen Entscheidung am 13.11.2024 von über 18 Monaten nicht ausreichend gewürdigt. Die Frage des vorläufigen Sicherungsbedürfnisses nach diesem längeren Zeitablauf seit der Tat wurde in der angefochtenen Entscheidung nur formelhaft mit einem Satz begründet.

Zwar rechtfertigt ein längerer bloßer Zeitablauf nicht zwangsläufig die Annahme, der durch die Tatbegehung indizierte Eignungsmangel sei im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung entfallen (vgl. auch OLG Koblenz, Beschluss vom 10. Oktober 2007 – 1 Ws 513/07 -, NZV 2008, 47; KG Berlin, Beschluss vom 8. Februar 2017, – 3 Ws 39/17 -, juris). Auch das Bundesverfassungsgericht hat keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO im Einzelfall der Sicherheit des Straßenverkehrs der Vorrang gegenüber dem eingetretenen Zeitablauf und der zu beobachtenden Verfahrensverzögerung eingeräumt wird (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15. März 2005 – 2 11/R 364/05 -, juris).

Wenngleich eine Fahrerlaubnis auch noch mit Erhebung der Anklage oder später noch in der Berufungsinstanz vorläufig entzogen werden kann, sind mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Tatgeschehen und dem Zeitpunkt des vorläufigen Entzuges der Fahrerlaubnis erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz der Allgemeinheit einerseits und dem Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis andererseits zu stellen. Bleibt dieser nach der ihm angelasteten Tat weiter im Besitze seiner Fahrerlaubnis und nimmt nach Aktenlage beanstandungsfrei am Straßenverkehr teil, wächst sein Vertrauen in den Bestand der Fahrerlaubnis, während die Möglichkeit ihres vorläufigen Entzuges nach § 111a StPO ihren Charakter als Eilmaßnahme zunehmend verliert (vgl. auch KG Berlin, Beschluss vom 1. April 2011 – 3 Ws 153/11 -, juris).

Der Zeitablauf zwingt damit zu einer besonders sorgfältigen Prüfung, ob dem Angeklagten nun unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten noch die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen werden kann. Insoweit konnte vorliegend zunächst nicht übersehen werden, dass der vom Amtsgericht für angemessen erachtete Zeitraum der Sperrfrist von nur sechs Monaten zwischenzeitlich rechnerisch um das Dreifache überschritten wäre. Zudem resultiert die Verfahrensverzögerung im vorliegenden Fall nicht etwa aus der Sphäre der Verteidigung bzw. des Angeklagten (vgl. auch zu einer Anordnung nach § 111a StPO nach 16 Monaten aufgrund einer verteidigungsbedingten Verzögerung: OLG Stuttgart, Beschluss vom 22. Oktober 2021 -1 Ws 153/21 -, juris). Da die Berufungskammer nach der Einholung des negativen schweizerischen Strafregistereintrages weit über ein Jahr nach der Tatbegehung zunächst mit der Terminierung der Hauptverhandlung am 04.09.2024 zwei Monate später auf den 18.11.2024 keine Veranlassung für ein zeitnahes Sicherungsbedürfnis gesehen hat, rechtfertigt die bloße Verlegung des Hauptverhandlungstermins und die damit einhergehende weitere Verzögerung um etwa zwei Monate, die wiederum nicht der Sphäre des Angeklagten geschuldet ist, kein dringendes vorläufiges Sicherungsbedürfnis.“

Verkehrsrecht I: Steinewerfen auf Linienbus, oder: Rücktritt vom (unbeendeten) versuch.

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Heute seit längerem dann mal wieder ein Verkehrsrechtstag. Ich merke am „Eingang“ von Entscheidungen zu der Thematik, dass es dort im Moment recht ruhig ist, im OWi-Bereich übrigens auch. Heute habe ich dann aber mal wieder drei Entscheidungen aus dem Verkehrsrecht, die ich vorstellen kann.

Zunächst kommt hier der BGH, Beschl. v. 08.10.2024 – 4 StR 318/14. In dem hat der BGH sich mit der Frage befassen müssen, ob das Werfen von Steinen auf einen Linienbus die Voraussetzungen für einen vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr bzw. eine versuchte gefährliche Körperverletzung erfüllt hat.

Nach den Feststellungen des LG war dem Angeklagten die Beförderung in einem Linienbus wegen seiner Verweigerung des pandemiebedingten Tragens eines Mund-Nasen-Schutzes verwehrt worden. Daraufhin warf er aus Rache für den Busverweis jeweils einen etwa faustgroßen Stein gegen die fahrenden Linienbusse. Hierzu lauerte der mit dem Streckenverlauf vertraute Angeklagte der Rückkehr des Busses nach Passieren des Wendepunktes auf. In einem Fall betrat er plötzlich die Fahrbahn und warf den Stein von vorn gegen die Frontscheibe im Bereich des Sichtfeldes des Busfahrers des ihm mit einer Geschwindigkeit von mindestens 20 km/h entgegenkommenden Busses, wodurch die Scheibe splitterte. In einem anderen Fall warf der „seitlich stehende“ Angeklagte den Stein gegen die vordere rechte Seitenscheibe des sich ihm mit der gleichen Mindestgeschwindigkeit nähernden Busses, so dass der Stein die Scheibe durchschlug, gegen die Fahrerkabine prallte und von dort auf den Boden fiel. Durch die Steinwürfe kam es zu Sachschäden, wobei sich beim Wurf von der Seite fahrdynamische Kräfte auf die Schadensentstehung nicht auswirkten. In beiden Fällen konnten die den Bus steuernden Personen ihre Fahrzeuge gefahrlos zum Stehen bringen. Diese und Passagiere blieben unversehrt. Anschließend lief der Angeklagte weg.

Das LG hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in zwei Fällen, hiervon in einem Fall versucht, jeweils in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung verurteilt: Der BGH hat das LG-Urteil aufgehoben, weil das LG die Voraussetzungen für einen strafbefreienden Rücktritt nicht geprüft habe:

„Der festgestellte Sachverhalt lässt ausdrückliche Ausführungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont; vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 – GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227) gänzlich vermissen. Sie ergeben sich auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe. Darlegungen zum Vorstellungsbild drängten sich hier aber schon deshalb auf, weil nach dem mitgeteilten Sachverhalt der Busfahrer bzw. die Busfahrerin infolge des Schadensereignisses den von ihnen geführten Bus gefahrlos zum Stehen brachten, ohne dabei die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren. Daher bleibt offen, ob die jeweiligen Körperverletzungsversuche und zudem der Versuch des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr im Fall II.2.c) der Urteilsgründe fehlgeschlagen, unbeendet oder beendet waren. Dies durfte indes nicht dahinstehen, da im Fall eines unbeendeten Versuchs gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StGB bereits das freiwillige Abstandnehmen von weiteren Ausführungshandlungen als Rücktrittsleistung für eine Strafbefreiung ausreichend wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Mai 2024 – 4 StR 82/24 Rn. 7; Beschluss vom 15. Januar 2020 – 4 StR 587/19 Rn. 5 mwN).

3. Der dargelegte Rechtsfehler führt in beiden Fällen zur Aufhebung des Schuldspruchs, die sich auf die für sich genommen rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen tateinheitlich begangenen (vollendeten) schweren gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr im Fall II.2.b) der Urteilsgründe erstreckt. Dies zieht die Aufhebung der deswegen verhängten Einzelstrafen und der Gesamtstrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe nach sich.“

Nun ja, ich weiß. Es ist nicht unbedingt eine verkersrechtliche Problematik, die der BGH behandeln musste. :-).

Strafantrag II: Beleidigungen an mehreren Tagen, oder: Strafantrag muss sich auf bestimmte Tat beziehen

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Und als zweite Entscheidung hier der BayObLG, Beschl. v. 10.09.2024 – 203 StRR 326/24.

Die Angeklagte ist von AG und LG wegen Beleidigung in vier tatmehrheitlichen Fällen, in einem Fall rechtlich zusammentreffend mit tätlicher Beleidigung und mit Körperverletzung verurteilt worden. Dagegen wendet sich die Angeklagte mit der allgemeinen Sachrüge. Die hat Erfolg. Dazu führt das BayObLG u.a. aus:

„a) Soweit die Angeklagte wegen einer am 3. Juni 2022 zum Nachteil des Zeugen W. begangenen Beleidigung verurteilt worden ist, wird das Verfahren nach § 206a Abs. 1 StPO eingestellt. Es fehlt an dem nach § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB erforderlichen schriftlichen Strafantrag des Verletzten. Das Revisionsgericht prüft das Vorhandensein der Verfahrensvoraussetzungen von Amts wegen im Freibeweisverfahren. Diese Prüfung ergibt, dass der Zeuge W. bezüglich der Tat vom 3. Juni 2022 keinen wirksamen Strafantrag gestellt hat. Der Geschädigte hat bei seiner Aussage am „14“. Juni 2022 bei der Polizei, auf die seine beiden Strafanträge vom „13“. und vom „14“. Juni 2022 (Bl. 16 und Bl. 31 der Akte 1111 Js 8078/22) verwiesen, neben der Tat vom 11. Juni 2022 keine weitere beleidigende Äußerung hinreichend nach Wortlaut und Tatumständen konkretisiert zur Anzeige gebracht, sondern allgemein von Beschimpfungen „in jüngster Vergangenheit vermehrt“ gesprochen. Ein Strafantrag muss sich jedoch auf eine bestimmte Tat beziehen (vgl. Dallmeyer in BeckOK-StGB, 61. Ed., § 77 StGB Rn. 11; BGH, Beschluss vom 20. April 2017 – 2 StR 79/17 –, juris Rn. 23). Da innerhalb der Antragsfrist kein wirksamer Strafantrag gestellt wurde und dieser nach Fristablauf nicht mehr nachgeholt werden kann, darf die Angeklagte nicht mehr wegen dieser Beleidigung bestraft werden.“

Im Übrigen hat das BayObLG die Schuldfähigkeitsprüfung des LG beanstandet. Dazu folgende Leitsätze:

1. Wahnhafte Störungen können sich bei akuten psychotischen Phasen erheblich auf das Einsichtsvermögen auswirken. Aber auch die Steuerungsfähigkeit kann tangiert oder aufgehoben sein. Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 20 StGB bedeutet die Fähigkeit, entsprechend der vorhandenen Unrechtseinsicht zu handeln. Die Steuerungsfähigkeit ist betroffen, wenn einem Wahnkranken in Situationen, die durch den Wahn bestimmt sind, Handlungsalternativen praktisch nicht zur Verfügung stehen.

2. Um die revisionsgerichtliche Nachprüfung der Voraussetzungen von §§ 20, 21 StGB zu ermöglichen, hat das Tatgericht die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen des psychiatrischen Sachverständigen mitzuteilen und sich erkennbar selbst mit ihnen auseinanderzusetzen. Unerlässlich ist eine konkretisierende Darstellung, in welcher Weise sich die näher festgestellte psychische Störung auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat. Beurteilungsgrundlage ist das konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass der Tat, die Motivlage und das Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können. Folgt das Tatgericht einem Sachverständigen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungstatsachen und Darlegungen in den schriftlichen Urteilsgründen so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist. Generalisierende Ausführungen zum Störungsbild, die nicht auf den konkreten Zustand des Angeklagten zum Tatzeitpunkt und eine mögliche direkte Beziehung von Tathandlung zum Wahnthema eingehen, genügen diesen Anforderungen nicht.

StGB III: Nochmal etwas zur Corona-Pandemie, oder: Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse

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Und im dritten Posting dann Nachbereitung/ strafrechtliche Aufbereitung der Corona-Pandemie. An der Stelle ist es mit der Veröffentlichung von Entscheidungen recht ruhig geworden. Der Beschluss des OLG Celle stammt auch schon aus 2022, ist aber erst jetzt veröffentlich worden. Ich will den OLG Celle, Beschl. v. 16.11.2022 – 2 Ss 137/22 – aber der Vollständigkeit halber hier doch noch – zumindest mit seinem Leitsatz – vorstellen.

Behandelt wird das Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse. Das AG hatte den Angeklagten im April 2022 wegen mehrerer Fälle verurteilt. Nach den Feststellungen stellte der  als Kinder- und Jugendarzt tätige Angeklagte in der Zeit vom 01.08.2020 bis zum 05.05.2021 insgesamt 29 Gesundheitszeugnisse aus, die die darin benannten Personen von der durch verschiedene Landes-Verordnungen angeordneten Verpflichtung, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, befreien sollten und die jeweils mit einem Arzt-Stempel versehen und vom Angeklagten unterzeichnet waren. Der Erstellung der Gesundheitszeugnisse lag jeweils keine vorherige Begutachtung oder körperliche Untersuchung der Personen zugrunde, obwohl dem Angeklagten bewusst war, dass eine solche zuvor durchzuführen gewesen wäre. Nach den Feststellungen des AG hatten sich die in den 29 Gesundheitszeugnissen aufgeführten Personen zuvor an den Angeklagten mit dem Ziel gewandt, eine entsprechende Befreiung von der Verpflichtung, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, zu erlangen; sie zeigten die ausgestellten Gesundheitszeugnisse nach deren Anfertigung durch den Angeklagten in Schulen sowie bei Kontrollen durch die Polizei an öffentlichen Orten vor.

Zur Beweiswürdigung hatte das AG ausgeführt, der Angeklagte habe die Erstellung der 29 Gesundheitszeugnisse eingeräumt, indes die Rechtsauffassung vertreten, es handele sich nicht um Gesundheitszeugnisse, weil er in allen 29 Fällen lediglich allgemein die nach seiner Auffassung stets mit dem Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung einhergehende Beschränkung der vitalen Atmungsfunktion dargelegt habe. Zum Inhalt der Gesundheitszeugnisse hat das AG im Rahmen der Beweiswürdigung ergänzend festgestellt, dass der Angeklagte die Gesundheitszeugnisse anfänglich mit „Befreiung“ und bei Kindern und Jugendlichen mit „Fachärztliches Attest“ überschrieben habe; seit einer ihm bekannten Entscheidung des OVG Münster vom 24.09.2020 habe der Angeklagte die im Folgenden ausgestellten Gesundheitszeugnisse mit „Attest“ überschrieben und diesem jeweils eine Anlage beigefügt, die u.a. folgenden Wortlaut hatte: „Die Beschwerden, die von (Name) nachvollziehbar geäußert werden, weisen ohne Zweifel auf eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Stoffwechsels durch das Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung (MNB) hin (…).“

Rechtlich hat das Amtsgericht die festgestellten Tathandlungen als Ausstellen eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses in 29 Fällen gem. § 278 StGB in der Fassung bis einschließlich zum 23.11.2021 gewertet.

Dagegen die Sprungrevision des Angeklagten, die mit der Sachrüge Erfolg gehabt hat. Das OLG Moniert, dass es auf der Grundlage der knappen Feststellungen des AG-Urteils zum Inhalt der erstellten Gesundheitszeugnisse nicht beurteilen kann, ob diese inhaltlich unrichtig sind.

Hier dann die Leitsätze zu der Entscheidung:

1. Ein ärztliches Attest über die medizinische Kontraindikation des Tragens eines Mund-Nasen-Schutzes enthält die konkludente Erklärung des Arztes, dass eine körperliche Untersuchung der genannten Person stattgefunden hat und ist daher i.d.R. unrichtig, wenn die für die Beurteilung erforderliche Untersuchung nicht durchgeführt wurde.

2. Ist eine körperliche Untersuchung im Einzelfall unterblieben, soll das Attest aber gleichwohl „richtig“ sein, muss sich das Unterbleiben der Vornahme einer körperlichen Untersuchung aus dem Attest selbst ergeben.